Читать книгу Ich locke dich - Wolf L. Sinak - Страница 10
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ОглавлениеSeit einer viertel Stunde saßen Jens und Steffi vor der Hütte der Zirmaitalm, umgeben von Kühen mit schweren Glocken an den Hälsen, zwei Stunden Aufstieg vom Hanserhof in Spiluck entfernt. Steffis Gesicht steckte hinter der Videokamera. Sie hatte gesagt, einen Heimatfilm drehen zu wollen, und ihn gedrängt, pathetisch in die Ferne zu blicken. Jens lehnte sich auf der Bank zurück, deren Holz rissig und grau vom Gebirgswetter war, und blickte hoch zur Karspitze. Oben war der Berg leicht geweißt und zusammen mit der Sonne das einzige Objekt am blauen Himmel.
Pathetisch zu blicken fiel Jens nicht schwer, das Zimmerproblem war dank einer Stornierung gelöst, Steffis Zimmer lag sogar neben seinem, und sie beide waren im BMW angereist, weil am Freitagabend ein steifhalsiger Rentner im Rückwärtsgang die Fahrertür von Steffis parkendem Corsa leicht eingedrückt hatte.
Als die Szene abgedreht war, zog Jens aus seinem Rucksack die Creme fürs Gesicht. Dabei bekam er den Beutel zu fassen, den Steffi heute Morgen eingepackt hatte.
„Was ist da drin?“, fragte er.
„Wurst und Honig vom Frühstücksbüfett. Denn ich esse keinen Graukäse, den es hier oben geben soll.“
Er spürte den Hauch eines Schauers auf seiner hellen Haut, der die Arme hinauf zu den Schultern huschte und am Rücken wieder hinablief, wie gewöhnlich, wenn das Wort Honig oder Marmelade fiel.
Stampfend kam eine Kuh so nah heran, dass Jens seine Füße vorsichtshalber einzog. Steffi konnte die Kamera nicht schnell genug anschalten. Sie legte sie nieder, nahm ihm die Creme und den Honig aus der Hand, stellte sich hinter ihn und rieb seinen Nacken ein. Beiläufig erschrocken sagte sie: „Sorry, ich habe versehentlich den Honig erwischt …“
Jens katapultierte von der Bank hoch, hob die Arme und wusste nicht, was er augenblicklich tun sollte; am liebsten wäre er in einen See gesprungen. Das Gefühl von Klebrigkeit kam so stark, dass er an spröde Kratzwolle denken musste – die übelste Kleb-kratz-Kombination, die das Potential zum Wahnsinn hatte, auch wenn sein T-Shirt nur aus dünner Baumwolle bestand. Diese Vorstellung war zwanghaft und bei ihrer Umsetzung in die Realität so erbarmungslos, dass er nicht ausschließen konnte, selbst jemandem wie Steffi das Köpfchen um die eigene Achse zu drehen.
Er schnaufte schwer, und in seinem Inneren brüllte er sie an, es nicht zu weit zu treiben, wenn sie beim Almabstieg nicht chronisch bergauf schauen wollte.
„Nimm das Mineralwasser und reib den Mist ab, gründlich!“ In der Verzweiflungshaltung eines Geteerten und Gefederten stand er da, die Sehnen der ausgestreckten Arme wie Klaviersaiten gespannt, einer Vogelscheuche ähnlich. Obwohl es eine folgerichtige und gängige Reaktion seines Körpers war, beobachtete er verblüfft, wie an den Unterarmen eine Gänsehaut erblühte und sich ausbreitete, als würde er Zeuge der eigenen Transformation zum Federvieh. Ihm gelang es, ein Lächeln freizukämpfen, das sich anfühlte, als verliefen die Lachfalten in die falsche Richtung. Steffis heruntergeklappter Unterkiefer bewegte sich erst wieder, als sie sprach.
