Читать книгу Ich locke dich - Wolf L. Sinak - Страница 14
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ОглавлениеIn dieser Nacht quälte Jens ein sich wiederholender Traum. Er wähnte sich mitten im schmalen Gang des Fitnessstudios, dessen hinterer Teil von einem Schaufelradbagger mit tonnenschweren Zähnen versperrt wurde, die seinen Rücken bedrohten. Marlies’ überlebensgroßer Schoß belagerte das andere Ende des Ganges. Einen Ausweg gab es nicht. Überschneidend erschien Werner mit eigenständig lachenden Zähnen. In der letzten Traumschleife schlug Jens die Arme vors Gesicht und rannte mit dem Schädel gegen die Wand, Schmerz ertönte wie ein Trompetenstoß …
Er öffnete die Augen und erkannte, dass er mit einem Mansardendach kollidiert war, im Bett sitzend, neben sich die verwurstelte Bettdecke. Etappenweise kam die Erinnerung, dass er sich gestern Abend noch mit Werner getroffen und sich ein Zimmer in Möllers Frühstückspension genommen hatte, weil er nicht in seiner Wohnung schlafen wollte. Die Fakten: Er war übel zugerichtet, Bunsel war nicht aufgetaucht und Werner war not amused .
Vollreifes Licht von jenseits neun Uhr drang durchs Fenster. Er sprang aus dem Bett, ungeachtet des Schmerzes im gequetschten Brustkorb. In die Praxis konnte er nicht fahren. Er könnte schon, aber wenn er sie wieder verließ, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach eine Eskorte am Hals, bestehend aus einem Mercedes mit streichholzkauendem Fahrer und bulligem Beifahrer und, wer weiß, brandneuem Equipment im Kofferraum. Neben Wolldecken standen Kokosmatten hoch im Kurs bei Amychophobie – der Phobie auf Kratzendes.
Es war fast zehn Uhr, als er Möllers Frühstückspension verließ und zu seinem Wagen ging. Im Gehen rief er Frau Eisentraut an und ließ sich die Adresse von Kreihansel durchsagen.
Plötzlich, mit einem Schlag, krallte sich etwas in seinen Nacken. Er drehte sich um und sah eine Menge Make-up im Gesicht von Renate. Mann, nun hat es auch sie erwischt, so wie andere Frauen, die nach der Scheidung herumliefen wie Paradiesvögel.
„Mein lieber Jens, glaubst du, den Richter zu gewinnen, wenn er spitzkriegt, dass du sogar Pensionen benützt, um unserem Scheidungskram aus dem Weg zu gehen?“
„Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„Zufall. Habe dein Auto gesehen.“
Er wusste, dass Frau Eisentraut ihn nicht verraten haben konnte, da er ihr nichts von seinem Aufenthaltsort erzählt hatte. Trotzdem sah er sie in seiner Vorstellung über die Telefonstrippe mit Renate verbunden, erst felsenfest und dann weich wie Gummi, als Renate sich als alte und neue Kollegin präsentierte. Mit jener Kälte und Klarheit, die in einem Eisblock stecken.
„Herr Leibel, mein Anwalt, hat heute Vormittag keine weiteren Termine und wartet in der Kanzlei auf uns.“ Dabei strahlte sie, was nichts Gutes bedeuten konnte.
„Unmöglich, jetzt nicht. Auf keinen Fall. Sag mal, hast du zufällig was von diesem Bunsel gehört, den du mir schmackhaft gemacht hast? Ich habe vergessen, mir seine Handynummer zu notieren.“
„Wieso sagst du, ich hätte ihn dir schmackhaft gemacht? Gab es Schwierigkeiten? Hat es was damit zu tun, dass du unrasiert bist?“
Gleich war es wieder so weit, dachte er, dass sie ihm seinen Ausrutscher mit Marlies vorhielt und nicht einfach zürnte, sondern gehässige Analysen anstellte und sein Fehlverhalten in einen Mega-Gesamtzusammenhang brachte und unsachlich wurde. Hast du die Kleine hypnotisiert? Andere Männer in deinem Alter benötigen dafür nur angegraute Schläfen, hatte sie einmal gesagt und dabei hämisch seine Ohren anvisiert, um die herum es immer noch rot wucherte.
„Steckt wieder die kleine Schlampe dahinter?“
Na bitte. Er wollte nur noch das Thema wechseln. „Hast du nun die Nummer?“
„Nein.“
„Und ich hatte noch keine Zeit, mich um einen Anwalt zu kümmern“, sagte er.
