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UNTERWEGS MIT JOHN STRACHAN tauchte ich viel zu rasch aus den Tiefen meiner Beschäftigung mit Scotts Tod in einen gewöhnlichen Abend auf. Ich verspürte so etwas wie die psychische Entsprechung der Taucherkrankheit. Mit meiner Umgebung konnte ich nichts anfangen.

Ich kam mir hier fremd vor. Dennoch kannte ich die Stadt sehr gut. Fünf oder sechs Jahre hatte ich mit meiner Familie hier gelebt, als mein Vater – ein unverbesserlicher Träumer unerfüllter Träume–wieder einmal einen seiner vielen Neuanfänge gestartet hatte, der wie immer an der Begegnung mit der harten Realität gescheitert war. Aber heute Abend schien mir die Stadt unvertraut. Vielleicht betrachtete ich sie weniger als den Ort, an dem ich mich aufhielt, sondern als den, an dem Scott nicht mehr war, eine bebaute Fläche, die meinen Bruder ebenso mühelos und effektiv verschluckt hatte wie ein Ozean ein sinkendes Schiff.

Plötzlich wollte ich mich nicht mehr im Akimbo Arms, einem Pub, das ich nur flüchtig kannte, von Anonymität überrollen lassen. Ich brauchte einen Ort, an dem ich Scott stärker spürte.

»John«, sagte ich. »Was würdest du sagen, wenn wir nicht ins Akimbo gehen? Wir könnten meinen Wagen holen und zum Bushfield Hotel fahren. Ich brauche sowieso noch ein Zimmer für die Nacht.«

»Klar«, sagte er. »Ich gehe da auch hin und wieder mal einen trinken. Schon okay.«

Das Bushfield war ein umgebautes Privathaus. Hauptsächlich ein Pub, aber es gab auch noch an die zehn Gästezimmer. Katie und Mike Samson, denen es gehörte, hatten Scott gut gekannt. Ich war einige Male nach der Sperrstunde noch dort gewesen, hatte getrunken und gesungen. Die liebreizend füllige Katie war Scott sehr zugetan gewesen. Vielleicht hatte Mike ihn auch gemocht. Aber bei ihm konnte man sich nicht sicher sein. Er war groß und schlank und vermittelte manchmal den Eindruck, man bräuchte einen Elektrobohrer, um herauszubekommen, was in seinem Kopf vor sich ging. Zusammen waren sie Melodie und Oberstimme, Mike ergänzte Katies Lebensfreude durch eine gewisse schwermütige Unterströmung.

Ich parkte vor dem Hotel und nahm meine Reisetasche aus dem Auto. Als ich mit John Strachan eintrat, durchquerte Katie gerade den Flur, ging von der Bar in die Küche.

»Habt ihr wohl ein Zimmer für einen fremden Wandersmann?«, fragte ich.

»Oh, Jack«, rief sie.

Sie blieb stehen, starrte mich an. Ich glaubte zu wissen, was ihr Blick bedeutete. Der Anblick seines großen Bruders bestätigte ihr noch einmal, dass Scott tot war. Scott würde nie wieder dort stehen, wo ich jetzt stand. Da Katie Katie war und so spontan wie das Atmen, trieb ihr der Gedanke Tränen in die Augen. Sie kam mit offenen Armen auf mich zu und schloss mich darin ein, sodass Luftholen schwierig war. Die Reisetasche knallte auf den Boden. Gerade als ich mich zum dritten Mal runterbeugen wollte, ließ sie von mir ab.

»Du bist dürr wie ein Strich«, sagte sie.

»Durchtrainiert und schlank, Katie.«

»Keine Ausreden. Was hast du gegessen? Oder besser: Was hast du nicht gegessen?«

»Ich bin der schlechteste Koch in ganz Großbritannien.«

»Ach Jack. Dein Bruder hat’s mir erzählt.« Sie meinte meine Ehe. »Ein Unglück kommt selten allein, was?«

Ich wollte ihr John Strachan vorstellen, aber sie kannte ihn bereits. Natürlich. Sie behandelte selbst seltene Gäste wie entfernte Verwandte. Sie scheuchte John an die Bar und ging mit mir nach oben, um mir mein Zimmer zu zeigen. Es war frisch gestrichen und wunderbar sauber.