„Langsam, langsam, das war nur ein Scherz. So harmlos wie Senf in einem Pfannkuchen.“
„Harmlos?“
„Ja! Soll ich einen Rettungshubschrauber kommen lassen?“
Der Senner der Zirmaitalm, ein alter Mann in schwerer und abgeschabter Lederhose, die vermutlich seit Generationen in Familienbesitz war, lehnte drüben an der Hütte und amüsierte sich über das Treiben.
„Ich bin dir eine Erklärung schuldig“, sagte Jens, nachdem sein Blutdruck wieder unten war. „Ich nehme an, schuld sind meine empfindliche Haut und die unzähligen Sonnenbrände, die ich von klein auf hatte. So ist das bei Rothaarigen. Wenn andere Kinder im Schwimmbad in der Sonne lagen, setzte ich mich abseits unter einen Baum. Aber das hielt ich nicht durch und gesellte mich wieder zu ihnen. Abends dann auf dem Nachhauseweg brillierten die anderen mit ihrer Bräune, und ich schlich nebenher wie das Opfer eines Bodypainters, der sich im Rotton vergriffen hat. Und in der Nacht war mir, als nisteten Feuerquallen auf meiner Pelle. Im Winter wurde ich gezwungen, einen Pullover zu tragen, den meine Großmutter aus Stacheldraht gestrickt haben musste, denn ich brauchte keinen Sonnenbrand mehr, um die Farbe einer Tomate anzunehmen. Seitdem kommt nur noch Baumwolle infrage, und wenn es kalt ist, werden die Hemden auf den Heizkörper gelegt, bevor sie mich berühren dürfen.“ Jens machte eine Pause. Er sprach nicht gern über das Thema, er war überzeugt, dass ein vorm Ertrinken Geretteter auch lieber an Berge dachte als ans Meer. „Um die Idiotie auf den Punkt zu bringen, erzähle ich dir jetzt von der schlimmsten Folter, die man mir antun könnte …“
Steffi stellte die Videokamera an. Jens beschloss, die Szene später zu löschen. Er holte tief Luft:
„Es muss sich verrückt anhören, aber ich liege gefesselt in der Sahara bei fünfzig Grad und bin nackt. Nach ein paar Stunden, wenn mir die Haut in Fetzen herunterhängt und ich schweißnass bin, kommt jemand und schmiert mich mit Marmelade oder Honig ein. Dann werde ich in einen superengen, tiefgekühlten Overall aus Wolle von alpinen Bergschafen gesteckt, darüber einen dicken Militärmantel, Tornister und Gasmaske darauf und ab geht es zu einem Gewaltmarsch durch die Wüste, sagen wir zehn Kilometer.“
Steffi setzte die Kamera ab und fing an zu lachen. Jens auch, aber nicht so herzhaft. Seine Erzählung hatte die Gänsehaut knusprig gehalten und in seinem Inneren köchelte noch der Schock wegen der angeblichen Honigcreme.
„Manchmal habe ich das Gefühl, keine Gänsehaut, sondern Noppen am Leib zu tragen“, sagte er und war der Meinung, dass es jetzt reichte mit diesem Thema. Er nahm sein Handy und erklärte, in der Praxis anrufen zu müssen. „Mal sehen, ob die schon den Laden ruiniert haben.“
„Bitte nicht jetzt. Ich drehe einen Heimatfilm und keine Dienstbesprechung.“
„Wenn man selbständig ist, verhält es sich in der Freizeit wie mit einer vollen Blase. Man kann nichts vernünftig tun, ohne sie vorher entleert zu haben.“
Aber er wartete mit dem Telefonat bis nach dem Essen, das aus Fladenbrot, selbstgemachter Butter und Graukäse bestand und bei Steffi zum Teil aus ihrer mitgebrachten Ration. Danach begann der Abstieg. Sie traten auf feuchte Stellen im Gras, die ein Bach speiste, der sich nicht festlegte, schmal oder breit zu sein. Steffi trällerte ein Lied. Sie war das erste Mal in Südtirol, und es deutete sich eine Gemeinsamkeit an – ein Faible für dieses Stückchen Erde. Am Samstag hatten sie auf das längst überfällige Du angestoßen, und es sah so aus, als stünde der heutige Abend im Zeichen weiteren Näherkommens. Jens wählte die Nummer der Praxis und hatte Frau Eisentraut am Apparat.