„Meiner reicht für uns beide. Oder kennst du dich mit Paragraphen aus?“
Sie war aufgerüstet bis zu den Haaren, trug das Werk irgendeines Modefriseurs, was Jens an die sechziger Jahre erinnerte – toupiert zu einer Fülle, derentwegen er Frauen beneidete.
„Eine halbe Stunde, mehr habe ich nicht für deinen Anwalt.“ Sie fuhren zu Rechtsanwalt Leibel, dessen Kanzlei sich auf der Sorge befand, einer alten Geschäftsstraße. Das Wartezimmer war ein Schmuckstück und ein Vorgeschmack auf das, was der Aderlass sich Scheidender einbrachte. Mitten im Raum stand eine Säulenvitrine aus Glanzglas, Herberge verschiedener Bronzeskulpturen. Vier Ledersessel mit Nackenrollen machte das Betrachten vermutlich zum Vergnügen. Im Vorbeigehen las Jens, dass die zwei Gemälde an der Wand von Paul Rau stammten. Das Büro war nüchterner, jedenfalls entwickelte der Konferenztisch mit acht Stühlen kein Wohlgefühl. Acht Stühle! Für Polygamisten oder wenn der Scheidungsanwalt die Fälle am Fließband abwickelte.
Jens gab Herrn Leibel die Hand, sie nahmen Platz. Der Anwalt war schlank und trug auf dem Kopf eine Fälschung. Solche Haare, dicht und gleichmäßig wie aus der Nudelmaschine, gehörten zur ersten Generation von Toupets. Wenn Herr Anwalt schon im Kleinen hochstapelte, dann sollten die Alarmglocken erst recht im Großen läuten, zum Beispiel bei einer Scheidung.
„Ihre Frau hat mir von Ihrem Urlaub erzählt. Muss wohl Wetter zum Anbeißen gewesen sein in Südtirol, Ihrer Bräune nach zu urteilen, Herr Doktor Klemmer.“
Jens presste die Zähne aufeinander. Die Umschreibung seines Sonnenbrandes war Spott. Er strafte dieses Arschloch ab, indem er lange auf seine Armbanduhr sah und nicht antwortete.
„Ich sehe schon, Doktor Klemmer, Ihre Zeit ist knapp. Lassen Sie mich zum Thema kommen. Der Gesetzgeber macht es uns leicht, Ihren Fall im Hinblick auf Vermögensausgleich abzuhandeln. Sie haben keinen Ehevertrag abgeschlossen, leben also im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, was bedeutet, dass mit dem Scheidungstag der während der Ehe erzielte Vermögenszuwachs ausgeglichen werden muss …“
„Entschuldigung“, rief Jens dazwischen, „ich möchte Sie bitten, die niedrige Auffassungsgabe eines Zahnarztes bezüglich der juristischen Sprache zu berücksichtigen. Einem Patienten würde ich auch nicht mit einer Parodontitis marginalis kommen, sondern ihm sagen, dass er eine Zahnfleischtasche hat.“
Sein Oberschenkel erhielt einen Stoß von Renates linkem Knie, dessen spitze Anatomie er noch deutlich in Erinnerung hatte.
„Entschuldigung.“ Leibel mit dem scharfen Haaransatz der ersten Generation von Haarfälschungen rutschte kurz auf seinem Sessel hin und her und fuhr fort:
„Ich meine damit, dass zum Beispiel neben Kapitalanlagen der Verkehrswert der Praxis mit einfließt, also der Erlös, den sie bei Verkauf erbringen würde. Um es klar zu sagen: Ihrer Frau stünde fast die Hälfte vom Erlös zu. Diesen Betrag müssten Sie an ihre Frau auszahlen, wenn Sie nicht auf das Angebot eingingen, sie weiter zu beschäftigen und am Umsatz zu beteiligen.“
Jens stand auf. „Was haben Sie beide noch ausgeheckt?“
Renate bekam einen roten Kopf.
„Ich würde es nicht als Aushecken bezeichnen, sondern als einen Vertrag, den ich vorbereitet habe“, sagte die Haarfälschung betont langsam mit dem Gehabe eines gekränkten Vaters, der seinem Kind Anstand beibringen will. „Er beinhaltet das Angebot, Ihrer beider Zukunft zu sichern. Es dürfte für Sie eine besondere Härte bedeuten, eine derart große Summe aufzubringen, ohne die Praxis zu veräußern.“
„Trotzdem, ich unterschreibe nichts.“ Jens setzte sich wieder und wurde von Renate mit einem lebensgefährlichen Blick bestraft. Leibel machte weiter.
