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Das Heim oder Auf Bewährung

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Das Heim lag am anderen, dem Bahnhof entgegengesetzten Ende der Stadt. Zu Fuß war es von der Stadtmitte aus in etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten zu erreichen. Man konnte aber auch länger brauchen, je nachdem, wie man ins Schwätzen oder Schwitzen kam. Man kann aber auch abkürzen: vom Marktplatz links, dann ein Stück durch die Gärten. Fünfhundert bis tausend Meter unterhalb des Heims kommt man wieder auf die Landstraße. Man trifft auf eine Gaststätte, einen Bauernhof und eine Gärtnerei. Weiter voraus: das Forsthaus. Und dann eine große Strecke bis zum Heim nur Weiden und Wiesen.

Aber das dauert noch, bis ich das alles weiß. Jetzt ist erst einmal alles fremd und heiß, als ich Mitte Oktober auf dem Bahnhof ankomme. Ich glaube, es ist Freitag, der 14. Oktober. Jedenfalls ist es um die Mittagszeit. Ich trete aus dem Bahnhof heraus auf den Vorplatz. Ein wirklich stahlblauer Himmel spannt sich von Horizont zu Horizont, das heißt von den Alpen zu den gewöhnlichen Bergen mit Waldrücken und von da über das flache Land. Keine Wolke stört das Glück. Ich schwitze. So wie ich aber auch angezogen bin, wäre es besser Winter gewesen: Ich trug einen langen Mantel, wenn auch aus dünnem Stoff, und feste Stiefel. Aber wie würde mein Ähne sagen – wie heißt es? Was für die Kälte gut ist, ist auch für die Wärme gut. Das mochte stimmen. Trotzdem lief mir der Schweiß herunter. Was für die Kälte, ist auch für die Wärme gut – das mochten sich auch die Herren in der Burg gedacht haben, von denen ich die Kleider bekam, und die wollten, daß ich hierher fuhr, in eine Gegend und in einen Ort, den ich bis dahin nicht einmal vom Hörensagen kannte.

Vor allem wollte es wohl ein gewisser Herr Holz, Bewährungshelfer seines Zeichens in der Burg. Kein schlechter Mensch, nein, nein; das will ich damit nicht sagen. Er hat in unserem letzten Gespräch gesagt: Das ist nicht allzuweit von deiner Heimat, Karl; da ist es gut, und da mußt du hin. Nun bin ich da. Keine Stadt und kein Heim zu sehen. Nicht einmal richtige Häuser: halt ein paar Feldscheunen und Hütten in umzäunten Gärten. Größere Gebäude erst weiter weg, die sich in die Landschaft buckelten. Ein Kirchturm weist noch mehr nach oben.

Ich hätte ja wieder zurückgehen können, hinein in den Bahnhof und dort anrufen: so war es mir geraten worden. Und dann hätte man mich abgeholt. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte sehen – langsam, Schritt vor Schritt, und wenn mir noch so sehr die Brühe hinunterlief –, wohin ich kam. In was für ein Land. In was für eine Welt, mit oder ohne langen Sommer. Also hieß es zunächst einmal gehen, dem Instinkt folgen oder den meisten Zeichen: und die wiesen in die Richtung, in der die Stadt liegen mußte. Das hier mußte doch schon der Anfang sein, nur gab es dazwischen noch reichlich Platz für spätere Bebauung. Ich nahm meinen zerbeulten Pappkoffer und trottete los. Jetzt wurde alles schon dichter; zuerst immer mehr Wohnhäuser, dann die ersten Geschäfte und Wirtschaften: »Zum Pfauen«; »Zur Rose«; »Stern«; »Wilder Mann«; der Autoverkehr nahm auch zu.

Nun konnte ich schon nicht mehr anders. Das war ohne Zweifel die Hauptstraße, auf der ich mich bewegte, und sie führte nach einem weiteren Bogen auf einer Brücke über einen Bach, dann stieg sie an, wurmte unter dem Turm einer mittelalterlichen Stadtbefestigung weiter. Der Durchgang schmal und niedrig: da kommt immer nur ein Auto hindurch, welches, das wird von einem Verkehrsschild geregelt. Für die Fußgänger gibt es zu beiden Seiten des Turms einen besonderen Auf- und Abstieg. Ich halte mich rechts und steige immer mehr nach oben.

