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Bisher war der Jet-Air-Flug 99 ohne Zwischenfall verlaufen. Die Schönwetterbrücke reichte von Frankfurt bis New York. Über dem Jumbo wölbte sich der Himmel wie eine seidige Kuppel, und sein endloses Blau färbte noch tief unten auf die See ab.

»So ein Flug vergeht wie im Flug«, sagte ein Passagier, der Brenda Fairday schon seit einer halben Stunde mit seinen Kalauern verfolgte.

Sie winkte Peggy heran.

»Läßt sich ein kurzer Besuch im Cockpit arrangieren?«

»Ich will’s versuchen, wenn ich der Crew das zweite Frühstück serviere«, zögerte die Chefstewardeß. »Ich muß den Captain fragen. Sie wissen ja …«

Während sie sprach, ließ Peggy Mr. Greenhill nicht aus den Augen. Zehn Jahre Langstreckenflug hatten ihren Blick für schwierige Passagiere geschärft: Sie wußte, daß sich der Mann nicht wohlfühlte. Verdorbener Magen? überlegte sie. Flugangst? Ein Herzfehler?

»Geht es Ihnen nicht gut, Sir?« fragte sie den bekannten Geschäftsmann.

»Unsinn«, wehrte er ab.

Vorsorglich gab Peggy ihrer Kollegin einen Wink, sicherheitshalber nach einem Arzt Ausschau zu halten. Der Passagier – merkwürdigerweise wirkte er im Sitzen größer als im Stehen – mußte es bemerkt haben.

»Lassen Sie das«, protestierte er. »Ich brauche keinen Doktor.« Er atmete schwer. »Was ich brauche, ist ein großer Bourbon. Ohne Wasser! Ohne Eis!«

Es war sicher nicht das Richtige für ihn, aber solange Betrunkene nicht randalierten und nach ihren Beinen haschten, war eine Stewardeß darauf gedrillt, den Passagieren auch unsinnige Wünsche zu erfüllen, selbst wenn sie als Entführer, bewaffnet mit Handgranaten oder Pistolen, das Öffnen der Cockpit-Tür verlangen sollten.

Flugkapitän Nobis gab seine Position an die Bodenstation durch. Die Navigation erfolgte automatisch, sicherer als jede menschliche Berechnung, mit einer Zielabweichung von höchstens 30 Kilometern auf eine Entfernung von 8000 Kilometern. Das fliegende Ungeheuer war so genial konstruiert, daß man mitunter meinte, der Jumbo steuere seinen Flugkapitän, statt umgekehrt.

Vielleicht gingen deshalb Martins Gedanken streunen, landeten immer wieder bei dem schmucken, verträumten Häuschen inmitten eines Weinbergs. Dahin, nach Klingenberg, hatten sich seine Eltern vor Jahren zurückgezogen. Die Verbindungen Vaters nach drüben hatten Krieg, Zusammenbruch, Haß und Greuel überlebt und dem jungen Martin den Start in den USA ermöglicht. Er fiel sofort durch sein fliegerisches Gefühl auf; es war fast kurios, daß zu dieser Zeit ein Deutscher zum jüngsten Testpiloten Amerikas aufrückte.

Martin war schon bei der Verkehrsfliegerei gelandet, als sein Vater starb. Der Tod war nicht nur grausam, sondern auch lächerlich: Der Flug-Veteran aus einer Zeit, in der man sich im Tiefflug noch an Kirchtürmen orientierte, der Pilot, der mit einer klapprigen JU aus Stalingrad und Breslau bis zuletzt noch Verwundete herausgeflogen hatte, wurde von einem Auto angefahren und erlag den Verletzungen.

Vielleicht kam es daher, daß sich Martin in der Luft sicherer fühlte als auf der Erde.

Dieses Unglück band ihn noch fester an die Mutter. Die alte Dame lebte zwischen Rebstöcken und Fotos, zusammen mit dem Katzenpärchen Romeo und Julia, die sich wie die eigentlichen Hausherren aufführten, den Stunden entgegen, in denen ihr großer Sohn bei ihr war. Dann kochte sie ihm sämtliche Leibspeisen auf einmal, als könne er sechzehn oder achtzehn Stunden lang ununterbrochen essen, und sie war voller Stolz auf sein berufliches Können, und voller durchtriebener Neugier, was seinen Junggesellenstand anbelangte.