„Noch nicht erwähnt habe ich den nachehelichen Ehegattenunterhalt. Auch wenn Sie eine Stundung des Ausgleichsanspruchs erwirken, bezahlen Sie Ihrer Frau den gewohnten Lebensstandard weiterhin.“ Er lehnte sich zurück und zog mit beiden Händen seine Fliege gerade, als sei er einer der Autoren gewesen, die dieses Gesetz geschrieben hatten. In Renates Gesicht las Jens die Genugtuung, den richtigen Anwalt beauftragt zu haben. Dass er einer der teuersten war, brauchte sie nicht zu jucken. Der Gesetzgeber zeigte ihr den Weg, woher am Ende das Geld für die Rechnung kam. Sie brauchte ja nicht einmal ihren Lebensstil zu ändern. Jens dachte an den Anfang, als Renate noch Bedienung in der Erfurter Studentenkneipe war. Heute trugen ihre Einkaufstüten die Logos bekannter Marken.
„Werden deine Klamotten geschätzt und zusammen mit den Eintrittspreisen für Kino und Diskotheken mitgerechnet, in die du deine Freundinnen vom Tennisclub geschleppt hast? Wie steht es um die Verschwendung während der Ehe?“
„Albern wie immer, was?“ Renates Ton war härter geworden. „Du hast dir deine Lage selbst eingebrockt. Nicht mal jetzt lässt du das Spotten, nachdem du mich zum Gespött der Leute gemacht hast. Du bist nicht fähig, dich in die Lage zu versetzten, wie einem zumute ist, seinen Ehemann keuchend und verschachtelt in einem fremden weiblichen Körper zu sehen.“ Ihre Augen wurden glänzend – Vorboten, wenn sie die Contenance verlor.
„Das mag alles stimmen, nur glaube ich nicht, dass dein Anwalt an Einzelheiten unseres Konflikts interessiert ist.“
Leibel nickte gezwungen.
„Ha, da verkennst du die Lage“, fuhr Renate ihn an. In Jens’ Empfinden blitzten messerscharfe Fangzähne hinter ihren bemalten Lippen auf, als sie ausholte: „Eine Scheidung strotzt vor Einzelheiten. Die Richter stürzen sich darauf, je schmutziger, desto besser.“
„Dann sind Sie ja im Bilde“, sagte Jens zu Leibel, über dessen Wangen ein roter Schatten huschte. Aber der Anwalt ging nicht darauf ein, sondern unterbrach Renate, die mit grünem Gift in der Stimme keifte und Jens’ ignorantes Wesen als unerträgliche Absonderlichkeit bezeichnete, von der sie für alle Zeiten die Schnauze voll hätte.
„Meine Dame, mein Herr, erlauben Sie mir, die Moderation zu übernehmen, sonst befürchte ich, dass gleich einer von Ihnen hier abhaut. Sie sollten sich beruhigen und die Chance nutzen, die dieser Ort bietet.“
„Na und, meine Lage ändert das nicht ab.“ Jens umfasste die Armlehnen zum Aufstehen.
„Ein Eklat hilft niemandem weiter.“ Leibel rollte die Augen. „Bitte!“
Renate hatte den Kopf zum Fenster gedreht, als schien sie die Straßengeräusche hinter dem Fenster interessanter zu finden. Jens ließ die Lehne los und verschränkte die Arme vor der Brust zur letzten Chance für diesen Nervtöter von Anwalt.
„Es geht um das Scheidungsjahr“, fuhr Leibel fort.
Jens hörte sich an, was Leibel unter einer wasserdichten vertraglichen Absicherung verstand. Der warf sich so ins Zeug, als stünde als Nächstes an, Jens den Vertrag auf die Brust zu tätowieren. In dem bevorstehenden Scheidungsjahr gedachte Renate nicht in der Luft zu hängen. Bereits jetzt, da noch kein Scheidungsrichter etwas von ihnen wusste, sollte unter Dach und Fach gebracht werden, dass sie wieder an der Rezeption arbeitete und am Umsatz beteiligt wurde. Irgendein nachhaltiger Knacks hatte ihre Weichen auf Karriere gestellt.
„Ich lasse das alles prüfen.“ Jens nahm sich den Vertrag vom Tisch und knietschte ihn in seine Brusttasche, stand auf und nickte in die Runde der Hyänen. Renate, die vor jeder Instanz auszurasten imstande war, stach mit den Augen nach ihm.
