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AUFGEWACHT MIT RODEO IM KOPF. Spaß haben tut weh, stimmt’s? Dabei ging’s gestern Abend weniger darum als um Betäu bung mit Whisky. Langsam ließ die Wirkung nach und die Schmerzen wurden schlimmer. Wie immer.

Ich habe diesen Tag nicht gewollt. Wer hat ihn bestellt? Versucht’s doch nebenan. Ich vergrub mich ins Kissen. Sinnlos. Ein schlafloses Kissen. Wie nennt man so was noch mal? Hypallage? Meine Lehrer. Haben mir alles beigebracht, was ich nicht wissen muss.

Ich stand auf und begab mich auf Schmerztablettensafari. Viele Möglichkeiten gab es nicht, wo welche sein konnten. Im Schlafzimmer, unwahrscheinlich. Blieben das Wohnzimmer, die kleine Küche, der Flur und das Bad. Wobei der Flur schon mal ausschied. Da war nichts, worin man sie hätte aufbewahren können, es sei denn, ich hatte sie heimtückisch unter dem Teppich versteckt. Küche und Bad waren am wahrscheinlichsten. Kombinieren und schlussfolgern. Zum Glück war ich ein guter Detective.

Ich suchte in Schränken mit alten Rasierklingen und mehr Geschirr, als ich jemals benutzen würde, fand meine Zauberpillen dann aber im Wohnzimmer hinter den Türmchen mit dem Kleingeld, das ich so ungern in den Taschen behielt. Ich holte mir ein Glas Wasser und schluckte zwei, wobei ich gleich das Gefühl hatte, das sei nicht genug – als würde man zwei Anwärter von der Polizeischule aussenden, einen Aufstand niederzuschlagen.

Ich setzte mich ins Wohnzimmer. Allmählich kehrte meine Erinnerung zurück, was mir gar nicht recht war, denn schon ging es wieder los. Ich heulte. Ungefähr seit einem Monat immer dasselbe. Jeder neue Tag begann mit Tränen. Andere Menschen machten Gymnastik. Ich heulte. Nichts Dramatisches, keine herzzerreißenden Schluchzer. Nur stille und unerbittliche Tränen. Sie ließen einfach nicht von mir ab. Zum Glück dauerte es nicht lange.

Nach ein paar Minuten war’s vorbei. Ich wischte mir mit der Hand übers Gesicht und stand auf. Immerhin war heute der Tag, an dem ich endlich etwas dagegen unternehmen wollte. Mindestens eine der beiden Personen, denen ich von meinem Vorhaben erzählt hatte, hielt mich für verrückt. Ich habe nie behauptet, es nicht zu sein – allerdings bin ich auch nicht verrückter als andere. Solange wir Berichte von schweren Unruhen frühstücken und vor dem Zubettgehen Bilder nationaler Katastrophen wie Schlaftabletten zu uns nehmen, soll mich niemand für nicht ganz richtig im Kopf erklären.

Ich ließ mir eine Badewanne ein und legte mich hinein, als wäre Waschen kein rein physisches Ritual. Heile mich, heiliges Wasser, und bereite mich auf die Dinge vor, die da kommen mögen. Ich glaube nicht, dass es funktionierte, aber das heiße Wasser tat meinem Kopf gut. Während ich den Whisky ausschwitzte, ging der Pesthauch meiner Gedanken in den aufsteigenden Wasserdampf über und hob sich wie ein Nebelschleier.

Vielleicht hatte Brian doch ein bisschen recht. Ich war zwar nicht verrückt, aber möglicherweise dumm. Wir hatten eine Leiche. Aber hatten wir auch ein Verbrechen? Wenn ja, dann keins, das sich in den Gesetzbüchern fand. Andererseits glaube ich sowieso nicht so richtig an die Bücher. Mr Bumble hat sich geirrt. Das Gesetz ist kein Esel. Viel schlimmer. Das Gesetz ist ein hinterhältiges Arschloch. Es weiß genau, was es tut, keine Angst. Es wurde extra so angelegt.