„Wie macht sich Doktor Bunsel?“
„Momentan ist er mit Frau Zarusch beschäftigt. Er hat gestern Abend einen ausgegeben, seinen Einstand. Reichlich übertrieben, finde ich, wegen der zwei Wochen.“
Finde ich auch, dachte Jens. „Was ist das für eine Musik im Hintergrund?“
Frau Eisentraut zögerte. „Damit habe ich nichts zu tun. Doktor Bunsel brachte gestern sein Radio mit und schloss es an die Anlage.“
In Jens stieg Wut auf, schnell und kalt wie Wasser in einem sinkenden Schiff. Aber mit so etwas hatte er bei Bunsel gerechnet. Solange der den Leuten kein Zyankali spritzt, kannst du damit leben, beruhigte er sich. „Sie sprachen von Frau Zarusch, wie geht es ihr?“
„Die Schwellung sieht nicht gut aus. War heute zum zweiten Mal da.“
„Hat sie Bunsel an sich herangelassen?“
„Ja, ich glaube, er hat sie hypnotisiert und das ganz gut hingekriegt …“
„Was hat er?“
Frau Eisentraut sagte leise und unsicher: „Gestern hat er sie hypnotisiert, warum?“
„Er hatte die eindeutige Anweisung, das nicht zu tun.“ Jens kam sich vor wie jemand, dem eben gesagt wurde, dass die sechs Richtigen doch falsch waren.
„Oh …“ Frau Eisentraut machte eine Pause. „Da muss ich noch etwas loswerden: Ihm ist ein Zettel aus der Kitteltasche gefallen, auf dem zahnärztliche Medikamente und Materialien beschrieben sind – sah aus wie ’ne Arbeitsanleitung.“
In Jens’ Brust zog sich eine Schlinge zu. Er sah hinüber zu Steffi, deren Gesicht Sammelpunkt von Sonnenstrahlen war, die vom Nadeldach durchgelassen wurden. So lebenslustig hatte er sie noch nicht gesehen. Sie bemerkte seine Unruhe und fragte:
„Was ist los? Deiner Blässe nach zu urteilen hat die Vertretung Marmelade verschüttet und sie gleichmäßig in der Praxis verteilt.“
Ihr Mund und ihre Augen waren schön, viel schöner als die meisten sechsunddreißig Jahre alten Augen, die er sonst noch kannte. Wie sollte er diesen Augen erklären, dass sie nur noch das von Südtirol zu sehen bekämen, was sie schon kannten, nämlich die Landschaft neben der Straße, diesmal vom Süden nach Norden. Er war gezwungen abzureisen, und möglicherweise knickte er damit den Spross Zweisamkeit ab, der zwischen ihnen gerade keimte. Schöne Praxis, in der Steffi ihre Tochter ausbilden ließ. Gerade machte das ein Zahnarzt, der einen Spickzettel für die routinemäßige Arbeit benötigte.
Jens gab ihr ein Zeichen, sie solle kurz warten, und widmete sich dann Frau Eisentraut mit Anweisungen bezüglich der Patienten. Frau Eisentraut wiederholte präzise ihre Aufgaben, als handetle es sich um einen Angriff im Morgengrauen. Dann ließ er sich Bunsel an den Apparat holen.
„Ich weiß nicht, wer oder was Sie in Wirklichkeit sind, sondern nur, dass Sie etwas Falsches vorgegeben haben. So, und nun verlassen Sie meine Praxis.“
Jens hatte Entrüstung erwartet, stattdessen hörte er nur ein Knacken, als Bunsel auflegte.