„Hol dir doch Hilfe bei deiner Schlampe, die deinen Kopf sich einverleibt hat. Die hat Tiefe. Aber besprecht euch vorher, nachher bist du taub auf den Ohren. Oder du bringst ihr bei, dass man die Beine weit genug spreizt, wenn Onkel Doktor mal nachsehen will, auch wenn es sich nur um den Zahnarzt handelt.“
Jens sprach Leibel an, der leer zu Boden blickte. „Kommen Ihnen nicht manchmal Gewissensbisse, wen Sie vertreten?“
„Bei Schweinen wie dir ist das bestimmt der Fall“, plärrte Renate. „Wir werden ohne Gewissensbisse dafür sorgen, dass ich die Hälfte der Praxis bekomme, als Partner … oder als Verkäufer.“
Jens ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Leibel stand auf. „Doktor Klemmer, Ihre Existenz steht auf dem Spiel. Die finanzielle Zukunft Ihrer Frau nicht.“
Jens ging weiter, bis er auf der Sorge ankam, der Geschäftsstraße, die ihre Kundschaft zunehmend an die großen Einkaufszentren verlor. Er sah das normale Leben. Menschen, die in Läden verschwanden und wieder auftauchten, sorglos, als sei jeder Tag wie der andere. Nie zuvor war ihm diese Normalität so konkret erschienen, mit festen Konturen und glänzend wie Gold.
Er musste Bunsel finden. Sein Heer bestand aus Werner, Marlies und ihm. Der Plan: das systematische Abklappern aller Unterkünfte in Gera und Umgebung. Zu dritt sollten sie das in ein paar Stunden bewerkstelligt haben.
Jens schaute in Richtung Ziegelberg, wo Steffi und Anna wohnten. Es sprach nichts dagegen, seine Auszubildende in häuslicher Atmosphäre zu befragen. Er stellte sie sich mit einem Plüschhasen vor und sich selbst mit einer Tüte Bonbons. In der Tat wäre es fahrlässig, Annas Mucke nicht noch einmal gegen das Licht zu halten und auf Bunsels Spuren zu untersuchen und nebenbei die Erziehungsberechtigte ins Boot zu holen.
Er ging fünfzig Meter, da erblickte er doch tatsächlich Steffi und Anna vor einem Geschäft. Mutter und Tochter sprachen miteinander, drückten sich und gingen auseinander. Steffi verschwand in dem Geschäft für Künstlerbedarf. Jens fiel nichts Besseres ein, als Anna unter Wahrung einer reichlichen Distanz nachzugehen. An der Straßenbahnhaltestelle stadtauswärts blieb sie stehen. Die Bahn kam, sie stieg vorn ein, Jens hinten. Als chronischer Autofahrer brauchte er gar nicht erst in seinen Taschen zu suchen – fahrscheinfreie Zone. Von Anna sah er nur die Hinteransicht. Zum Glück träumte sie seitlich zum Fenster hinaus. Widerlich, dass die Gedanken hinter ihren schönen Augen womöglich gerade Bunsel nachhingen. Es war zweifellos ein Abenteuer für eine Sechzehnjährige, als brächte sie einem Verfolgten Wasser und Brot.
Die Bahn hielt, fuhr weiter, und hinter ihm setzte sich eine Stimme vom allgemeinen Gemurmel ab. Ein Finger tippte auf Jens’ Schulter.
„Ihren Fahrtausweis bitte.“
Über ihm hing das leidenschaftslose Gesicht eines Beamten.
„Was bin ich Ihnen schuldig?“ Jens fragte im Fokus des verstummenden Gemurmels. „Ich hatte nicht die Zeit, mir einen Schein zu besorgen. Soll nicht wieder vorkommen.“
„Was glauben Sie, muss ich mir täglich anhören, weshalb und warum? Erzählen Sie das Ihrer Frau, wenn sie Kasse macht und vierzig Euro fehlen, denn so viel kostet es, den Fahrkartenautomaten zu ignorieren.“
Jens schaute zu Anna. Sie döste gedanklich eher in einem Raumschiff als in einer Straßenbahn. Der Beamte nahm die Personalien entgegen, und Jens musste an der nächsten Haltestelle die Bahn verlassen, wobei Anna aufmerksam wurde. Auf der Straße hob er die Hand zu einem lauen Gruß. Die Bahn fuhr an, ihr Kopf hinter der Scheibe drehte sich ihm nach wie eine Kompassnadel.
Jens hatte Glück. Bald kam ein Taxi und hielt auf seinen Fingerzeig.