»Da ist das beste«, sagte sie. »Ein paar von den anderen werden auch noch renoviert. Wir haben außerdem zwei Dänen über Nacht da. Und einen Gast aus Irland, der wohnt schon fast eine Woche hier.«

Ich packte die Tasche nicht aus. Erklärte, ich wolle in Glasgow anrufen. Sie erlaubte nicht, dass ich das Münztelefon benutzte, sondern ging mit mir runter in die Küche. Zum Glück erkannte mich der Hund Buster wieder, wobei mir das nicht grundsätzlich Immunität vor seinem bedrohlichen Knurren garantierte. Sie ließ mich allein und ich wählte Brian Harkness’ Nummer.

»Hallo?«

»Hallo Morag«, sagte ich. »Hier ist …«

»Ich weiß schon, dass du’s bist. Dein Brummen würde ich überall erkennen. Black Jack Laidlaw, der verrückte Detective.«

Schön, wenn einen die Leute mögen.

»Wo bist du?«, fragte sie.

»In Graithnock. Immer noch in Graithnock.«

»Wo in Graithnock?«

»Ich checke gerade in einem kleinen Hotel ein. Bin eben angekommen.«

»Sei nicht blöd«, sagte sie. Morag war von einer Direktheit, wie sie häufig mit authentischer Großzügigkeit einhergeht. Freundlichkeit war für sie etwas so Natürliches, dass sie sich nicht die Mühe machte, sie förmlich einzukleiden. »Du bist gerade mal vierzig Minuten von uns entfernt. Schieb deinen Hintern in den Wagen und komm her.«

Ich nahm mir nicht die Zeit zu erklären, dass es lange vierzig Minuten waren. Der Wagen würde es schaffen, aber mein Kopf nicht. Im Hintergrund konnte ich Familienleben durchs Telefon hören, wie eine alte Melodie, an die ich mich erinnerte, deren Text ich aber vergessen hatte. Ich wollte niemanden dort mit meiner düsteren Verbissenheit anstecken.

»Ich muss noch ein paar Leute treffen, Morag.«

»Jack, was meinst du, wem du was vormachen kannst? Du sitzt in einem Zimmer so groß wie ein Sarg und betrinkst dich. Deine Gewohnheiten sind bekannt. Komm her, hier bekommst du was Anständiges zu essen und Gesellschaft. Brian hat mir von deinem Kühlschrank erzählt. Er meinte, du könntest ihn als neuwertig verkaufen. Wenn du dich nicht selbst um dich kümmern kannst, dann lass es wenigstens hin und wieder andere für dich tun.«

»Es ist aber so, Morag«, sagte ich, »ich hab gerade an meinem ersten Whisky genippt. Und du weißt ja, wie das manchmal ist, wenn einem auf einen Schlag alles klar wird. Ich dachte, ich bleib noch ein bisschen dabei und schaue mal, ob ich mich an den Geschmack gewöhnen kann. Danach noch Auto zu fahren wäre blöd.«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall. Dann kommst du also nicht?«

»Heute Abend nicht, du Wunderbare. Aber ich schreibe es mir in meinen überfüllten Terminkalender. Wie geht es Stephanie und dem geheimnisvollen Gast?«

»Steph geht’s gut. Der andere tritt wie eine ganze Fußballmannschaft. Hör mal. Bald werden wir dich richtig füttern. Und wenn wir dich an einen Tropf hängen. Keine Ausrede. Willst du Brian sprechen?«

»Bitte, Morag. Ist er da?«

»Ja. Ich kauf ihm die ganzen Geschichten über den Crime Squad nicht ab und dass er ständig Überstunden machen muss. Als hinge das Schicksal der Nation von der Aufklärung eines Einbruchs in Garthamlock ab. Ich hole ihn. Pass auf dich auf, hörst du?«

»Bin hier so sicher wie ein Ei im Kuchen, Morag. Danke.«

»Dann haben Morags Verführungskünste nicht gereicht, dich zu überreden?«, fragte Brian. »Wobei, wenn ich’s mir überlege, so wie sie mir zusetzt … Hast du was dagegen, wenn ich zu dir runterkomme? Kannst du mir ein Zimmer besorgen?«

»Ich würde jederzeit mit dir tauschen«, sagte ich. »Also, wie ist es heute gelaufen?«

»Du zuerst«, sagte Brian.

