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Fernsehen als Sinnstiftung

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Natürlich geht Gerbners Gleichsetzung des Fernsehens mit der Religion sehr weit und ist aus heutiger Sicht vielleicht auch gar nicht mehr so zielführend. Die Kernthese jedoch erscheint mir immer noch stimmig und ebenso auf moderne Formen von digitalem Bewegtbild erweiterbar: Die Geschichten, die wir unserem Publikum erzählen, tragen ihren Teil zur Sinnstiftung, zur Ritualisierung und zur Weltsicht bei. Im Positiven wie im Negativen. Das heißt nicht, dass eine Aussage aus einer Serienepisode eins zu eins übernommen wird. Aber sehr wohl, dass der jahrelange Konsum von zwei oder drei Lieblingsserien durchaus zu einer Beeinflussung des Bewusstseins durch Aneignung und Abgrenzung führen kann. Fällt der gewohnte Input weg wie bei unserem »Vier Wochen ohne Fernsehen«-Experiment, entsteht eine Art soziale Unordnung. Als heutiges Äquivalent möge man vier Wochen Netflix-, YouTube- oder Facebook-Entzug einsetzen. Wie könnte man angesichts dieses Befunds unsere Verantwortung für die von uns verbreiteten Bilder und Geschichten negieren?

Ich habe mich nie davor gedrückt. Nach der prägenden Erfahrung von Holocaust dauerte es nicht mehr lange und ich war mir sicher, dass ich dorthin wollte, wo in meinen Augen die wahre Wirkungsmacht lag – in die fiktionale Unterhaltung, und zwar bevorzugt in deren breitenwirksamen Teil. Am ausgeprägtesten habe ich die damit verbundene Verantwortung gespürt, als ich viele Jahre später zum Daily-Soap-Produzenten wurde. Mit täglichen Formaten wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Unter uns, Alles was zählt oder Verbotene Liebe standen wir quasi im Auge des Orkans. Denn gerade solche Programme für die jüngeren Zielgruppen mit einer hohen Bindungskraft erfüllen der Medienforschung zufolge ein Stück Lebenshilfe für Jugendliche und junge Erwachsene: Das Studieren von Rollenbildern und Verhaltensweisen auf dem Bildschirm dient der Orientierung oder Abgrenzung. Soaps machen der jeweiligen Zielgruppe das Angebot, grundlegenden Fragen des Lebens nachzugehen. Ihre zumeist jungen Charaktere meistern Probleme, mit denen sich das Publikum identifizieren kann. Die Faszination, die GZSZ & Co. auf die Zuschauer ausüben, hat ganz wesentlich mit der Authentizität der Figuren und der dargestellten Konflikte zu tun. Ihre Glaubwürdigkeit beziehen die Programme aus der Abbildung der Lebenswelten der Zuschauer. Die Tatsache, dass wir anfangs noch teilweise Laiendarsteller einsetzten, hat hierbei nicht gestört, sondern den Effekt eher noch gefördert. Auch für die märchenhafteren Formate – die Telenovelas, die die UFA ab 2004 erfolgreich im deutschen Fernsehen etablierte – gilt ein ähnlicher Mechanismus. Am Beispiel unserer Sat.1-Serie Verliebt in Berlin ließen wir das Rheingold-Institut in einer tiefenpsychologischen Studie die Magie der Hauptfigur Lisa Plenske erforschen, die sich über 364 Folgen vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan entwickelte. Das Ergebnis: Die überwiegend weiblichen Zuschauerinnen projizierten sich stellvertretend in die Figur hinein, um den Vorgang der Veränderung, des Wandels, des Sich-selbst-Gestaltens bewusst zu erleben.

Viele junge Menschen – das bekam ich immer widergespiegelt – betrachten also das Unterhaltungsfernsehen wie eine Art topografische Landkarte des Lebens und nutzen es als Probebühne für ihr eigenes Verhalten. Mit allen Höhen und Tiefen, mit Enttäuschungen und Erfolgen, mit Liebe und Leid. Diese Landkarte soll Orientierung und Navigation ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass die Bedeutung der Medien, allen voran TV und Internet, als Agent der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen über die vergangenen Jahrzehnte erheblich zugenommen hat. Und zwar in dem Maße, in dem die gesellschaftlich akzeptierten Institutionen wie Familie, Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften ihre vormalige Funktion als gesellschaftliche Anker einbüßen. Indem Eltern, Lehrer, Pfarrer und Politiker an Autorität verlieren, suchen sich Heranwachsende logischerweise neue Vorbilder und Maßstäbe. Da kommen wir mit unseren täglichen Serien oder auch den Casting-Shows ins Spiel. Über Grenzen und Grenzüberschreitungen haben wir innerhalb von UFA und Fremantle regelmäßig diskutiert. Daraus resultierte der Anspruch »Inspiring Entertainment«, der der UFA bis heute als Claim dient. Gemeint ist damit das Ziel, unseren Zuschauern etwas zu bieten, was sie inspiriert und bewegt. Programme, die in sich werthaltig sind und Sinn stiften. Mehr als einmal musste ich mich fragen lassen, wie denn etwa Dieter Bohlen mit diesem Anspruch zusammenpasse. Ausgerechnet Bohlen als moralische Anstalt der Nation? Als Vorbild für junge Zuschauer im Umgang mit Mitmenschen? So verständlich ich diesen Reflex fand, so sehr ist er doch Ausdruck von eindimensionalem Denken an der Realität vorbei. In Wahrheit ist die überwiegende Mehrheit der Heranwachsenden viel differenzierter in ihrer Wahrnehmung, als mancher Erwachsene glaubt. Verschiedene Studien zeigten uns im Laufe der Jahre, dass es mindestens drei Arten gibt, auf Casting-Shows wie Deutschland sucht den Superstar oder Das Supertalent zu reagieren: Es gibt Jugendliche, die Bohlens Sprüche am nächsten Tag in der Schule unreflektiert wiederholen und sie sich zu eigen machen. Es gibt Jugendliche, die seine Sprüche als Unterhaltungselement cool finden, Bohlen aber niemals als Maßstab eigenen Handelns anerkennen würden. Und schließlich gibt es auch eine Gruppe von Jugendlichen, die nicht einverstanden ist mit der Art und Weise, wie mit einzelnen Kandidaten umgegangen wird. Ehrlich gesagt, hatte ich manches Mal den Eindruck, dass Dieter Bohlen selbst nicht immer wusste, mit welcher seiner Bemerkungen er den Rubikon des Vertretbaren überschritt. Die Zuschauer wussten es dagegen schon. Abgesehen davon, dass Bohlen – auch auf unser Zuraten hin – längst milder geworden ist, funktioniert seine Figur also durchaus als eine Art Anti-Held, an dem sich junge Menschen abarbeiten und einen eigenen Weg im Umgang miteinander finden können. Auch eine Funktion von Unterhaltungsfernsehen.

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