Unterhalb des Turms, auf der gegenüberliegenden Seite, bemerke ich noch den Aushang eines Kinos. Irgendein Film über »Heimkehr« wird gerade gezeigt. Diese Stelle ist allgemein interessant. Denn hier trafen wir uns am Anfang, Edda und ich. Die Straße wird wieder breiter und mündet auf einen großen Platz, den Marktplatz. Mit einer Kirche und dem Rathaus, einer Bank und einer Bushaltestelle.

Ich stelle den Koffer ab, hole das Sacktuch aus dem Mantel und wische mir damit über die Stirn. Natürlich verspürte ich jetzt Durst. Wenn schon kein Kiosk zu sehen war, dann sollte ich wenigstens einkehren. Dem Namen nach gab es noch mehr Wirtschaften: »Bären«, »Ochsen«, »Hotel Vierjahreszeiten« – alles, nur kein Kiosk!

Nein, Hunger hatte ich keinen, nur Durst. Die belegten Brote und Äpfel, die ich in der Burg mitbekommen hatte, waren längst gegessen. Ich hatte auch Taschengeld bekommen, doch das wollte ich aufheben: wer wußte, wozu ich es noch brauchen konnte?

Dann fragte ich doch einen Mann, und der erklärte mir: ich müsse auf dieser Straße, der Hauptstraße bleiben; sie führe aus der Stadt. Draußen aber aufpassen: da gehts geradeaus weiter. Ich solle mich aber links halten, beim Kirchhof rechter Hand – den könne ich mir doch merken? Dann würde ich schon sehen: nach einer Gärtnerei und einer Reihe Äcker und Wiesen schiebt sich ein großer weißer Bau an die Straße: das ist das Heim. Ich bedankte mich.

Mir waren schon mehrere Fahrzeuge und Fußgänger verkommen, ich war auch auf dem richtigen Weg ins Heim, da betrat ein junger Mann meine Bahn. Er kam von links; er hatte die Abkürzung über den Marktplatz und durch die Gärten genommen. Unvermittelt bolzte er vor mir her, zog ein Bein nach, haute damit auf die Straße, auf den weichen Asphalt. Es knarrte und quietschte vor mir, daß du denkst, da furzt einer mit jedem Schritt und Tritt!

Das war ein Holzbein – aber genau wie bei meinem Vater: da zittert auch der Boden, wenn er die Straße herunterkommt, wie es heißt! Das Knarren und Quietschen kam von dem Lederkorsett, mit dem die Prothese am Beinstumpf aufgehängt ist: davon würde ich mich bei den Männern im Heim bald selbst überzeugen können.

Der Mann war noch jung, etwa in meinem Alter, schätzte ich. Ein Typ, den ich nicht mag: schwarz, das kleine Narbengesicht an spitzen Backenknochen aufgehängt. Er erinnerte mich an Richard, der heute morgen mit mir aus der Burg entlassen worden war. In der Anstalt war Richard mir nicht aufgefallen; wir trafen uns erst im »Abgang«.

Man kann nicht alle kennen; dafür ist die Burg zu groß. Außerdem kam Richard später und mußte auch nicht so lange sitzen wie ich. Er war noch einen Kopf kleiner als der da, hatte zwei gesunde, wenn auch krumme Beine. In Frankfurt trennten sich unsere Wege. Wir haben nicht einmal die Adressen ausgetauscht – wozu auch?

Der Kerl vor mir war etwa gleich groß, und er schwitzte genauso wie ich, obwohl er keinen Mantel anhatte, sondern einen verschmutzten Schlosseranzug. In der rechten Hand trug er einen eisernen Gegenstand: Zange oder Rohr, ich war mir noch nicht sicher. Ich ließ ihn noch einige Meter vor mir her stampfen. Dann ging ich neben ihm.

»Grüß Gott!«

»Grüß Gott!«

«Ist das da vorn das Heim?« fragte ich.

»Ja.«

»Und Sie wollen da hin?«

»Ja. Und Sie wohnen da?«

»Jawoll! Ich arbeite da in der Schlosserei.« Der Kollege blieb stehen, bückte sich und faßte sich mit der freien Hand an das linke Bein. Gleichzeitig schaute er mich an: »Aber zum Mittagessen kommst du zu spät. Was willst du da?«

»Bleiben – wohnen!«

»So? Bleiben – wohnen? Auch gut! Und was bist du von Beruf?«

»Schreiner.«

»Dann arbeitest du in einer anderen Baracke, in der oberen, die so quer zum Wald steht. Aber wir sehen uns ja dann zum mindesten beim Mittagessen, beim Abendessen und beim Frühstück. Ich heiße übrigens Eberhard. Und wie heißt du?«

»Karl. Karl Simpel!« Ich ergriff die mir entgegengestreckte Pfote und roch danach genauso nach Öl und Gummi wie Eberhard.