Kreihansels Flur sah noch immer aus wie vor zwei Tagen, als Bunsel ihn verlassen hatte. Ein paar Mal war Kreihansel über den Nylonbeutel mit den Bierflaschen gestolpert, den die säuerliche Dunstwolke einer Flaschenreinigungsanlage umgab. Er hüstelte vor Aufregung, völlig anders als mit jenen tief verwurzelten Lauten, die er sonst von sich gab. Frank, den er angerufen und dessen Kommen dringend gemacht hatte, ließ auf sich warten, während der jämmerliche Vorrat an Bier nur noch vier Flaschen umfasste. Er nahm das abgewetzte Stück Rindsleder, das einmal ein Portemonnaie gewesen war, und lud leere Bierflaschen in den anderen, seinen guten Nylonbeutel.
Kreihansel wohnte in Lusan, der Siedlung aus Plattenbauten, und kaufte auch dort ein. Er verließ den Supermarkt und stieß auf den Mercedes seines Neffen, der vor dem Eingang stand. Tiefer gelegt und mit Leichtmetallfelgen der Marke Turbinenschaufel. Kreihansel entging nicht die Erbitterung in Franks Blick, welcher seine Kleidung musterte. Dennoch durfte er einsteigen.
„Wollte schon immer mal in deiner Kutsche reisen“, sagte er und bekam vorgeworfen, dass man nie falsch damit lag, ihn im Getränkemarkt zu suchen. Er musste sich wegen der paar Meter bis nach Hause sogar anschnallen. Nur nicht auffallen war Franks Devise. Ob das mit der schwarzen Sonnenbrille zu bewerkstelligen war, die er im pomadegerippten Haar stecken hatte, bezweifelte Kreihansel. Es erinnerte ihn an einen Mafiafilm, eigentlich an alle Mafiafilme, die er gesehen hatte. Und das Streichholz zwischen Franks Lippen krönte diesen Eindruck.
Kreihansel sah sich das Interieur der E-Klasse genauer an. „Feudale Kulisse. Wenn ich mal krepiere, dann bitte schön unter den Rädern einer solchen Luxuskarre …“
„Hast du deine Zähne im Mund? Du siehst eingefallen aus. Wie ein abgelassener Luftballon.“
„Darüber wollte ich mit dir reden.“
„Hast wohl deine Zahnprothese gegen ein paar Flaschen Fusel getauscht.“
Das sah nicht gut aus, Frank musste beruhigt werden. Kreihansel wusste, dass er viel Kaffee trank. Sie gingen zeitversetzt nach oben, Kreihansel zuerst. Nach dem Schluck aus der Flasche war seine erste Handlung, die Kaffeemaschine zu füllen und den Verpackungskarton unter die Spüle zu stopfen. Das Wasser blubberte bereits hinein, da fiel ihm ein, das fabrikneue Gerät noch nicht gereinigt zu haben.
Frank kam und schien seinen Augen nicht zu trauen. Er spuckte das Streichholz auf den Haufen Müll, der ausgebreitet vor dem umgekippten Abfalleimer lag. „Schweinestall. Was für ein Schweinestall!“
„Setz dich erst mal, hier hat jemand alles durchsucht“, sagte Kreihansel. Franks Gesicht war Emaille. Er machte kehrt und stürzte aus dem Zimmer. Kreihansel hinterher. „Warte, es ist besser, wenn ich von Anfang an erzähle!“ Frank schlug seine Hand weg und betrat das Schlafzimmer, das noch schlimmer verwüstet war als die Küche. Schubladen waren herausgezogen und ausgeschüttet, und der offenstehende Schrank offerierte einen leeren Platz, dort, wo sonst die Kiste mit dem Stoff stand. „Das lange Schwein hat mir fast die Nase gebrochen.“
Mit einer beinahe akrobatischen Drehung sprang Frank herum und drückte ihm den Unterarm gegen den Hals, schob ihn rückwärts an die Wand, wo Schmerz und Luftnot ein Widerlager hatten und den Druck auf ekelhafte Weise in Kreihansels Augen verlagerten.