„Holen Sie die Straßenbahn ein“, sagte er dem Fahrer, der keine Straßenbahn mehr sehen konnte. Unterwegs hielt er Ausschau nach Anna, die ausgestiegen sein konnte. Der Fahrer begann, Späße zu machen. „Das ist bestimmt nicht Ihre Schwiegermutter, die in der Bahn sitzt.“
Die Straßenbahn kam in Sicht, aber Jens entdeckte Anna auf dem Gehweg mit flinken Schritten. Er beeilte sich, das Taxi zu bezahlen und hielt Anschluss. Im Stadtteil Roschütz wollte er gerade umkehren, sich der sinnlosen Gefahr entziehen, durch einen raschen Rückwärtsblick von Anna entdeckt zu werden, da bog sie in einen Weg ein, der auf eine Anhöhe führte, hin zu einer Baumgruppe. Er wartete, bis sie hinter den Bäumen verschwunden war, und rannte hinauf. Oben, im Schutz eines Stammes, sah er Anna bergab laufen, dann neben einem Feld entlang bis zu einem Haus, das einsam am Weg stand. Anna hielt am Tor und holte etwas aus ihrer Handtasche. Ein großer Hund kam schwanzwedelnd und schnappte das Leckerli aus ihrer Hand. Hier war sie eine alte Bekannte, dachte Jens, und das Haus war keine Herberge, in der Bunsel abgestiegen sein konnte. Kein Schild, das dafür warb. Und vom Verputz war nicht mehr viel übrig. Auf dem Rückweg durch Röschütz begegnete er einer alten Frau mit Mülleimer.
„Wissen Sie, ob in dem einsamen Haus hinter dem Hügel Zimmer vermietet werden? Die Lage ist idyllisch.“
Die Frau versetzte ihr Gesicht in Verblüffung. Es bestand hauptsächlich aus ein paar großen Zähnen, die untereinander von schwarzen Lücken auf Distanz gehalten wurden. „Kann ich mir nicht vorstellen, junger Mann. Der Besitzer empfängt zwar oft Besuch. Spirituosen … äh, Spiritismus oder so. Aber dort schlafen? Da fehlt ’ne Frau, um sauber zu machen, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Jens bedankte sich und ging weiter. Der Fahrkartenautomat lieferte ihm die Legitimation, zurück in die Stadt zu fahren. Durch das Schaukeln des Wagens versank er in Schläfrigkeit. Er dachte an die Wohltat der Dusche gestern Abend, an das jungfräuliche Gefühl, als die Poren seiner Haut gespült wurden und der störrische Kleister in den Abfluss gluckerte. Nein, es gab keine Reste mehr, die irgendwo überdauert haben konnten, er hatte sich ausgiebig gereinigt, auch wenn ein unbestimmtes Jucken behauptete, nicht frei von Fremdkörpern zu sein. Jens kannte diese Vorstellung, sie kam und ging wie Röte im Gesicht, sein Leben lang. Sie hieß Einbildung, und er glaubte jedes Mal an eine Tatsache, wenn sie sich einschlich.
Er stieg aus und ging in die Burgstraße zu seinem Wagen. Er ließ sich in den Ledersitz fallen und schloss schmunzelnd die Augen. Anna besaß also ein Faible für Okkultismus und praktizierte diesen auch. Dass ihre Mutter eingeweiht war, bezweifelte Jens. Bestimmt schämte sich Anna für ihr Hobby, wer konnte ihr das verübeln. Aber so angenehm dieser Bunsel ausklammernde Gedanke auch war, eine andere Vorstellung zog Jens in die Gegenrichtung: Imaginäre Stahlwolle, mit der man Holz schleifen konnte, breitete sich auf ihm aus. Nackenhaare spießten in die Kopfstütze und der Schweiß auf seiner Stirn perlte wie auf Autolack.
Er setzte einen Schrei ab. Wenn es so war, dass ihm die Hoheit über seine Gedanken abhandenkam und sie als selbständige Gebilde in seinem Schädel waberten – Beiwerk seiner beschissenen Haut –, dann war die putzige Manie seiner Kindheit mit ihm gewachsen und zur Idiotie ausgereift. Es handelte sich nicht mehr um einen Lapsus, über den man schmunzeln konnte, und bedurfte eines verdammt kurzen Schrittes, nicht mehr allein damit fertig zu werden. Zumindest konnte er sich vorstellen, beim einem Psychiater eine Schocktherapie durchzumachen, wie Leute, die Angst vor Spinnen haben und eine auf die Hand gesetzt bekommen. Lieber würde Jens fünfzig Spinnen in seinem Gesicht krabbeln lassen, als von einem Psychiater in Wollkleidung gesteckt und mit Marmelade beschmiert zu werden.
Gegen vierzehn Uhr parkte er ein gutes Stück weit entfernt von seiner Wohnung und hielt nach Verfolgern Ausschau. Seine Vision basierte auf einer übergroßen Pinnwand aus samtweicher Haut, die bereitstand, den Rest aller Grausamkeiten angeheftet zu bekommen. Und hierfür bot der Alltag viel. Reißnägel zum Beispiel oder Glasscherben. Abrupt rissen diese Gedanken ab, als er in den Flur seiner Wohnung trat, den Schauplatz einer Verwüstung. Die Flurgarderobe streckte ihre Türen zu Flügeln aus, als segnete sie den davorliegenden Haufen Schuhe und das Putzzeug oder als hätte sie sich mit diesem Kram übergeben.
