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WO KOMMEN SIE HER, DIESE ZEITEN? Vor Personen haben sie keinen Respekt. Du hast entschieden, dass ein Tag einfach nur schlimm ist. Ihn in den tristesten Grautönen gemalt, und plötzlich blendet er dich mit Farben, von denen du gar nicht wusstest, dass es sie gibt. Und lockt dich in einen Hinterhalt aus Freude. So war das im Lock 27.

Wir aßen draußen an Holztischen. Ein Ort, der Jan und mir schon ein paar Mal etwas bedeutet hatte, träge Getränke und lange Gespräche, die über gewundene Umwege ins Bett führten, zwischendurch pflückten wir hier und da in unseren unterschiedlichen Vergangenheiten ein Blümchen, und ihr Mund verwandelte sich in einen unglaublichen Organismus, so exotisch wie eine Seeanemone. Ich verliebte mich vorübergehend unsterblich in ihr linkes Ohrläppchen. Solche Zeiten.

Heute gab es die Orchesterfassung von allem zusammen. Die Einzelheiten, die diese Wirkung erzielten, schienen für sich genommen gar nicht so überwältigend. Aber die Noten zu Solveigs Song sehen auch nicht nach viel aus, zumindest nicht in meinen Augen. (Ein Lehrer in der Schule hat sie mir einmal gezeigt.) Gehört, lässt die Musik einen schmelzen.

Jan und Brian teilten sich eine Flasche Weißwein. Ich blieb beim Perrier, weil ich noch eine gewisse Strecke fahren wollte. Wir aßen. Redeten. Das war’s.

Aber da draußen war der Mai, legte Spuren aus Duft in die Luft wie Geheimnisse, denen man auf den Grund gehen möchte, bis sie einen unter sich begraben. Das Sonnenlicht prahlte mit dem Kanal–schaut mal, was ich mit Wasser anstellen kann – und ein junges Pärchen mit Kind ging am Ufer auf und ab, Leute redeten und lachten, man hatte das Gefühl, gar keiner so schlechten Spezies anzugehören, und ich dachte, was für ein tolles Spiel wir hier spielten. Am liebsten hätte ich es eingerahmt. So kann es bleiben.

Nachdem mich Jan und Brian während des Essens feinfühlig wegen meiner unzureichenden Begabung im Alleineleben aufgezogen hatten (Scott wurde nicht erwähnt), bestand Brian darauf zu bezahlen und sich die Beine am Kanal zu vertreten.

»Weißt du, was du tust?«, fragte Jan.

»Ich glaube schon.«

»Wär mal was Neues.«

»Ach komm, Jan. Du nicht auch noch.«

»Ich vor allen anderen.«

Ihr Gesicht befand sich im Sonnenlicht und ihrem durchdringenden Blick war nicht leicht standzuhalten. Sie sah aus, als könnte sie, wie es so schön heißt, ›das Tun der Menschen ganz durchschauen‹. In meinem Fall muss ihr das leichtfallen, dachte ich. Es gab genügend Bekenntnisse, auf die sie sich hätte beziehen können. Aber sie widersprach mir.

»Wer bist du überhaupt? Ich kenne dich immer noch nicht. Ich dachte es. Aber in letzter Zeit komme ich mir vor, als würde ich jemanden in einer Menschenmenge suchen. Bis ich den Arm gepackt habe, von dem ich glaube, dass es deiner ist, stellt sich heraus, dass er einem anderen gehört. Das liegt nicht nur an Scotts Tod. Das war vorher auch schon so. Aber jetzt ist es schlimmer geworden. Zum Beispiel das, was du jetzt vorhast. Was hat dich dazu gebracht?«