„Der Zahnarzt hat den Typen geschickt. Hat meine Prothese geklaut und die verdammte Kiste mit dem Stoff.“ Kreihansel japste in seiner typischen Klangfarbe nach Luft, nur das Brodeln fehlte. Frank verringerte den Druck. „Angefangen hatte es damals mit meiner Zahnprothese. Ich sehe nicht ein, für etwas zu blechen, was nicht passt. Zu dieser Auffassung war auch der Staatsanwalt gelangt. In der Küche habe ich das Schreiben bereitgelegt. Aber Klemmer macht seine eigenen Gesetze. Am Samstag hat er seinen Gorilla geschickt, um Geld zu suchen. Der hat alles auf den Kopf gestellt, und weil er die Kiste nicht öffnen konnte, hat er sie mitgenommen. Und meine Prothese.“
Kreihansel bekam Franks Faust vors Gesicht. Er schielte darauf wie auf eine Giftschlange.
„Du kannst froh sein, wenn die Prothese noch in dein Maul passt, wenn das hier vorbei ist. Ich habe dir ’ne Menge Geld gegeben, damit du nicht auffällst und die Bullen anziehst, aber du brauchst entweder ein Kindermädchen oder ein paar Jahre Erfahrung im Knast. Bezahlst die Prothese nicht. Ich könnte dir …“
Wenn Franks Vater nicht an dieser beschissenen Krankheit krepiert wäre, sähen die Fronten anders aus, war Kreihansel überzeugt. Frank wäre ein Familienmitglied wie jedes andere und kein mafioser Pate. Kreihansel brachte fließend vor, was er einstudiert hatte, wie gewalttätig Bunsel bei seinem Raubzug war und dass er, Kreihansel, die Kiste unter Einsatz seines Lebens verteidigt hatte. Über dem Triumph, dass das Interesse an Bunsel Frank elementar beherrschte, vergaß er sogar seine Angst. Die Angst, nun Besitzer der Kiste zu sein, in der drei zugeklebte große Kuverts lagerten, deren schweren Inhalt Frank wie ein Staatsgeheimnis gehütet hatte. Bestimmt ein neuer Stoff, etwas Synthetisches vielleicht. Vom Rest, dem Heroin, dem Crystal Speed und den K.-o.-Tropfen, war nichts mehr in der Kiste. Kreihansel hatte den Rest von dem Zeug abgepackt und schon Freitag in den Park gebracht. In Grünanlagen und in der Nähe von Schulen, wo die Kundschaft wartete, fielen Leute wie er nicht auf. Frank zielte darauf ab, dass die Bullen Pennern das Dealen nicht zutrauten. Zu dieser Erkenntnis über Franks Hinterfotzigkeit war Kreihansel selbst gelangt und mit der Denkleistung hoch zufrieden, auch wenn das gewonnene Wissen ihn erniedrigte.
Sein Neffe war längst gegangen, da trank er einen Schluck des Kaffees, spuckte ihn aus und war froh, Frank nicht auch noch damit aufgeregt zu haben.
Sie frühstückten im Hanserhof. Beim zweiten Bissen, Jens hatte gerade den Mund offen und schaute auf das Honigbrötchen wie auf etwas Lebendes, klingelte sein Handy. Es war unmöglich, Steffi den Gefallen zu tun, ein Honigbrötchen zu essen und gleichzeitig zu telefonieren. Aus dem Konzept gebracht schaute er zu, wie das klebrige Zeug sich auf den Weg zum Abtropfen machte und die Härchen seiner Arme sich aufstellten. Steffi sprang ein und nahm das Handy. Als er sah, wie sie das tat – gelenkig, in einem dünnen, mitatmenden Rollkragenpullover begehrenswerter denn je –, mochte er die Zeit einfrieren, die Momentaufnahme verewigen und danach greifen, wann immer er wollte. Ein erektiles Fünkchen flimmerte in seiner Hose, und er war froh, sich entschieden zu haben, nicht abzureisen und Bunsels Scherbenhaufen vorerst Frau Eisentraut zu überlassen.
