Читать книгу Fremde Treue - William McIlvanney - Страница 8
4
ОглавлениеGRAITHNOCK LIEGT NICHT WEIT von Glasgow entfernt, nur knapp über zwanzig Meilen. Trotzdem brauchte ich fünfzig Minuten. Ich brach keine Geschwindigkeitsrekorde. Je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr schwand meine Zuversicht.
Ich dachte, Anna würde sich wohl kaum freuen, mich zu sehen. Nach der Beerdigung hatte ich sie zwei Mal angerufen und mit einem Kühlschrank gesprochen. Jede einzelne Antwort kam kompakt und kalt wie ein Eiswürfel zurück. Sie selbst hatte keine Fragen. Beim dritten Mal war sie nicht mehr drangegangen und seither überhaupt nicht mehr. Keine Ahnung, was mit ihr los war. Ich hatte das Gefühl, in eine Nebelbank zu fahren. So was macht langsamer.
Ich versuchte, Anhaltspunkte zu finden. Das war nicht einfach. Wenn ich Scott zum Zeitpunkt seines Todes schon kaum noch gekannt hatte, wie standen dann meine Chancen, Anna kennenzulernen? Richtig nah war ich Scott zuletzt vor zwei Monaten gewesen. Er hatte angerufen und war dann bei mir zu Hause in diesem besonderen Zustand der Trunkenheit aufgetaucht, in dem man erstaunlich nüchtern wirkt. Seine Worte wirkten wie in Stein gemeißelt. Die erste Stunde war ich eher herablassend besorgt, bis ich allmählich selbst blau wurde. Wir tranken, was ich im Haus hatte.
Was für ein Abend. Später gingen wir aus, fielen in Kneipen ein wie in feindliche Länder und lieferten uns einen Wettstreit, wer in kürzester Zeit den gröbsten Unsinn reden konnte. Wir lagen ungefähr gleichauf. Wie bei den meisten Säufern ging es vor allem um amüsanten Kummer, wir nutzten die Alchemie des Alkohols, um unser Elend in einen Schwank zu verwandeln.
Das gelang uns auf unterschiedliche Weise jeweils sehr gut. Scott wurde grotesk charmant. Ich nicht. Er sprach Fremde übertrieben höflich mit »mein werter Herr« und »mein guter, guter Mann« an. Die Bestellung eines Getränks gestaltete er feierlich genug, um von Fanfarenstößen begleitet zu werden. Er legte Münzen auf den Tresen, wie ein Antiquar Raritäten präsentiert. Schlug vier verschiedenen Frauen in vier verschiedenen Bars vor, gemeinsam durchzubrennen. Aber wenn er Sir Galahad of the Bevvy war, so war ich Mordred. Meine Stimmung kleidete sich schwarz. Wer eine Bemerkung an mich richtete, musste damit rechnen, dass ich ihr in die unschuldige Seele starrte und Verwerfliches darin entdeckte. Ich war so unausstehlich, ich konnte es kaum ertragen, neben mir zu sitzen.
Ich erinnere mich glücklicherweise nur verschwommen an eines der letzten Pubs, in dem wir landeten. Es war das Reid’s of Pertyck, glaube ich – auf jeden Fall eine Kneipe mit einer Art höher gelegenen Galerie mit Tischen und Stühlen. Ich stand an der Bar. Ich muss etwas bestellt haben. Scott saß auf der Galerie an einem Tisch. Vielleicht verwirrte ihn die Umgebung, versetzte ihn in eine andere Zeit an einen anderen Ort. Er fing an, von seinem Platz aus Getränke zu bestellen, und zwar so, dass sich ein paar Köpfe fragend zu ihm umdrehten. In einigen Glasgower Pubs wird Großspurigkeit nicht gern gesehen.
»Die Runde ist an mir, so glaube ich«, schrie Scott. »Ein weiterer Krug Gerstensaft, mein Wirt. Und bringe er mir die Rechnung.« Zum Glück hatte er die Worte an mich gerichtet.
Er warf einen zerknitterten Fünf-Pfund-Schein Richtung Tresen. Ein kleiner Mann hob ihn auf und behielt ihn in der geschlossenen Hand. Zu dem Zeitpunkt bekam ich bereits nicht mehr viel mit. Aber das schon. Mordred hatte sich einen gemeinen Tunnelblick zu eigen gemacht. Nur Schlechtes drang noch zu mir durch. Ich streckte die Hand aus, die Fläche nach oben. Der kleine Mann sah mich fragend an. Dann tippte ich mir mit dem linken Zeigefinger auf die rechte Hand, keine schlechte Leistung in Anbetracht meines Zustands.
»Die«, sagte ich und schloss die Hand zur Faust. »Oder die.«
Der kleine Mann rückte die fünf Pfund heraus, aber ungern.
»Hab nur Spaß gemacht«, sagte er.