Ich fing an, ihm eine kurze Zusammenfassung zu geben, und hatte das Gefühl, mit dem Finger Bilder in die Luft zu zeichnen. Dann wurde mir bewusst, dass ich Brians Schweigen als Skepsis interpretierte. Vielleicht sind Zwangsvorstellungen grundsätzlich nicht vermittelbar. Was hatte ich ihm zu erzählen? Ich war in einem leeren Haus gewesen. Hatte ein zurückgelassenes Gemälde gefunden. Ich hatte einen Lehrer, seine Frau und seine Familie getroffen. Das alles war so interessant wie die Schulaufsätze, die man in seiner Kindheit schreibt: »Was ich am Wochenende gemacht habe.« Ich hatte den Eindruck, weniger von meinen Erlebnissen zu berichten, als meine Symptome zu beschreiben. Brians Antwort bestand in einer Diagnose, die kaum Hoffnung machte.

»Du lieber Gott, Jack«, sagte er. »Was soll das alles für einen Sinn haben?«

»Sag ich nicht«, erwiderte ich. »Egal, wie sieht’s bei dir aus?«

Ich glaube, Brian war erleichtert, wieder über die Realität sprechen zu dürfen. Buster betrachtete mich vom Boden aus, als würde er Brians Meinung über mich teilen.

»Meece Rooney«, sagte Brian. »Kennst du den?«

»Meece? Den kenne ich.«

»Tja, du hast ihn gekannt«, sagte Brian. »Er ist tot.«

»Du meinst, das war er? Der Tote auf der Brache?«

»Meece Rooney. Hör zu. Jemand hat behauptet, er hätte Medizin studiert. Weißt du was darüber?«

»Meece hat’s ungefähr einen Monat lang auf der Uni ausgehalten«, sagte ich. »Dann fand er, es müsse schnellere Wege der Selbstfindung geben. Wenn Meece behauptet hat, er habe Medizin studiert, meinte er, dass er das Etikett auf der Hustensaftflasche gelesen hat.«

Ich zuckte mit den Schultern. Trauer kann egoistisch sein. Ich hatte nichts gegen Meece. Nichts gegen ihn gehabt. Im allgemeinen Vergleich mit anderen lästigen Personen, war er nicht die schlimmste gewesen, mit der man es zu tun bekommen konnte. Der Daumen zeigte fast nach oben. Soweit ich wusste, war er eher Opfer als Täter gewesen. Ein Fantast, der beschlossen hatte, seine Fantasien mit Heroin zu sublimieren. Aber wenn der Tod meines Bruders schrecklich war, warum dann seiner nicht? Er musste ebenso für jemanden Anlass zur Trauer liefern.

»Er hat gedealt, weißt du«, sagte Brian.

Der Daumen ging runter. Sich auf den Weg in die Hölle zu machen ist das eine. Den allgemeinen Verkehr dorthin umzuleiten etwas ganz anderes.

»Ich habe den Kontakt zu ihm verloren«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass er gedealt hat. Ist aber natürlich logisch. Was hast du noch?«

»Nicht viel bis jetzt. Wir haben ihn bis in eine Einzimmerwohnung in Hyndland zurückverfolgt. Angeblich hat er dort mit einer Frau zusammengewohnt. Übrigens hat der Bericht aus der Pathologie ergeben, dass er sich wohl erst vor Kurzem den Arm gebrochen hat. Die Nachbarn sagen nicht viel. Wir wissen noch nicht, wie sie heißt. Aber anscheinend war sie auch auf dem Zeug. Und jetzt ist sie nicht mehr da. Ihre Klamotten auch nicht. Auf einer der ungespülten Tassen war Lippenstift. Und Kaffeereste, die noch nicht mal eingetrocknet waren.«

»Du glaubst, sie weiß, wer’s war?«

»Sieht so aus.«

»Dann hat sie sich aus gesundheitlichen Gründen in Luft aufgelöst.«

»Bist ein Genie.«

»Ich denke nur laut nach. Sei kein Klugscheißer.«

»Das hab ich von dir«, sagte er.