„Schlechter Empfang“, sagte Steffi und reichte ihm das Handy.
Jens kam der Empfehlung der Wirtin nach, es draußen auf der Terrasse zu versuchen, wo der Empfang gut war. Frau Eisentraut meldete sich, schnell und abgehackt. Es war der Ton, den sie anschlug, wenn von ihrem Standpunkt aus die Luft brannte. Gewiss störte sie ihn nicht im Urlaub wegen einer falschen Lieferung Watterollen.
„Gerade teilte mir eine Patientin mit, dass vor der Praxis ein Schild hängt. Ich lief sofort hinaus. Schild und Schrift sind so groß, dass man es von der anderen Straßenseite lesen kann …“
„Ich hätte zu gern gewusst, was auf dem Schild steht, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Frau Eisentraut.“
„Setzen Sie sich am besten. Darauf steht geschrieben: Die Praxis ist wegen Wohlstands für unbestimmte Zeit geschlossen. Eine Vertretung gibt es nicht. Für mich steht fest, wer den Schabernack zu verantworten hat. Bunsel.“
„Wie kommen Sie darauf?“ Obwohl dieser Streich am geistigen Horizont eines Lausbuben angesiedelt war, dachte Jens selbst an Bunsel. Er vernahm die schnellen Atemgeräusche von Frau Eisentraut, als hielt sie Mund und Nase direkt an sein Ohr wie jemand, der sich seiner letzten Züge bewusst ist und ein Geheimnis loswerden will.
„Herr Weiß hat vorhin angerufen. Der Patient, dem Sie Brücken empfohlen haben. Er erkundigte sich nach einem Bonus von zwanzig Prozent, den Sie auf Zahnersatz geben würden, falls er sich innerhalb der nächsten Woche dafür entschied. Als ich ihn fragte, wie er auf so etwas komme, antwortete er, dass er deswegen gestern Abend angerufen wurde. Raten Sie mal, von wem …“
„Bunsel bringe ich in den Knast.“
„Wenn er sich Telefonnummern unserer Patienten aufgeschrieben hat, sie anruft und ihnen derlei Blödsinn erzählt, wird die Sache unüberschaubar. So etwas lässt sich nicht vollständig ausbügeln oder was meinen Sie? … Doktor Klemmer, sind Sie noch dran?“
„Weiter.“
„Mir ist noch etwas Seltsames aufgefallen. Frau Zarusch, die mit der dicken Wange, hat eintausend Euro überwiesen und als Grund Vorauszahlung angegeben, einfach so. Ist es möglich, dass Bunsel ihr den Befehl unter Hypnose gegeben hat?“
Was denn sonst, dachte Jens. Hypnose war ein weites Feld, an dessen Rändern so manches Unkraut gedieh. Für einen in Hypnose Ausgebildeten war eine Zahnarztpraxis die Position, in der er kriminelle Schalter umlegen konnte.
„Das glaube ich nicht, Frau Eisentraut, denn die Selbstbestimmung eines Menschen lässt sich nicht komplett ausschalten.“
„Ein Staatsanwalt fehlte uns noch, nicht wahr, Doktor Klemmer?“ Ihre Stimme war wieder klangvoll, offenbar hatte Jens sie beruhigen können. Er selbst wünschte sich jemanden, der das für ihn tat. Für ihn existierte noch ein Problem mehr. Steffi. Ihre Erwartungen erfüllen, die sie ganz sicher von ihm hatte, wollte er so sehr wie seine Praxis vor weiterem Schaden bewahren. Und Erwartungen hegte eine Frau, wenn sie mit einem fast fremden Mann den Urlaub verbrachte, und sei es nur, um herauszufinden, ob es etwas herauszufinden gab. Zum Beispiel, wie verlässlich der Kerl war, der sich später vielleicht um den Posten des Ehemannes und Vaters bewarb, und ob er die läppische Gepflogenheit einhielt, den Urlaub nach dem vierzehnten und nicht schon nach dem vierten Tag zu beenden. Er würde schwer daran kauen, die richtigen Worte zu finden, wenn er zurück ins Gasthaus ging und Steffi statt zur Besichtigung des Klosters Neustift zur Heimreise nach Gera abholte.