»Wenn das Spaß war«, sagte ich, »dann bist du so witzig wie Arthur Askey.«
Ich bezahlte und brachte die Getränke an unseren Tisch, keinen Gerstensaft, sondern Gin Tonic für Scott und eine Bloody Mary für mich, was nur folgerichtiger Ausdruck meiner Stimmung war, sonst trank ich so was nie. Die fünf Pfund gab ich Scott zurück.
»Nein, nein«, sagte er. »Verschenk das Geld. Die Leute sollen saufen!«
»Benimm dich«, sagte ich.
Der kleine Mann kam wieder.
»Hey, du. Hab nur Spaß gemacht«, sagte er.
»Was bist du?«, fragte ich. »Ein verfluchter Wellensittich? Haben sie dir keinen anderen Spruch beigebracht? Komm in einem Monat wieder, wenn du einen Satz dazugelernt hast.«
»Hör mal gut zu«, sagte der Kleine und packte mich am Arm.
Ich schüttelte ihn ab und er setzte sich auf den Boden. Hätte, wie man so schön sagt, hässlich werden können, nur dass ich ihm aufhalf.
»Hab nur Spaß gemacht«, beharrte er.
»Ich auch«, sagte ich. »Vergessen wir’s.«
»Na schön«, erwiderte er. »Hauptsache ihr wisst, dass ich Spaß gemacht hab.«
Die wiederholte Behauptung rief erneut den Dämon in mir wach.
»Tut mir leid, dass ich dich von deiner Sitzstange geschubst hab«, sagte ich.
Zum Glück drehte sich der Mann nicht noch einmal um. Aber es folgten genuschelte Bemerkungen, Scott begleitete die verhalten vorgetragenen Drohungen mit einem Grinsen, als handelte es sich um ein Konzert zu seinen Ehren. Auf wundersame Art und Weise kamen wir ohne weiteren Ärger dort raus und auch aus der nächsten Bar, zum Schluss holten wir uns noch was zum Mitnehmen und fuhren mit dem Taxi zurück zu mir nach Hause.
Der Abend mündete in dem, worum es eigentlich ging. Wir waren ebenbürtige Katastrophen. Ich denke, Scott war mit dem Ziel einer gemeinsamen Teufelsaustreibung zu mir gekommen, ein vereintes Ad-acta-Legen der wilderen Träume, die wir früher in unserem Zimmer im Haus unserer Eltern ersponnen hatten. Er hatte begonnen sich einzugestehen, wie entsetzlich seine Ehe gescheitert war, und musste dieses Eingeständnis mit mir, dem Hüter unserer alten Träume, teilen. Auch kannte er meine Situation und ich denke, er vermutete, sie könne bald auch die seine sein. Vielleicht wollte er das Terrain mit jemandem sondieren, der dort bereits heimisch war.
Ich wünschte jetzt, ich hätte ihm besser helfen können. Zu dem Zeitpunkt waren wir beide zu gekränkt. Während wir tranken und bis spät in die Nacht redeten, entdeckten wir eine neue Art von brüderlicher Rivalität. Du glaubst, du wurdest verletzt? Schau dir meine Narben an. Dein Kompass ist kaputt? Meine Ambitionen haben Wundbrand. Frauen wurden ausufernd analysiert. Gewichtige Behauptungen über das Wesen von Beziehungen aufgestellt und vergessen. Mädchen aus der Vergangenheit, die längst in unbekannte Ehen geflohen und, soweit wir wussten, auch schon wieder geschieden waren, wurden namentlich heraufbeschworen und im schummrigen Licht der Nostalgie betrachtet. Wir knieten vor ihnen nieder wie vor Altären, an die wir den Glauben nicht hätten verlieren dürfen. Wir stießen gegen das Unverständliche und Unsagbare und blieben erschöpft liegen.
Um circa halb vier Uhr morgens setzte sich Scott plötzlich auf, wo er gelegen hatte, und starrte wie ein Visionär in die Ferne.
»Ich bin hergekommen, um dir etwas zu sagen«, erklärte er. »Ich hätte es dir längst sagen sollen.«
Er sah mich an und schaute weg. Was auch immer er zu sagen hatte, es fiel ihm nicht leicht.
»Ich werde Anna verlassen«, kündigte er an, legte sich wieder hin und schlief ein.
Am nächsten Morgen wusch er sich, benutzte meinen Rasierer und kehrte kleinlaut zu ihr zurück. Danach hatte ich ihn noch ein paar Mal gesehen, aber immer nur flüchtig bei Veranstaltungen anderer.
Das war meine letzte echte Erinnerung an ihn und es war keine so schlechte. Sollen sich diejenigen, die glauben, das Leben sei in Korrektheit messbar, doch schönere letzte Erinnerungen auf den Leib wünschen. Der verrückte Abend blieb mir im Gedächtnis. Und ließ mich grinsen. Denn trotz all seiner Verletztheit hatte er irgendwie auch darübergestanden. Sein Schmerz war so groß wie der Traum, von dem er glaubte, dass er ihm verwehrt bliebe. An dem Schmerz festzuhalten bedeutete auch, an dem Traum festzuhalten. Das war einer der Gründe, warum ich ihm sein Sterben nicht verzeihen konnte. Und einer der Gründe, weshalb ich jetzt zu Anna fuhr.