»Die Beerdigung, denke ich.«

»Die Beerdigung?«

»Ich glaube, ja. Es gibt keine guten, Jan. Aber das war die schlimmste. Scott war nicht anwesend. Hör auf zu grinsen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er mit den Trauergästen hereinspaziert kommt. Ich meine, ich habe ihn nicht unter den Trauernden gespürt. Außer vielleicht bei David und Alan. Die Kinder wussten nicht, was los war. Aber zumindest ihr Entsetzen war echt. Und Anna war natürlich verletzt. Aber mein Gott, sie war so kalt. Weißt du, hinterher gab es nichts. Nichts. Kein Würstchen im Schlafrock, keine einzige Tasse Tee. Wir standen ein paar Minuten vor dem Krematorium her um. Fremde, die sich anschauen, als sei der Gastgeber nicht erschienen. Scotts Direktor hat mit mir gesprochen. »Sie müssen der Bruder sein. Er war ein guter Lehrer.« Ein guter Lehrer? Schieb es dir in den Arsch. Er war sehr viel mehr als nur ein guter Lehrer. Und außerdem wissen wir alle, dass er zum Schluss auch gar kein so guter Lehrer mehr war. Nur warum, wissen wir nicht. Keiner von uns hatte eine Ahnung. ›Gut.‹ Das Wort regt mich auf. Das ist keine persönliche Reaktion. Das ist ein Kästchen auf einem Fragebogen. Mangelhaft, gut, ausgezeichnet. Zutreffendes bitte ankreuzen. Ein paar andere haben auch noch mit mir gesprochen. Ein gewisser John Strachan zum Beispiel. Mit ihm muss ich vor allem reden. Damals war ich zu benommen. Wir sind alle in die Autos gestiegen und weggefahren. Hätte auch ein Fußballspiel gewesen sein können.«

»Jack, das ist nun mal so.«

»Aber so begräbt man keinen Hund, Jan. So begräbt man nicht meinen Bruder. Das steht fest. Ich mag zu dem Zeitpunkt betäubt gewesen sein, aber sogar da war mir klar, das reicht nicht. Wussten die überhaupt, womit sie es zu tun haben? Er war ein toller Mensch, weißt du? Ich habe ihn gekannt, als er noch er selbst war. In seinem Kopf war mehr los als auf einem Ameisenhügel. Er hat gemalt. Hat versucht zu schreiben. Stand auf alles Mögliche. Er war achtunddreißig, als er starb. Wie zum Teufel konnte das passieren?«

»Es war ein Unfall.«

»Ich weiß, dass es ein Unfall war, Jan. Aber wo hat der Unfall angefangen? Das will ich rausbekommen. Mitten auf der Straße? Am Bordstein? Im Pub, bevor er rausgegangen ist? Damit, dass er zu viel getrunken hat? Mit den Gründen, wegen denen er zu viel getrunken hat? Wann hat der Unfall angefangen? Und warum? Wann hat das Leben meines Bruders seinen Sinn verloren? Sodass es jahrelang ziellos umhertrieb, bis er schließlich vor ein Auto lief? Warum? War um hat es sich verloren, bis wir’s unter dem Auto gefunden haben? Das will ich wissen, Jan. Warum kommen die Besten um und den Schlimmsten geht es prächtig? Ich will’s wissen.«

Und das obwohl ich beim Wasser geblieben war. Ich konnte von Glück sagen, dass ich keinen Whisky getrunken hatte. Wenige Minuten zuvor hatte ich noch ewig hier bleiben wollen. Jetzt war die Idylle zerstört. Mit meinen Worten hatte ich sie verregnet. Die Sonne schien noch, und die Menschen waren auch noch da, aber in meinen Augen sahen sie jetzt anders aus. Ich glaube, ich nahm es ihnen ein bisschen übel. Und ich glaube, Jan nahm es mir übel.

»Ich weiß nicht, wie lange noch, Jack«, sagte sie.

Die Bemerkung hätte überraschend kommen sollen. Aber Liebe hat eine eigene Grammatik. Unausgesprochene Sätze werden gewechselt und verstanden. Ich war nicht überrascht. Eine vertraute Furcht tauchte plötzlich im Sonnenlicht auf, wie eine Flosse in einer strahlend blauen Bucht.