„Hallo, ist jemand hier?“
Seine Stimme klang stranguliert, als würde sie im Schlund nicht vorbeigelassen. Er stieg über den Haufen und linste ins Schlafzimmer. Der Schrank stand nicht nur offen, sondern war von der Wand gerückt. Das Bett eine Katastrophe: zwei sich überkreuzende Schnitte in jeder Matratze.
Er trat in etwas hinein. Getrocknete Waldfruchtmarmelade. Angewidert sah er sich um und nahm weitere Kleckse wahr. Jurek hatte ganze Arbeit geleistet. Er beeilte sich, auf einem Bein hüpfend, aus dem Schlafzimmer ins Bad zu kommen, wo er das ekelhafte Zeug von der Sohle wusch. In den anderen Zimmern das Gleiche. Was nicht fest mit einer Unterlage verbunden war, lag woanders. Papiere aus den Schubladen wie zum Abdecken des Bodens bei einer Malerarbeit.
Er schnappte sich die Jacke, in der alles war, was er brauchte, Telefonnummern, Handy, Geld, Kreditkarte, und rief Werner an. Beim Klingelzeichen sah er Glanzspuren am Türgriff, den er angefasst hatte. Sofort verspürte er klebrige Fäden zwischen seinen Fingern. Er schaute sie an. Da war nichts. Aber es klebte unbändig. Werners sonore Stimme meldete sich und Jens berichtete von den Verwüstungen.
„Hol mich ab!“
Das war ein Schrei der Verzweiflung und eine schneidende Erinnerung, dass sein Geld in Werners Laden steckte. „Nimm den Lieferwagen deines Vaters und fahre rückwärts in die Einfahrt. Die werden dich für einen Handwerker halten und nicht sehen, wenn ich hinten einsteige.“
Werner legte auf, ohne viel gesagt zu haben. Sein Vater Max, dem man drei Bypässe ums Herz gelegt hatte, ließ diese derzeit bei einem Reha-Aufenthalt in Bad Berka anwachsen. Max’ ebenfalls ans Herz gewachsener DDR-Lieferwagen vom Typ Barkas stand vor seinem Haus. Es war ein Liebhaberstück mit Zweitaktmotor und viel Rost. Aber bevor Werner eintraf, hatte Jens noch etwas zu erledigen. Er nahm das Telefon und wählte. Eine Männerstimme meldete sich:
„Zentrale Vermittlung der Bundeswehr.“
Jens verlangte den Standortarzt und musste eine Weile warten, während er das Klappern einer mechanischen Schreibmaschine hörte. Kaum zu glauben, die hatten keine Computer. Dann meldete sich eine Frau und vermittelte an eine Außenstelle weiter. Jens stellte sich die Arbeitsweise in dem noch kleineren Objekt der Bundeswehr vor. Die träumten von mechanischen Schreibmaschinen, während sie Papyrus bekritzelten.
„Oberfeldarzt Schröder am Apparat.“
Jens stellte sich ordnungsgemäß vor, nannte Beruf, Titel, Name, die Stadt Gera und vernichtete sofort im Anschluss daran den steifen Charakter des Telefonats. „Ich bin auf der Suche nach einem Kommilitonen. Sie wissen ja, wie das ist – in alle Herrgottsrichtungen verstreut. Unser Studienjahr veranstaltet ein Treffen. Der Mann heißt Robert Bunsel und müsste meines Wissens bei Ihnen dienen.“
„Zahnarzt war er nicht, Herr Kollege.“
„Hat man ihn in die Küche gesteckt?“ Jens versuchte, ein Geräusch des Lachens zu produzieren, krächzte aber wie eine Sprechpuppe.
„Feldwebel Bunsel diente bei mir in der medizinischen Abteilung bis vor drei Jahren.“
„Oh, so lange ist das her. Und jetzt?“
„Das weiß ich nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob wir von derselben Person reden. Feldwebel Bunsel war Sanitätszeitsoldat, kein Zahnarzt, wie schon gesagt.“
Jens bekam sein Herz zu spüren, das an den Rippen nach unten klackerte. Er musste das Gespräch weiterführen, zum Nachdenken war hinterher Zeit.