Ich habe oft genug mitbekommen, wie das funktioniert – die Verwirrung des Beschuldigten wächst, während sich das juristische Possenspiel um ihn herum entfaltet. Man kann sehen, wie sein Blick trübe wird, Panik ihn überfällt und er schließlich kapituliert. Er kann seine vermeintliche Tat nicht mehr erkennen. Nur die anderen wissen noch, wovon die Rede ist. Es ist ihr Spiel. Und er ist der Ball.

Ich war bei Verhandlungen, bei denen ich den Angeklagten auf die Bank gesetzt hatte und schon nach fünfzehn Minuten am liebsten aufgestanden wäre, um das Wort zu seiner Verteidigung zu ergreifen. »Hört mal«, hatte ich schreien wollen, »ich habe diesen Mann auf der Straße gefasst, wo er lebt. Wart ihr da überhaupt schon mal?« Aber sie fuhren mit ihrer Privatparty fort, lauschten Präzedenzfällen wie Lieblingssongs, übten sich in Wortspielereien, spendeten sich gegenseitig Beifall. Ab und zu wurde inmitten des Kauderwelsch die Stimme des Beschuldigten vernehmbar, leise, sehnsüchtig und meist seltsam, wie eine mit schottischem Akzent vorgetragene lateinische Rede. Erbärmliches menschliches Fleisch, gebrechlich und voller Sommersprossen, lugte durch einen Riss im Hermelin gewand und wurde schnell wieder verdeckt. Wer stört hier unser kleines Moralitätenspiel? Der Kerl kennt nicht mal den Text.

Diese Richter, dachte ich, während das Wasser abkühlte. Ich erledige einen Großteil meines Nachdenkens in der Badewanne. Vielleicht gehörte das zu den Vorteilen einer Mietwohnung ohne Dusche. Richter aber waren der wirklichen Welt so nahe wie der Dalai-Lama. Sie hatten kaum Ahnung von der alltäglichen Tretmühle der Menschen, über die zu urteilen sie sich anmaßten, von einer verständnisvollen Einsicht ins menschliche Herz ganz zu schweigen. Ein ums andere Mal donnerte eine gereizte Stimme vom Olymp und stellte eine Frage, die fassungslos machte: »Ein Transistor? Was genau meinen Sie damit?«

»UB40? Ist das eine naturwissenschaftliche Formel?«

»Keine naturwissenschaftliche, Euer Ehren. Eine amtliche. Ein Antragsformular auf Arbeitslosenhilfe.«

»Ein Antrag auf Arbeitslosenhilfe? Und was soll das sein?«

Wenn man ihrem Klub beitreten wollte, musste man dann sein Gehirn am Eingang abgeben? Welche seltsamen, in Port getränkten und Vorurteilen marinierten Köpfe steckten unter diesen Perücken?

»Anwälte«, sagte ich zur Badezimmerdecke. Wer kann ihnen vertrauen? Sie stopfen sich Verbrechen in die Brieftaschen und erklären sich selbst zu Säulen der Gesellschaft. Ihre Honorare sind der reinste Steuerbetrug, aber wer wollte sie drankriegen, wenn nicht sie selbst? »Ein ausgezeichneter Anwalt« war eine Formulierung, die ich oft zu hören bekam. Das war zutreffend, wenn nicht mehr gemeint war als Geschick bei juristischen Spielchen. Aber was bedeutete sie wirklich? Intelligenz ist ein geschlossener Schaltkreis. Und sollte auf keinen Fall einer bleiben. Holt man Anwälte von der Bühne, die der Gerichtssaal für sie ist, wissen viele von ihnen Tränen nicht mehr von Regen zu unterscheiden.

Man kann wohl sagen, dass ich mir in Bezug auf meinen Job allmählich keine Illusionen mehr machte. Ich stieg aus der Wanne und zog den Stöpsel, wischte jede Andeutung einer Gezeitenmarke weg, noch während das Wasser abfloss. Die Technik hatte ich mir angeeignet, seit ich alleine wohnte. Dadurch war die Wanne leichter zu reinigen. (Laidlaws praktische Haushaltstipps für alleinstehende Männer: Erste Auflage in Vorbereitung.)