»Ich hatte nie vor, mich in eine Bande Guerilleros zu verlieben. Du kannst nicht jeden Tag einen neuen Kampf aufnehmen. Gruppensex war noch nie mein Ding. Wenn wir uns lieben, ist das das Allerbeste. Aber abgesehen davon, wer bist du? Ich weiß nie, wer aus dem Bett steigt, ganz zu schweigen davon, wer sich zu mir legt. Ich brauche meinen eigenen Jack Laidlaw. Ich bin jetzt dreißig.«

In letzter Zeit hatte sie davon gesprochen, dass sie ein Kind wollte. Ich weiß, dass ich ihre erste Wahl als Vater war, aber auch nur die erste. Sie schien ein gewisses Potenzial in meinen Genen zu vermuten, mit dem richtigen Training, das ich offensichtlich nicht gehabt hatte, würde man es zum Vorschein bringen können. Die Scharfsichtigkeit von Frauen verblüffte mich. Sie können eine ganze Beziehung in ein Lächeln projizieren und eine Zukunft in eine einzige Umarmung. Sie können in einem Versprechen nisten, von dem man nicht einmal weiß, dass man es gegeben hat. Jan sah eine Zukunft für uns beide, aber wenn ich es nicht tat, dann sah sie eben eine für sich. Ich konnte ihren Impuls verstehen. Ich war nicht der Einzige, der in die Dunkelheit über dem Bett starrte und um mich herum das Alter wispern hörte. Jan hörte ihre eigenen düsteren Stimmen. Irgendwo in ihrem Inneren spürte sie hoffnungsvoll Nachwuchs auflodern, gesichtslos wie flammende Kerzen. Kam er nicht nach mir, kam er nach einem anderen. Aber ihr lief die Zeit davon. Tat sie das nicht immer, bei uns allen?

»Geh und nimm dir deine Woche«, sagte sie. »Wir sehen uns, wenn du wieder da bist.«

Fast hätte ich Worte zu meiner Verteidigung ergriffen, widerstand der Versuchung aber. Ich spürte, in welcher Richtung sie sich bewegte, möglicherweise von mir weg. Sie hatte aufgehört, im Hotel zu arbeiten, und führte jetzt gemeinsam mit zwei Freundinnen ein kleines Restaurant. Ihr Leben war geordnet und erfolgreich. Ich dagegen schien rückwärts zu streben. Manchmal hatte ich das Gefühl, zu Fuß unterwegs zu sein, während alle anderen fuhren. Als hätte mein Leben das Rad noch nicht erfunden. Vielleicht in dieser Woche. Immerhin würde Jan warten. Das Gericht hatte sich bis auf nächste Woche vertagt.

Brian wartete nicht weit entfernt und ich rief ihn. An ihrem Wagen verabschiedeten Jan und ich uns abwägend und sie sagte mir tonlos durch die Windschutzscheibe, dass sie mich liebte. Dann fuhr ich Brian nach Hause. Im Wagen redeten wir nicht viel. Draußen vor seinem Haus blieb er an der offenen Autotür stehen.

»Denk dran, Jack«, sagte er. »Polizisten dürfen sich noch weniger herausnehmen als Zivilisten. Mach keine Dummheiten, jedenfalls keine richtig dummen. Und bleib in Verbindung. Sei’s nur, um mir zu sagen, wie’s dem Wagen geht. Ich möchte von dir hören. Und vielleicht brauche ich auch deinen Rat bei unseren Ermittlungen.«

Eine vorbereitete Rede. Ich fand das rührend.

»Ich rufe alle paar Kilometer an«, sagte ich.

»Au ja. Und lass dir einen Tipp von einem guten Detective geben: Wenn du in einen fremden Wagen steigst, schau immer zuerst ins Handschuhfach.«

Wir winkten und ich fuhr los. Erst nach einer ganzen Weile fiel mir wieder ein, was er gesagt hatte. Ich drückte auf den Knopf am Handschuhfach, die Klappe sprang auf und eine Flasche Antiquary fiel mir in die Hand. Ich legte sie wieder rein und machte zu.

Ich dachte an Menschen in Fabeln, die sich auf Reisen begeben: Sie werden von schönen Frauen gewarnt und bekommen einen Zaubertrank mit, der ihnen helfen soll, das Unbekannte zu überstehen.

Fremde Treue

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