»Also gehen wir«, hieß nun die Parole: »Vielleicht kriegst du noch was, ich mein zu essen; bei Neuankömmlingen machen sie immer eine Ausnahme.« Schon stoppte er wieder und sagte aus einem aufleuchtenden Gesicht: »Da fällt mir ein, Karl, du kannst zu mir ziehen – Zimmer 219 im Erdgeschoß. Da ist noch ein Bett frei.«

»Zimmer 219 im Erdgeschoß?« staunte ich.

»Ja; es wird von oben nach unten gezählt. Zur Zeit wohne ich da mit einem alten Knacker, mit einem Berliner zusammen. Der kotzt und scheißt von morgens bis abends, strackt im Nest und schwätzt mir das Hirn voll. Niemand weiß, was ihm fehlt, und er selber weiß es auch nicht, will es vielleicht gar nicht wissen. Krieg, sagte er – na ja: Krieg! Krieg, das sagen alle, und es mag auch in der Regel stimmen. Aber der? Grad liegt er noch wie tot neben dir, dann ist er wieder munter, schmeißt sich in Schale und verschwindet in die Stadt. So Leute gibt es aber noch mehrere dort«, schloß mein Kamerad und wies mit der Rohrzange – ja, das war es – nach vorne. Wir atmeten beide noch einmal durch und setzten unsern Weg fort.

Unmittelbar vor der kiesbestreuten Zufahrt zum Heim hielt Eberhard abermals an: »Weißt du, mein Bein, ich habe es bei einem Motorradunfall verloren. Es ist nur noch ein Stumpf da, und der ist immer noch nicht richtig vernarbt. Und du: dir fehlt körperlich nichts?«

»Nein.«.

»Na, das ist gut! Es muß nicht lauter Krüppel im Heim geben. Gibt es natürlich auch nicht.«

Wir schoben uns unter dem Holzbogen hindurch, der über die Zufahrt gespannt war, so hoch natürlich, daß auch noch ein beladener Lastwagen passieren konnte. Doch von Lastwagen oder sonstigen Fahrzeugen noch keine Spur, weder großen noch kleinen. Auch die Leute fehlten. Freilich es war ja noch Mittag. Zehn nach eins, erkannte ich auf der Uhr unterm Dach über der Steintreppe. In diesem Augenblick wurde auch ein Flügel der Doppeltür geöffnet, und es erschienen zwei Vertreter der hier vermuteten Menschen-Sorte. Auch da hinten tauchten sie jetzt auf ... Und ein mit Eisenteilen beladener Elektrokarren schnurrte vorüber. Eberhard winkte dem Fahrer zu, und der winkte zurück: sie kannten sich offenbar.

»So, da wären wir«, hörte ich sagen. »Ich kann ja reingehen und Bescheid sagen, dann geht es leichter. Du bleibst so lange draußen, schaust dich ein wenig um, dann kommst du nach.« Ich sah ihn schon wegstampfen, da drehte er sich noch einmal um; »Und wenn du zum Heimleiter, Herrn Eisele, kommst, vergiß nicht – Zimmer 219 im Erdgeschoß, gleich da vor dem Speisesaal: Da ist noch ein Bett frei!« Er hatte zwei Schritte gemacht, als ihm wieder etwas eingefallen war; vielleicht hatte er auch gemerkt, daß ich ihm folgen wollte, anstatt stehenzubleiben und zu warten oder mich umzuschauen, wie er mir geraten hatte: »Noch etwas«, rief Eberhard mir zu: »Laß dir nichts gefallen. Gib es ihnen zurück, wenn du merkst, daß sie dich nur in die Scheiße tunken wollen. So mache ich es auch, und ich lebe gut damit. Die wollen alle so gescheit sein – aber so gescheit wie die sind wir schon lange; wir haben nur mal Pech gehabt, gell?«

»Ja, hast recht.«

»Also, bis nachher Karl. Ade!«

»Bis nachher! Ade, Eberhard!«

So war ich also endlich da; war angekommen, nicht heimgekommen. Wieder war es eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem neuen Ziel. Aber immerhin – Herr Holz, der Bewährungshelfer aus der Burg könnte recht haben: Der Anfang ist vielversprechend. Vielleicht gefällt es mir doch? Nur für wie lange, das weiß niemand. Nicht einmal ich selber. Aber müßte ich es nicht wenigstens ahnen?

Der Sonderling

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