Ich trocknete mich ab. Nackt wie ich war, missfiel mir mein zunehmend schwabbeliger Bauch. Mit Klamotten war’s nicht so schlimm. Außerdem zog man ihn sowieso meist ein, zwängte sich in ein Korsett der Eitelkeit. Im Badezimmer betrachtete ich meinen Nabel und fand ihn größer, als mir lieb war. Ach, die gute alte Zeit, als ich noch ein Haus verschlingen und eine Brauerei trinken konnte und mein Bauch trotzdem einem unverbiegbaren Brett glich.

Andeutungen von Sterblichkeit wölbten sich unter dem Handtuch hervor. Früher schien ich für die Ewigkeit gemacht. Früher spielte früher kaum eine Rolle. Mein Leben war ein unentdeckter Kontinent und ich der einzige Forschungsreisende. Und was hatte ich gefunden? Äh, na ja, das Leben ist … durcheinander. Gebt mir noch ein paar Jahre, dann komme ich dahinter. Aber wie viele Jahre habe ich noch? Neuerdings vergingen sie so schnell. Als würde man kurz innehalten, eine Sicherung reparieren und eh man sichs versah, war schon wieder ein Jahr vorbei.

Ich erinnere mich, irgendwo eine Theorie darüber gelesen zu haben, warum die Zeit schneller vergeht, je älter man wird. Im Kern lautete sie folgendermaßen: wenn man zehn ist, ist ein Jahr ein Zehntel des eigenen Lebens; ist man vierzig, ist ein Jahr ein Vierzigstel des eigenen Lebens. Und ein Vierzigstel ist viel weniger als ein Zehntel. Ich war über vierzig. Die Stellen hinter dem Komma auszurechnen war mir zu mühsam. Aber das Prinzip leuchtete mir ein.

Trotzdem war es seltsam. Das Bewusstsein meiner Sterblichkeit gab mir Auftrieb. Ein psychischer Adrenalinschub durchzuckte mich und verjagte die letzten verbliebenen Nebelschwaden aus meinem Kopf. Wenn man seinen Erfahrungen treu bleibt, braucht man das Alter nicht fürchten. Es bringt einen dem Verstehen näher. Und das hatte ich immer gewollt. Mal sehen, ob es mir glücken würde.

Ich zog eine frische Unterhose an. Es fängt im Kleinen an … ich legte eine neue Klinge in den Rasierer. Drückte Schaum aus der Dose in die Hand. Seifte meine Wangen ein, mein Kinn, meine Oberlippe. Den Schnurrbart von neulich hatte ich wieder abgeschafft. Man hatte mir den Polizisten damit zu deutlich angesehen – er gehörte zum Standard, wie der Dienstausweis. Ich blickte in den schmalen runden Spiegel wie in ein Bullauge und ein schwimmendes, weißbärtiges Gesicht starrte zurück. Hoffentlich würde ich auch die entsprechende Weisheit besitzen, wenn ich erst einmal so alt war, wie ich aussah.

Als ich meinem verschwommenen Gesicht mit der Klinge Kontur gab, rückte mit meinem Kinn auch das Bevorstehende in den Blick. Ich hatte eine Woche. Ein Monat war vergangen, seit etwas sehr Schlimmes passiert war, und die Zeit hatte ich gebraucht, um mir diese Woche vom Polizeidienst freizunehmen, zumindest vom offiziellen. Ich hatte mir meinen Arbeitsurlaub verdient.

Ich wollte ermitteln, aber auf meine Art. Seit meinen Anfängen bei der Glasgower Polizei hatten mich meine Vorgesetzten einhellig als »eigenbrötlerisch« bezeichnet, als hätten sie es aus meiner Akte abgelesen. Fast war es zu einer Ergänzung meines Rangs geworden. Jack Laidlaw, Eigenbrötler. Na ja, sie hatten recht. Ich bin ein Eigenbrötler. Ihnen war gar nicht klar, wie sehr. Wenn ich schon für Anwälte nicht viel übrighatte, dann für Polizisten noch weniger. Seit Jahren arbeitete ich gegen mein innerstes Wesen an.