Er hörte wieder seiner Helferin zu. „Ich halte dann hier mal die Stellung. Sicher werden noch Patienten anrufen, um irgendeinen Reibach in Form von Prozenten auszuhandeln, oder Hypnotisierte setzen Sie als Haupterben ein.“
Beide lachten gekünstelt und Jens bedankte sich. „Sie haben etwas gut bei mir, Frau Eisentraut. Wir sehen uns morgen früh.“
Ohne einen Einwand bezüglich des abgebrochenen Urlaubs abzuwarten, legte er auf, und sein Lachen verfloss schlagartig. Er wählte Werners Nummer und bat ihn ohne Umschweife um einen Gefallen, da er erst am Nachmittag zurück in Gera sein konnte.
„Wieso zurück? Die Azubi-Mutter hat wohl nicht gewusst, dass du schnarchst? Oder hast du im Schlaf von Marlies gesprochen.“ Werners Lachen ertönte in der Leitung, und Jens stellte sich das verrissene Gesicht dazu vor und den Anteil Glatze, der mitlachte.
„Meine Urlaubsvertretung hat Scheiße gebaut, und ich habe die Befürchtung, wissen zu müssen, wo ihr Wohnsitz ist. Da mir die Adresse unbekannt ist, bleibt mir nur die Autonummer. Alles andere erzähle ich später.“
Jens schwebte das Bild vom Rettungsseil vor. Ein paar elementare Daten von einer Person zu wissen, die seine medizinische Einrichtung vertretungsweise leitete, wäre das Mindeste, das ein Staatsanwalt erwartete.
„Wie komme ich an die Nummer? Wo steht seine Karre?“, fragte Werner.
„Wenn der sich noch in Egert’s Pension aufhält, müsste ein roter Civic davorstehen, mit bayrischem Kennzeichen.“
Jens legte auf und schaute hinunter auf Brixen. Er dachte an Steffi, wie fröhlich sie war. Ein so helles Bild von einer Frau zu haben, angestrahlt von südlicher Sonne und vordergründig wie ein Relief, machte ihn nervös. Es gelang ihm nicht, das Gespräch mit ihr vorzubereiten. Andere Gedanken drangen immer wieder durch wie Flüssigkeit durch ein Löschblatt. Kaum zu glauben, dass jemand wie Bunsel, den er zwar als aufdringlichen, aber fleißigen Kollegen erlebt hatte, Befriedigung aus pubertären Rachespielen schöpfte, ein Schild an die Praxistür hängte und Patienten vorgaukelte, die Zahnarztpraxis wickele ihre Geschäfte wie auf einem Basar ab. Und da gab es Frau Zarusch, welcher er das Rückgängigmachen der Zahlung zu erklären hatte, aber verheimlichen musste, warum.
Er schlurfte zurück in den Gasthof. Sie gingen auf ihre Zimmer. Zehn Minuten später klopfte er an Steffis Tür und folgte der Bitte einzutreten. Im Zimmer roch es nach Parfüm, leicht und angenehm. Sie stand vorm Spiegel. Ihre Finger zupften einen Schuss Verwegenheit in die zu brave Frisur. Jens warf einen Blick aufs Bett. Es war ein Mythos, dass Frauen in Sachen Ordnung die Nase vorn hatten; vielleicht unter den Betten, aber nicht auf ihnen, wenn sie zum Ausgehen mobil machten und die Inhalte der Kleiderschränke daraufkippten.