»Wie lange willst du dich denn noch als Vagabund allein in der Welt herumtreiben?« fragte sie ihn immer.

»Hast du denn eine Braut für mich, Mutschka?«

»Nein«, erwiderte sie. Es machte einen Teil ihres Charmes aus, daß sie so eine schlechte Lügnerin war. Nach den Gesetzen weiblicher Logik setzte sie auf eine Schwiegertochter – voller Eifersucht, daß es in Martins Leben neben ihr noch eine andere Frau geben könnte. Aber wie sollte sie sonst zu Enkelkindern kommen, von denen sich Romeo und Julia am Schwanz ziehen ließen?

Jedenfalls durchschaute Martin sie in diesem Punkt völlig, und sie kämpften beide mit List und Liebe.

Peggy erschien, um den Imbiß zu servieren. Zweimal Kaffee mit reichlich Beilagen für Flugkapitän und Bord-Ingenieur. Der Co-Pilot, der stets mit Übergewicht kämpfte, bekam nur ein Glas Tee. Beim Rückflug war er immer auf Diät gesetzt, denn mit Sicherheit würde ihn die Jet-Air auf die Waage stellen.

»Darf ich Ihnen etwas Salat bringen, Jim?« schloß Peggy ihren Dauerwitz ab.

»Laß dir das nicht gefallen, armer Junge«, grinste Martin Nobis und griff nach dem dicksten Schinkenbrot; er sah, wie sein junger Mann an jedem Bissen mitschlang. »Komm«, sagte er und erhob sich. »Zur Entschädigung übergeb’ ich dir den Vogel.«

Er stellte belustigt fest, daß sein Co-Pilot beim Platzwechsel wesentlich schneller war als er. Jim würde sehr bald schon einen erstklassigen Captain abgeben. Martin Nobis hatte Hunderte von Piloten ausgebildet oder überprüft. Eine einzige Fehlanzeige, und selbst diese nicht in fliegerischer, sondern in menschlicher Hinsicht.

Die Stewardeß hielt sich noch immer im Cockpit auf.

»Gibt’s noch was, Peggy?« fragte Nobis.

»Ja«, begann sie vorsichtig. »Eine Passagierin möchte Sie besuchen.«

»Die Zeiten sind vorbei.«

»Es handelt sich um –«

»Keine Ausnahme.«

»Und das gilt auch für mich, Martin?« fragte Brenda, die die fünf Meter Niemandsland zwischen Bar und verbotener Zone überschritten hatte.

Daß er ihre Stimme sofort erkannt hatte, stellte sie fest, als Martin sich ganz langsam – wie in Zeitlupe – umdrehte, in der Art eines Realisten, der seinen Leuten verhehlen möchte, daß er Tagträume hat.

»Brenda«, sagte er, und seine Augen waren beredter. Einen Moment stand er da, als wisse er nicht, ob er seine Hände in die Taschen stecken oder zärtlich um ihren Kopf legen sollte.

»Das«, setzte er albern und gedehnt hinzu, »ist aber eine Überraschung.«

»Du hast dich nicht verändert«, erwiderte Brenda.

»Aber du bist schöner geworden«, sagte Martin.

»Oder du kurzsichtig!«

»Ein Pilot hat scharfe Augen«, entgegnete Martin.

Er stand auf und geleitete Brenda an die Bar zurück. Sie ließen sich nebeneinander nieder, und in diesem Moment glaubten sie beide, Worte zu hören, die nicht gesagt wurden, obwohl sie stimmen mochten.

»Warum hast du dich zwei Jahre lang nicht gemeldet?« fragte Brenda.

»Weil du dich so lange nicht gerührt hast. Außerdem wollte ich deiner Karriere nicht im Wege stehen.«

»Und ich nicht deiner Flug-Passion«, sagte sie. »Weil wir uns beruflich nichts nehmen wollten, haben wir uns privat den Weg verbaut.«

Sie sahen sich voll an. Zwei Jahre Einsamkeit, überspielt durch Geschäftigkeit, waren vergessen.

»Kennst du noch meine New Yorker Wohnung?« fragte Martin.

»Du wirst lachen«, erwiderte sie, »ich hab’ sogar noch den Schlüssel.«

»Das Schloß ist seitdem nicht geändert worden«, versetzte er in seiner typischen Art. »Du entschuldigst«, sagte er und ging in das Cockpit zurück, wo man bereits in New Yorker Ortszeit rechnete.

Hölle am Himmel

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