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KAUM SAH ICH JOHN STRACHAN um circa zehn nach sieben, erinnerte ich mich auch schon wieder an ihn. Eigentlich hatte ich gehofft, später einzutreffen, es aber nicht länger ausgehalten. Ich hatte mir die neue Innenstadt angesehen, die Scott so schrecklich gefunden hatte, und mich in ein Café gesetzt. Den Wagen hatte ich auf einem Parkplatz stehen lassen und war zu Fuß gegangen. Aber meine Ungeduld hatte mir trotzdem einen Streich gespielt.

»Jack, nicht wahr?«, fragte er.

Wir gaben uns die Hand.

»Ich bin John. Komm rein.«

»Das ist sehr nett.«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe selbst das Bedürfnis zu reden.«

Ein großer Mann mit Brille, der kaum älter sein konnte als Anfang dreißig. Er besaß die besorgte, zerstreute Ausstrahlung, die vermuten ließ, dass die Rechenaufgaben in seinem Kopf unlösbar waren. Er trug Jeans und einen ausgeleierten Pulli.

Er führte mich ins Wohnzimmer und stellte mir Mhairi vor. Sie war klein und dick und hatte ein glänzendes rundes Gesicht, wie ein Kloß, von dem man weiß, dass nichts Schlechtes in ihm steckt. Sie trug Jeans und ein weites, geblümtes Oberteil. John stellte mir auch die Kinder vor, Catriona und Elspeth, oder besser gesagt, er erklärte mir, wie sie hießen, während sie um uns herumtobten.

Die Kinder taten, was Kinder häufig tun, sie überführten die Banalität des Augenblicks in ein Spiel. Und wie immer bei solchen Spielen, kannte niemand außer ihnen selbst die Regeln. Dieses hier beinhaltete, dass Catriona, die wohl um die acht Jahre alt war, die hässlichste Fratze zog, derer sie fähig war, und sie Elspeth direkt vor die Nase hielt, das Ganze begleitet von einem hupenden Geräusch. Dann rannte sie zwischen den Möbeln hin und her und blieb an der unzugänglichsten Stelle stehen, die sie finden konnte. Elspeth, ungefähr fünf, rannte ihr hinterher, verzog das Gesicht auf die gleiche Weise, machte das gleiche Geräusch und rannte ebenfalls davon. Und wie bei so vielen Kinderspielen hatte sich niemand eine Regel dafür ausgedacht, wann es zu Ende sein sollte.

Die drei Erwachsenen waren vorübergehend fasziniert, vielleicht angesichts eines so mühelosen Ausstoßes von genügend Energie, um eine Kleinstadt hell zu erleuchten.

»Ich hoffe, ich bin nicht zu früh«, sagte ich.

»Ach was«, erwiderte Mhairi.

Sie sagte es erstaunt, als wollte sie das Absonderliche meiner Bemerkung hinterfragen. Das starre Zeitverständnis, das ich voraussetzte, schien ihr fremd. Teilweise durch Beobachtung, teilweise aus eigener Erinnerung, hatte ich eine Vorstellung davon, wie es ihnen erging. Mhairi stand an der Küchentür, vor Resignation leicht benommen, wie jemand, der auf einen Bus wartet, von dem er allmählich animmt, dass er auf dieser Strecke gar nicht verkehrt. Ich konnte mir die verheißenen Orte vorstellen, die vorne angeschrieben standen: »wenn die Kinder älter sind«, »mehr Zeit für mich« und »Dinge, die ich immer schon mal machen wollte«.

»Ich denke, wir sollten mit Jack ins Wohnzimmer gehen«, sagte Mhairi.

Zu dritt gingen wir weiter. Catriona und Elspeth bedrohten unsere Konzentration aus der Ferne, wie Gewehrfeuer auf den Hügeln im Umkreis eines Forts.

Ins Wohnzimmer zu gehen bedeutete, John und Mhairi näherzukommen, ins Kontrollzentrum dessen vorzustoßen, was sie ausmachte. Eingerichtet war es angreifbar eklektizistisch. Der Boden war lackiert, darauf lag ein indischer Teppichläufer. Die Stühle passten nicht zueinander, waren aber alt und hübsch, vermutlich ihrer Bequemlichkeit wegen ausgewählt. Jemand hatte sich an Makramee versucht. An den Wänden hingen afrikanische Masken und ein Gemälde von Scott, das ich noch nicht kannte. Während ich es betrachtete, sagten sie nichts. Bücher machten einen Großteil des Inventars aus. Es gab zwei große Regale und zwei kleinere. Eines war schwarzen Autoren gewidmet – George Jackson, Baldwin, Cleaver, Biko, Mandela, Achebe. Ich konnte mir vorstellen, wie ihre Freunde hier saßen. Sie tranken Wein und unterhielten sich sehr ernsthaft über wichtige Themen. Es wäre einfach gewesen, sich über sie lustig zu machen. Aber ich hatte das Gefühl, mich in einem Bunker der Anständigkeit aufzuhalten, in dem zwei Menschen sich bemühten, Werte zu finden, die ihr Leben auf ehrliche Weise bewohnbar machten.