Steffi drehte sich um. „Komm, lass uns zu den Mönchen gehen. Glaubst du, sie übergeben uns der weltlichen Gerichtsbarkeit, wenn wir vom Weinberg ein paar ihrer Trauben klauen?“
Er ging auf sie zu und sah hart in ihre Augen, als wollte er mittels Faszinationstechnik eine Hypnose einleiten. Seine Stimme jedoch klang wie die herausgepressten Laute einer Quietschente. „Ich kann den Urlaub nicht fortsetzen. Bunsel ist noch aktiv, quasi kriminell, weswegen meine Anwesenheit in Gera unabdingbar ist.“
„WAS?“
Die Klangspitze davon blieb in seinem Herzen stecken. „Mit der Effizienz eines intelligenten Psychopaten übt Bunsel Rache für seine Entlassung. Er nimmt meine Patienten aufs Korn, ruft sie an und erzählt ihnen die ausgebufftesten Märchen. Frau Eisentraut ist überfordert, telefonische Anfragen am laufenden Band.“
Steffi senkte den Kopf. Dann warf sie den Kamm aufs Bett und genervt, als hätte sie einen Migräneanfall, sagte sie: „Warte unten, ich muss packen.“
Er trug ihre Reisetasche zum Auto und setzte sie ab, als sein Handy klingelte. Steffi stakste weiter.
Es meldete sich Werner mit seiner melodisch klingenden Stimme, die jedem Unheil der Welt standhielt. „Die Pension befindet sich in Zwötzen. Von weitem habe ich gesehen, wie ein roter Civic davonfuhr. Ich kam aber nicht so nah heran, das Nummernschild zu erkennen. Er fuhr in der Stadt herum, als wäre er beim Sightseeing. Die Tankanzeige begann, mir Sorgen zu machen. Sorry, ich fuhr tanken und zurück zur Pension. Der Wirt sagte, Bunsel sei ausgezogen, weil Egert’s Pension zu weit abgelegen sei. Der Wirt hat ihm die seines Schwagers in der Wiesestraße empfohlen, Möllers Frühstückspension.“
Ein kaltes Rinnsal bildete sich in Jens’ Hals und zwang ihn zu schlucken. Der Irre hatte noch nicht genug. Kaum anzunehmen, dass es die Schwarzbiernacht am kommenden Wochenende war, weswegen Bunsel noch in Gera blieb.
„Ich hatte Marlies angerufen“, fuhr Werner fort, „damit sie mich im Studio vertrat, um dir einen Gefallen zu tun. Könnte mir vorstellen, dass sie für dich ins Studio geflogen ist …“ Jens hielt den Hörer etwas weg vom Ohr und hörte sich Werners obligatorisches Gewieher von weitem an. „Dann bin ich in die Wiesestraße gefahren und stehe seit einer Stunde vor Möllers Frühstückspension. Kein Civic weit und breit, und reinzugehen, um zu fragen, halte ich nicht für helle. Der Wirt könnte Bunsel das stecken.“
„Schon gut.“ Jens bedankte sich und verabredete sich mit ihm auf unbestimmte Zeit. Dann stand er noch eine Weile apathisch da, nur sein Blutdruck eilte ihm voraus wie bei einem Marmeladenangriff. Zeit für die Polizei? Und somit für die Öffentlichkeit? Seht her, sagte die Öffentlichkeit. Klemmer, ein alter Bekannter. Erst nascht er zwischen den Beinen seiner Trainerin und dann verleiht er seine Praxis an einen Scharlatan. Er schloss die Augen, um kurz zu meditieren, ließ Bilder kitschiger Almidylle wirken und verinnerlichte sie, bis er mit ihnen im Einklang stand.
„Schließt du bitte den Wagen auf, die Sonne hat es auf mich abgesehen“, rief Steffi, sie schrie fast.
Er zuckte zusammen und nahm sie als das Primat von hier und jetzt in seinen üppigen Zügen vor der Autotür wahr.
„Wird erledigt“, versicherte er und ging hin. Es fühlte sich an wie ein Aufbruch.