»Mag sein, dass du’s von mir hast, aber ich hab’s dir nicht beigebracht. Trotzdem interessant. Zumindest grenzt es den Fokus ein bisschen ein.«

»Was meinst du?«

»Na ja, mit einem Junkie hat man Probleme, oder? Junkies verstehen was von schlechter Gesellschaft. Und davon gibt es da draußen jede Menge. Ihre Beweggründe sind Eintagsfliegen. Manchmal sterben sie, noch keine vierundzwanzig Stunden nachdem sie das Licht der Welt erblickten. Das macht ihre Motive so schwer nachvollziehbar.«

»Mh-hm.«

»Aber so wie Meece gestorben ist, scheint der Mord geplant gewesen zu sein. Jeder Finger einzeln gebrochen, das spricht nicht gerade für Spontanität. Das heißt, vielleicht wurden ihm Fragen gestellt. Oder ein besonderes Tötungsritual durchgezogen. Auf jeden Fall war es durcharrangiert. Und das Verschwinden der Frau bestätigt das. Vielleicht wusste sie, was passieren würde oder dass etwas passiert war, und sie hatte Todesangst. Und sich deshalb aus ihrem alten Leben verabschiedet.«

»Und?«

»Ist nur eine Vermutung. Aber du brauchst Informanten. Was ist die größte Angst eines Süchtigen?«

»Dass ihm der Stoff ausgeht.«

»Korrekt. Wer ist für diese Leute Gott?«

»Derjenige, der ihnen welchen beschafft.«

»Ich glaube nicht, dass du nach einer verlorenen Seele suchst, die mal einen schlechten Tag hatte. Ich denke, du suchst wichtigere Leute.«

Ich wusste nicht, ob Brian aus Ehrfurcht vor meinem forensischen Genie schwieg oder weil ihn meine Ausführungen eingeschläfert hatten.

»Na ja«, sagte er. »Danke, dass du uns so ausführlich erklärt hast, was wir bereits wissen.«

Wir lachten.

»Dafür müsstest du auf der Polizeischule schon mal die Mindestpunktzahl bekommen.«

Wir redeten noch ein bisschen weiter, aber nicht mehr über dieses Thema. Brians Reaktion hatte meine Befangenheit durchlässig gemacht. Die Probleme anderer scheinen so viel einfacher als die eigenen. Vielleicht hatte es mir Spaß gemacht, in Bezug auf Meece Rooneys Tod den Detective raushängen zu lassen, weil ich den von Scott nicht einmal ansatzweise verstand. Wie ein Mann im Krieg, der sich mit einer Partie Schach ablenkt. Ich hatte mich auf einen Fall gestürzt, der für mich rein abstrakt war. Dabei hatte ich das gar nicht gewollt. Ich hatte meine eigenen Sorgen. Was hatte ich überhaupt mit Meece am Hut? Er war Brians und Bobs Problem. Und so sollte es auch bleiben.

»Okay«, sagte Brian. »Ach übrigens, Bob Lilley sagt, wenn du keine Anfälle mehr hast, hätten wir dich gerne dabei.«

»Gut«, sagte ich. »Sag ihm, wenn er ab und zu mal einen Anfall hätte, würde mir das Hoffnung machen. Es wäre Beleg dafür, dass er am Leben ist. Sag ihm, er könnte bei Madame Tussauds einziehen, ohne dass jemand was merkt.«

»Ich komme mir vor wie eine Valentinskarte«, sagte Brian, »wenn ich so viele liebevolle Botschaften übermitteln soll.«

»Tschüs«, sagte ich.

Ich legte ziemlich laut auf und Buster knurrte mich an, stellte seine Dobermannohren auf.

»Halt die Klappe, Buster«, sagte ich. »Die Welt steht Schlange, um auf mich einzudreschen, und du kommst als Letzter dran. Wir sehen uns später.«

Wir starrten einander an. Einer der Vorteile von großen Sorgen ist, dass einem kleinere Probleme unwichtig erscheinen. Alles eine Frage der Perspektive. Ich hatte das Gefühl, Buster heftiger beißen zu können als er mich.

Fremde Treue

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