Wer war Anna? Ich war nie richtig dahintergekommen. Ich wusste, wie sie aussah, klein und zierlich mit einem lieben Gesicht. Seit ihrer Heirat mit Scott hatten sie und ich Höflichkeiten stets wie versiegelte Briefumschläge ausgetauscht. Wer wusste schon, welche Komplikationen darin steckten? Vielleicht würde ich es jetzt herausfinden.
Links sah ich Fenwick, wo Brian Harkness vor seiner Hochzeit mit Morag bei seinem Vater gelebt hatte. Ich war dem alten Herrn mehrfach begegnet. Und hatte ihn gemocht. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu besuchen, meinen Abstieg in was auch immer mich in Graithnock erwartete zu verschieben. Brians Vater und ich hatten einiges gemeinsam. Auch er hatte für Polizisten nicht viel übrig. Aber bis nach Graithnock waren es nur noch wenige Minuten – schon zu spät, um sich zu verstecken.
Ich fuhr durch die Einbahnstraßen, bis ich eine Telefonzelle entdeckte. Dann suchte ich einen Parkplatz, denn ich wollte mich noch vor meinem Gespräch mit Anna bei John Strachan melden. Er hatte mir bei der Beerdigung erzählt, er sei noch kurz vor Scotts Tod mit ihm zusammen gewesen. Ich denke, ich wollte mich gegen die Möglichkeit absichern, dass mir Anna einsilbig antwortete. Wenn sie mir wirklich nichts erzählen würde, konnte ich ihrem Schweigen trotzen und meine Reise hätte sich trotzdem gelohnt. Ich rief in Scotts Schule an.
»Guten Tag. Glebe Academy.«
Eine Schreibmaschine im Hintergrund und eine Stimme, die etwas sagte, das ich nicht hören konnte – die köstlichen Geräusche der Normalität, die für einen Zwangscharakter wie Süßigkeiten im Schaufenster sind und er wird zum kleinen Jungen, der nicht anders kann, als sie anzustarren, weil ihm das Geld für einen Einkauf fehlt.
»Glebe Academy. Ja?«
»Guten Tag. Kann ich bitte Mr Strachan sprechen?«
»Wer ist am Apparat, bitte?«
»Mein Name ist Laidlaw. Jack Laidlaw. Ich bin Scotts Bruder.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Ich war Scotts Bruder.« Trauer ist häufig so wohlerzogen, dass sie sich selbst verknotet. Am anderen Ende vernahm ich eine Stille, die ich nicht verstand.
»Oh, Mr Laidlaw.« Dann sagte sie etwas, dass sich mir an die Brust heftete wie ein Anstecker. »Sie hatten einen wunderbaren Bruder, Mr Laidlaw. Wir vermissen ihn sehr, Schüler wie Lehrer.«
Mir gefiel nicht nur, was sie sagte, mir gefiel auch die Atemlosigkeit in ihrer Stimme, die Spontaneität, mit der sie es sagte und die Hürde ihrer eigenen Befangenheit überwand. Ihre Worte waren nicht einstudiert.
»Danke«, sagte ich.
»Ich hole Mr Strachan.«
Als er sich meldete, erkannte ich seine Stimme nicht und mir wurde bewusst, dass ich ihn vielleicht gar nicht wiedererkennen würde, wenn ich ihn traf.
»Hallo, Mr Laidlaw?«
»Mr Strachan. Entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, dass Sie sehr viel zu tun haben. Aber ich bin heute in Graithnock und habe mich gefragt, ob es möglich wäre, dass wir uns unterhalten? Über Scott. Ich würde es einfach gerne besser verstehen. Tut mir leid, dass ich Sie so überfalle, aber können wir uns vielleicht treffen? Wenn’s auch nur für eine halbe Stunde ist?«
Er zögerte kaum.
»Kommen Sie doch heute Abend zu mir«, sagte er.
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Sind Sie später noch da?«
»Auf jeden Fall.«
»Okay. Tut mir leid, dass ich keine Zeit mehr habe, Mhairi vorzuwarnen, sonst hätten Sie mit uns essen können. Aber kommen Sie danach, wenn das in Ordnung ist.«
»Das ist wunderbar.«
Er gab mir die Adresse. Ich war erleichtert. Zu Hause würde ich ihn auf jeden Fall erkennen.
»Sagen wir um sieben. Wollen hoffen, dass die Kinder bis dahin im Bett sind.«
»Ausgezeichnet. Bis später. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Kein Problem. Scott ist es wert, sich über ihn zu unterhalten.«
Seine Worte und die der Sekretärin waren Balsam auf meiner Seele. Zwei Menschen stimmten mir in meinem Gefühl zu. Ich gehörte einem Kommando zur Bekämpfung der Gleichgültigkeit gegenüber Scotts Tod an. Jetzt war ich bereit, mit Anna zu sprechen, war mit größerer Autorität ausgestattet als nur meiner eigenen Manie. Ich kehrte zum Wagen zurück.