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Kommissar Maier
Оглавление»Paul, du erinnerst mich ganz an den Herrn Maier.«
»An was für einen Herrn Maier?«
»An den Herrn Maier aus Stuttgart, den Kommissar!«
»Kenne ich nicht!«
»Natürlich kennst du ihn nicht.«
»Warum soll ich ihn dann kennen? Ich kenne nur ... aber das war im Krieg! Da hießen sie auch Maier, Schmidt, Schulze ...«
»Herr Maier war auch im Krieg.«
»Wo?«
»Ich glaube, in Rußland.«
»Rußland, Rußland – Rußland ist groß!«
»Das hat Herr Maier auch gesagt. Und er hat gesagt, das hätten andere bald auch gemerkt, daß Rußland groß sei.«
»Was für andere?«
»Na, die Generäle ... Es gab doch gar keine andern, wenigstens keine, die etwas zu sagen hatten oder ein bißchen Hirn hatten.«
»Es gab auch andere – einfache Soldaten; Offiziere, mit und ohne Ritterkreuz: und die haben auch etwas gemerkt.«
»Für sich vielleicht.«
»Ist jetzt auch egal. Was willst du mir sagen?«
»Ich habe den Herrn Maier wieder getroffen, in Frankfurt auf dem Ostbahnhof. Er war arg heruntergekommen.«
»Ein Tippelbruder wie du?«
»Schlimmer! Die Männer wurden vorher alle entlaust. Sie mußten sich splitternackt ausziehen: dann wurden die Männer in den Raum geschickt, und die Kleider kamen in einen anderen Raum. Ich durfte ja hier nicht bleiben, weil ich noch keine einundzwanzig war. Das hier war nur eine Unterkunft für Erwachsene: für Jugendliche – oder Minderjährige – gab es das Samariterheim in der Mehringstraße. Jetzt saß ich noch da im Flur vor dem Schalter auf einer Bank. Neben mir andere Männer. Bis dahin war ich von unserem Treffpunkt in einen Vorort Frankfurts gekommen. Nachdem sich Ludwig auch am dritten Tag nicht zurückgemeldet hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als meine Zelte abzubrechen, das heißt Koffer und Kisten zu schnappen und mich auf den Weg zu machen. Richtung Frankfurt. Es geschah nicht ganz freiwillig. Wir waren beobachtet worden, und ich nachher allein. Und die, die uns beobachteten, mußten die Polizei verständigt haben: die kamen und verwiesen mich des Ortes.
Auf dem Anhänger eines Traktors konnte ich bis zum Ostbahnhof mitfahren. Da sei ein Asyl von der Heilsarmee für Obdachlose, erklärte der Fahrer, ein Bauer. Asyl. Ich habe das Wort damals zum erstenmal gehört. Es stimmte. Nur war ich noch zu jung. Wohin? fragte ich. Mit der Straßenbahn bis zum Hauptbahnhof, von dort aus in die Mehringstraße. Da ist das Samariterheim. Mit was aber die Fahrt bezahlen? Ich hatte keinen Pfennig Geld mehr. Hilflos ließ ich mich auf die Bank fallen. Und wenn ich dann von Zeit zu Zeit die Augen öffnete, hatte ich eine Tür – eine Pendeltür – im Blickfeld: Männer gingen hier hinein, noch in ihren verdreckten Monturen, nach einer Weile kamen sie wieder heraus – nackt; Kittel, Mantel, Hose, Hemd und Hut über dem Arm. Mein Nachbar, noch nicht sehr alt, dessen Aufmerksamkeit ich offenbar erregt hatte, erklärte mir dann das mit dem Entlausen.
Plötzlich zuckte ich zusammen, war hellwach. Mir war eine Gestalt aufgefallen, die ich auch in un- oder bereits halbbekleidetem Zustand zu erkennen glaubte. Wahrhaftig – war das nicht Herr Maier? – Herr Kommissar Maier, rief ich – brüllte – und sprang vom Sitz auf. Ich rief nochmal, kam aber nicht vom Fleck. Mein Banknachbar, der, dem ich wohl von Anfang an aufgefallen war, hielt mich fest und murmelte in seinen Bart »Strafbataillon 999 – Todeskommando! Bitte nicht stören. Der hört auf niemand und nichts.«
Sofort hatte ich meine eigene Lage vergessen. Was machte der hier? Das war doch der Kommissar Maier? Ich hätte wetten können!«
»Jetzt machst du mich aber neugierig, Karl: Wer soll das gewesen sein?«
»Kommissar Rudolf Maier: der, der mich nach der Geschichte in meinem Dorf in Stuttgart verhört hat; erst verhaftet und dann wochenlang verhört. Aber es ist schon nicht mehr wahr – oder sehr lange her.
Jedenfalls ist es Nacht, doch ich kann auch nicht auf den Morgen warten. Überall ist Nacht, draußen und drinnen. Und die Leute, die zu mir hereinkommen, sind Nacht. Nur die Bewegung gibt Licht. Die Leute sprechen sehr deutlich, ich verstehe aber trotzdem nicht alles, und ich erzähle den Leuten von mir. So habe ich auch dem Herrn Maier erzählt. Er war ein freundlicher Mann. Schade, daß er mich in Frankfurt nicht wiedererkannt hat. Nun ist wohl auch die Nacht über ihn hereingefallen, während es um mich doch allmählich hell wird. Warum mußte das sein? Das hatte er nicht verdient. Er war ein guter Mensch, so wie es nur wenige gibt.«
»Jetzt faß dich, Karl! Das ist bestimmt eine Verwechslung; ein Doppelgänger oder so.«
»Nein, nein; keine Verwechslung. Kein Doppelgänger, ich spürte es.«
»So, du spürtest es?« Paul wechselte den Tonfall. Das war mir gerade recht; denn ich kämpfte mit den Tränen, und Paul hatte es wohl bemerkt. Wenn ich am Tisch geheult hätte – auch wenn die meisten sofort nach dem Essen gegangen waren: es wäre ihm peinlich gewesen. Vielleicht hätten Tränen einmal diesen Stein aufgeweicht?
»Ja, ich spürte es. Und ich spüre auch, wenn man mich ernst nimmt oder nicht.«
»Ich nehme dich doch ernst, Karl!«
»Du – ja! Na, ich bin dann doch noch in dieser Nacht in dem Samariterheim in der Mehringstraße zu Frankfurt am Main angekommen. Ich habe meinem Nachbar ein Hemd verkauft, bunt, kaum getragen. Mehr wie zwei Mark wollte er nicht geben. Aber das waren die zwei Mark, die mir fehlten. Es blieb dann nach der Straßenbahn noch etwas übrig.«
»Du bist verrückt«, sagte Paul und stand auf.
»Ich war verrückt, wenn du das meinst«, entgegnete ich, und erhob mich ebenfalls.
»Meinetwegen – dann warst du es halt, du verrückter Hund, verrückter!«
Was konnte man darauf noch sagen? Nur gemeinsam und stumm den Speisesaal hinausgleiten.