„Na, so was, da bin ich platt. Vom Zahnarzt zum Soldaten. Vom Millionär zum Tellerwäscher. Umgekehrte Erfolgsstory. Hat er einem Zahnarzt assistiert?“
„Wir sind hier eine kleine Abteilung, da kommen die Soldaten überall zum Einsatz, beim Arzt und beim Zahnarzt.“
„Wenn Sie hier wären, würden Sie mein versteinertes Gesicht sehen. Es geht mir an die Nieren, dass einer wie Robert – beste Noten und so weiter – alles hinschmeißt und zum Bund geht.“
Der Offizier räusperte sich. „Mir gefällt es hier sehr gut.“
„Oh Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken. Dabei dürften Sie als Hochschulabsolvent meine Betroffenheit ermessen. Was wir gepaukt haben …“ Jens seufzte.
„Also, Bunsel hatte seine Dienstzeit nicht beendet, als er gegangen ist.“
„Das klingt nicht wie ein Hochgesang auf einen ehemaligen Kameraden“, sagte Jens.
„Mehr will ich dazu nicht sagen. Das müssen Sie verstehen.“
Jens zwickte der Gedanke, ihm die Notlüge vom angeblichen Kommilitonen zu gestehen; vielleicht war der Mann gesprächiger, wenn er verhindern konnte, dass Bunsel die Menschheit weiterhin schädigte, denn dass man ihn in Unehren entlassen hatte, war herausgetönt wie eine Trompete. Und was in Jens’ tiefstem Inneren bereits Gewissheit war, aber für den Offizier neu sein durfte: Bunsel war ein Hochstapler. Jens schluckte. Er hatte Bunsels vorgeblicher Approbationsurkunde nur einen flüchtigen Blick geschenkt und ihn unbehelligt arbeiten lassen und damit einem Kriminellen Tür und Tor geöffnet. Und der Hurensohn hatte es geschafft, ihn in seine Machenschaften hineinzuziehen.
„Das verstehe ich, Herr Kollege. Vielen Dank“, sagte Jens und beendete das Gespräch. Er glaubte sich wieder unter dem Gewicht begraben, das aus Herzen Eierkuchen macht.
Dann klingelte es. Jens drückte den Öffner der Haustür und wartete am Türspion. Werner kam getarnt im Arbeitsanzug. Jens zog ihn in die Wohnung. „Hier, sieh dich um, aber pass auf, wo du hintrittst, es klebt.“
Vorsichtig und mit großen Schritten ging Werner von Zimmer zu Zimmer, während Jens ihm nachlief wie ein Kind seinem Vater, das sich vor dem Ungewissen fürchtet.
„Bunsel ist ein Hochstapler, kein Zahnarzt. Beim Bund hat er einem Zahnarzt lediglich was abgeguckt und es bei mir in der Praxis ausprobiert.“
„Echt? Aber dafür kannst du nichts.“
„Wenn rauskommt, dass ich vergessen habe, mir die Approbationsurkunde zu kopieren, die natürlich eine Fälschung war, bin ich erledigt.“
Werner blies die Wangen auf, als schüfe das Denkvolumen. „Verglichen mit dem, was die Ganoven mit dir anstellen, scheint mir eine Strafe wegen Verstoßes gegen eure zahnärztliche Berufsordnung nicht mehr als eine Ohrfeige zu sein.“
„Pah! Von einem gravierenden Kunstfehler, den Bunsel bereits begangen hat, weiß ich schon. Die Patientin liegt im Krankenhaus.“
Werner entließ die Luft aus den denkenden Wangen und Jens zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und sagte: „Fahre mich bitte zu Marlies.“
„Was?“
„Ich lasse die Wohnung erst mal, wie sie ist, auch die Marmelade.“ Jens zeigte auf einen kleinen braunen Klumpen in der Mitte des Raumes. Werner ging hin und bückte sich. Erst kniff er die Augen zusammen, dann schraubte er sie eine Umdrehung heraus.
„Marmelade? Das ist Erde oder Lehm. Du hast mir doch erzählt, dass die gestern nicht nur im Studio waren, sondern auch im Gelände an der Elster. Die haben ihre Schuhe nicht geputzt, was sonst?“ Werner schaute perplex. „Du solltest deine Sorgen mal ordnen. Das hier steht ganz hinten an, oder nicht?“
Die Unterhaltung steuerte in einen Bereich, in dem Werner mit seiner dicken Haut nicht mitreden konnte. Jens sah das seinem Freund nach, wie er es mit jedem Gesunden tat, der die Wehwehchen eines anderen niemals in vollem Ausmaß verinnerlichen konnte. Er bückte sich zu Werner, nahm ihm den Brocken Lehm aus der Hand und ließ ihn zwischen den Fingern zerbröseln, woraufhin seine Gänsehaut die Stacheln einfuhr und die Luken schloss.