Wie oft hatte ich das Gefühl, den Falschen zu dienen? Wie oft den Eindruck, die schlimmsten Ungerechtigkeiten entsprangen nicht persönlichen, sondern institutionellen, finanziellen oder politischen Umständen? Das Verbrechen hinter dem Verbrechen hatte mich schon immer fasziniert, das unantastbare Netz aus legal verankerter sozialer Ungerechtigkeit, auf die der jeweilige Fall kraftlos verweist.

Ein Pariser Graffiti hatte einmal gelautet: »Zeigt man mit dem Finger auf den Mond, sieht der Trottel nur den Finger.« Vielleicht hatte ich jetzt lange genug auf den Finger geschaut.

Meine Ausflüchte ruhten, meine persönlichen Harpyien verdarben mir mein Selbstwertgefühl und machten sich über meine bisherige Tätigkeit lustig. Wenn ich schon Detective war, dann wollte ich jetzt endlich etwas aufdecken. Es wurde Zeit, einen Gang höher zu schalten und das Beste aus meinen Fähigkeiten zu machen.

Denn ich war mit einem Tod konfrontiert, den ich begreifen musste. Ein Fall, dem ich zwar mit polizeilichen Methoden nachgehen konnte, nicht aber in polizeilichem Auftrag. Ermittler, ermittle gegen dich selbst. Ein Mensch war tot. Einer, den ich vermutlich mehr geliebt hatte als irgendjemanden sonst.

Niemand hatte von einem »Verbrechen« gesprochen. Aber sein Sterben schien mir ungerecht, vor Sinnlosigkeit strotzend, wie ich es selten erlebt hatte. Und ich hatte viel erlebt. Dieser Mensch hatte voller Potenzial gesteckt, war so lebendig gewesen und hatte seinen sinnlosen – sind sie das nicht alle? – Tod so wenig verdient. Das wusste ich.

Und ich musste es wissen. Er war mein Bruder.

Es klingelte an der Tür. Das Geräusch veränderte die Bedeutung meiner Gedanken. Sich psychisch zu wappnen und damit zu drohen, eigene Erfahrungen mental zu verrechnen, ist das eine. Geistige Selbstbeweihräucherung aber in Geschehen umzusetzen, die Intensität der eigenen Gefühle gegen die Fakten anzuführen und abzuwarten, was sich daraus ergibt, ist etwas ganz anderes. Ähnlich wie der Unterschied zwischen einem Trainings- und einem Meisterschaftskampf. Der Gong verkündet: »Ring frei!« Du bist auf dich allein gestellt. Die Nähe einer anderen Person verdeutlicht dies nur.

Ich latschte barfuß mit Rasierschaum an den Ohren und auf der Oberlippe zur Tür. Dabei überfiel mich eine kleine Offenbarung: die Welt ist gefährlich. So leben wir heutzutage. Die von mir gemietete Wohnung befand sich in einem alten sanierten Wohnblock. Als er gebaut wurde, konnte jeder das Haus von der Straße durch die Tür betreten. Jetzt war das anders. Die Haustür unten war verschlossen. Man musste auf eine Klingel drücken. Jemand musste einen Hörer abnehmen. Wurde man erkannt, ertönte der Summer. Man trat ein und ging zur Wohnungstür. Ließ sich durch einen Spion betrachten. Bestand man den Test, ging die Tür auf.

Es war ein Wohnblock am Rande von Glasgow, nicht das Schloss von Otranto. Wer hier lebte, besaß nicht viel, das zu stehlen sich lohnte. Vielleicht einen Videorekorder. Wir hatten Angst vor uns selbst. Es gab mal eine Zeit, in der Männer und Frauen stolz waren, jemandem die Tür zu öffnen. Was war mit uns geschehen?

War das relevant für den Tod meines Bruders? Mir kam es vor, als sei möglicherweise alles relevant. Ich legte meine Hand aufs Telefon. Herein, fremde Welt. Ich werde dich genauer im Auge behalten als je zuvor. Dann nahm ich den Hörer ab.

Fremde Treue

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