»Was glaubt ihr, worum es in dem Bild geht?«, fragte ich und setzte mich.

Es war eine Persiflage auf da Vincis Abendmahl. Fünf Männer an einem Tisch, sie schauten den Betrachter an. Der Mann in der Mitte hatte kein Gesicht. Seine Hände lagen an seiner Seite. Die anderen vier waren bärtig. Einer hätte Scott sein können. Die Mahlzeit und die Kleidung waren modern. Die Perspektive erlaubte dem Betrachter, auf die noch leeren Teller zu blicken. Der Teller in der Mitte war weiß. Auf den anderen vier war jeweils ein Gesicht zu erkennen, das ruhige und traurige Gesicht eines Mannes Mitte fünfzig, der den Betrachter anschaute. Es gab noch andere Elemente, aber ich hatte keine Zeit, sie genau zu studieren. Mir gefiel das Bild nicht. Es schien mir zu abgeleitet, nicht von da Vinci, sondern von einer sich selbst äußerlichen Idee, einer Vorstellung, die es nicht erfolgreich verinnerlicht hatte.

»Ich bin nicht sicher«, sagte John. »Vielleicht will er sagen, dass die vier sich von dem Mann in der Mitte ernähren? Von seinem Identitätsverlust.«

»So was in der Art«, sagte Mhairi. »Jedenfalls mag ich es gerne. Aber Scott hat es uns nie erklärt.«

Wir betrachteten es alle kurz.

»Schön dich kennenzulernen«, sagte Mhairi. »Scott hat viel von dir erzählt. Black Jack hat er dich manchmal genannt. Aber das war nett gemeint. Wir vermissen ihn sehr.«

»Ich auch«, sagte ich. »Nicht, dass ich ihn in letzter Zeit so wahnsinnig oft gesehen hätte. Aber er war immer für mich da gewesen. Wie Geld auf der Bank. Und plötzlich kommt der Wall Street Crash. Ohne ihn fühle ich mich verarmt.«

»Er war jemand ganz Besonderes«, sagte John. »Die Schüler reden viel über ihn. Ich glaube, ein paar Mädchen aus der sechsten Klasse hatten sich wohl vorgestellt, ihn später zu heiraten.«

»Wir haben ihn und Anna oft gesehen«, sagte Mhairi. »Neuerdings nicht mehr so häufig zusammen. Aber dann ist er eben alleine gekommen.«

»Anna«, sagte ich. »Ich wollte sie heute besuchen. Das Haus steht zum Verkauf. Ging ganz schön schnell.«

Sie sahen einander an.

»Du weißt, wie schlimm es zwischen den beiden stand, als Scott gestorben ist?«, fragte John.

»Ich dachte, ich wüsste es. Aber vielleicht habe ich es drastisch unterschätzt. Keine Ahnung, wie’s dir bei der Beerdigung gegangen ist, John. Aber ich fand die Atmosphäre schwer erträglich. Ich weiß, dass Anna irgendwie auf ihre Art damit klarkommen muss, aber bitte, das ging zu weit.«

»Ich glaube, ich kann sie verstehen«, sagte Mhairi. »Ich weiß nicht, ob ich es genauso gemacht hätte. Aber vielleicht hätte ich auch gar nicht den Mut gehabt.«

Ich wartete.

»Eigentlich waren sie getrennt, als Scott starb. Sie haben noch im selben Haus gelebt, aber es war vorbei, ohne dass sie es sich eingestanden hätten. Anna muss ihn wohl beinahe gehasst haben. Ich denke, auf der Beerdigung wollte sie Heucheleien vermeiden. Anna kann sehr eigensinnig sein.«

»Scott auch, Mhairi«, sagte John. »Dazu hatte er aber eine Menge Charme. Wenn man allerdings an seiner Fassade kratzte, stieß man ganz schnell auf Granit.«

»Was, glaubt ihr, ist zwischen den beiden schiefgelaufen?«, fragte ich.

Sie lächelten und schüttelten die Köpfe.

»Ich weiß«, sagte ich. »Vergesst die Frage.«

»Nein«, sagte John. »Ich denke, so gut, wie wir sie gekannt haben, da hat es schon ein paar Hinweise gegeben. Aber wie will man sich da zum Schiedsrichter machen? Man erlebt sie nur hin und wieder außerhalb ihrer privatesten Sphäre und bekommt mit, dass jetzt ein anderes Spiel gespielt wird.«

»Das stimmt«, sagte Mhairi. »Weißt du, was mir aufgefallen ist? Es ist immer ein Zeichen, wenn ein Pärchen in der Öffentlichkeit überreagiert. Das Gespräch kommt auf ein bestimmtes Thema und beide übertreiben maßlos. Man begreift, dass es ihnen gar nicht darum geht, sondern um etwas ganz anderes. Der Anlass liefert nur den Vorwand für eine sehr viel tiefere Feindschaft. Wenn das passiert, steht es schlecht um die Beziehung, weil die Betreffenden aufgehört haben, das Problem lösen zu wollen. Sie verwenden das Thema nur noch als Treibstoff, um sich zu streiten.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte John. »Weißt du, wann mir das bei Scott und Anna aufgefallen ist? Weißt du noch, eine der ersten Gelegenheiten? Die Diskussion über die Privatschulen? Erinnerst du dich?«

Mhairi atmete aus und schüttelte den Kopf.

»Kann ich mich an den Vietnamkrieg erinnern? Das war schrecklich. Ich dachte, Scott würde handgreiflich werden.«

»Das hätte er nie gemacht. Aber weiter als er hätte man mit Worten auch nicht gehen können.«

»Privatschulen?«, fragte ich.

»Das war Annas Idee«, sagte Mhairi. »Sie wollte, dass David und Alan eine Privatschule besuchen. Das war an einem Abend hier, wir waren zu viert. Ich glaube, Anna hat das Thema absichtlich in Gesellschaft anderer angesprochen, um zu sehen, ob sie von unserer Seite aus Unterstützung bekommt.«

»Wohl kaum«, sagte John. »Ich lehre, wo ich lehre, weil ich dran glaube. Es geht nicht nur ums Geld. Auch wenn das helfen mag, so wenig es auch ist.«

»Oh, wir drei waren uns einig. Aber Anna hatte trotzdem das Recht auf eine eigene Meinung. Scott war außer sich. Als er fertig war, fing ich an zu glauben, ich sei vielleicht doch Annas Ansicht. Verzeih mir, aber so wie er sich an dem Abend benommen hat, war das wirklich nicht in Ordnung.«

»Keine Sorge«, sagte ich. »Das glaube ich dir. Liegt wohl in der Familie.«

»Als hätte sie versucht, den Sinn seines Lebens zu untergraben«, sagte John.

Catriona und Elspeth kamen wie Molotowcocktails ins Zimmer gerast und explodierten.

»Kommt schon, Mädchen«, sagte Mhairi matt.

Na schön, erwiderte Knut der Große: Weicht zurück ihr Wellen. Sie hatten sich ein anderes Spiel ausgedacht. Dieses war weniger kompliziert als das letzte und fiel in Sachen Raffinesse deutlich dagegen ab. Jetzt ging es ausschließlich um Dezibel.

»Naja, naja, naja, naja«, sagte Catriona. »Naja, naja, naja, naja, naja.«

»Najo, najo, najo«, ergänzte Elspeth. »Najo, najo, najo. Najo, najo, najo.«

Dabei war der Text noch besser als die Melodie. Mhairi nickte John zu.

»Sch!«, sagte John, wie ein Mann, der versucht, einen Waldbrand auszupusten. »Mhairi und ich dachten, wir beide könnten ins Pub gehen. Uns dort unterhalten.«

Mhairi lächelte mich an und nickte. Ich war ihnen dankbar, nicht nur weil uns der Ortswechsel Kommunikation ermöglichen würde, sondern weil ich die beiden mochte und mir nicht noch einmal vorstellen wollte, ihre Kinder zu erschießen.

»Sicher, dass du klarkommst, Liebes?«, fragte John.

Die Frage war berechtigt.

»Hab’s bis jetzt noch immer überlebt. Ich stecke die beiden ins Bett. Ihr bleibt doch nicht lange, oder?«

»Nein. Wir gehen ins Akimbo. Okay?«

John gab ihr und den Kindern jeweils einen Kuss. Ich bedankte mich bei Mhairi und winkte Catriona und Elspeth zu.

»Vielleicht sehen wir uns mal wieder unter weniger traurigen Umständen.«

»Das hoffe ich«, sagte ich. »Würde mich sehr freuen.«

Fremde Treue

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