Der Barkas, der kurz vor dem Aufplatzen seiner rostigen Pockennarben stand, war hinten offen. Von dort stieg Jens in den Laderaum und legte sich auf den Boden. Durchgeschüttelt von teils desolaten Straßen, kostete es viel Kraft, sich festzuhalten. Werner bewachte visuell sämtliche Rückspiegel wie einen Goldschatz und ließ die Schlaglöcher außer Acht.
„Kannst du später meinen Wagen holen?“, fragte Jens. „Er steht in der Wiesestraße. Das muss blitzschnell gehen. Du näherst dich ihm, schließt fix auf und weg bist du. Höchstens, dass man hinter dir herfährt. Aber jemandem, der ein so eingefleischter Geraer ist wie du, sollte es ein Leichtes sein, ortsunkundige Wessis abzuschütteln.“
„Das sind Wessis? Einer ist doch Ausländer, hast du gesagt.“
„Ja, aber der andere nicht. Der fuchtelt mit seiner Kanone herum, als gehörte ihm der Osten.“ Jens hatte den Trumpf gezogen. Werner war leicht zu ködern, wenn man ihm huldigte, sogar wenn das vor Ironie strotzte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du als Vorzeigeossi durchgehen lässt, was die hier veranstalten. Noch dazu mit deinem besten Freund.“
Schweigen. Jens erahnte, wie bei Werner dunkle Wolken im Osten aufstiegen und gen Westen zogen und er sich überlegte, wie man der Brut Herr werden könnte.
Eine Serie von Schlägen auf der Bodenplatte zwang Jens, die Finger in die Streben der Sitzbank zu krallen. Sie waren in die Plauensche Straße eingebogen und hoppelten über jahrzehntealtes Kopfsteinpflaster.
„Dass Bunsel auch ein Wessi ist, weißt du ja schon.“
„So etwas vergesse ich nicht. Ich habe noch keinen von denen zu Gesicht bekommen, weder Bunsel noch diese Halsabschneider, aber glaube mir, ich werde riechen, wenn sie kommen und Wessis sind.“
Zum ersten Mal empfand Jens die Kleinkariertheit seines Freundes als Glück. Es war legitim, ihn vor den Karren zu spannen. Freundschaft lebte davon. Eine Art Symbiose. Gleichwohl hoffte er inständig, dass Werner den blonden Rauschgifthai nie zu Gesicht bekommen und, weit wichtiger, ihn nie sprechen hören würde, weil sein Dialekt dem Durchziehen von Worten durch eine thüringische Wurstmaschine nahestand. Bunsel hingegen ging wegen seines Dialekts als Wessi durch.
Der Barkas hielt vor einem renovierten Haus. Jens folgte der Anweisung auf dem Schild der Steuerkanzlei, ins erste Stockwerk zu gehen. Er fragte nach Marlies Kiel und eine ältere Frau mit schwarzer Brille machte sich auf den Weg. Marlies erschien langärmelig gekleidet und mit auffällig ins Gesicht gekämmten Haaren. Jens zog sie zu sich ins Treppenhaus und wartete, bis die Kollegin mit einem Gesichtsausdruck faustdicker Phantasie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Überraschung, was?“, sagte Jens.
„Wohl kaum. Ich rechne jederzeit damit, dass jemand auftaucht. Noch mehr, dass die es sind.“ Ihr Gesicht war eine Maske aus Make-up. Er entdeckte eine Schramme auf ihrer Stirn, halb versteckt unter dem Vorhang ihrer Haare.
„Marlies, du hast recht. Ich stecke mehr in der Klemme, als mir lieb ist. Entschuldige.“
„Halte mir bloß dieses stinkende fette Schwein vom Hals.“
„Die lassen uns in Ruhe, wenn ich der Person, die ich suche, habhaft geworden bin. Alles hängt von dem Mann ab, der mich ein paar Tage in meiner Praxis vertreten hat …“
„Warum erzählst du mir das? Verliere keine Zeit, geh und fange ihn, und verpasse ihm eine.“
„Werner und ich durchkämmen alle Unterkünfte in der Gegend. Da er möglicherweise unter falschem Namen abgestiegen ist, reicht es nicht, in den Häusern anzurufen; wir müssen den Wirtsleuten eine Personenbeschreibung geben. Außerdem kennen wir seinen Wagen.“
„Na, dann mal los.“
„Ich hatte gehofft, du bist mit von der Partie. Dich und Werner kennt Bunsel nicht, falls er euch über den Weg läuft.“
Die Schramme auf ihrer Stirn flammte auf. Aber Marlies schien sich nicht wirklich empören zu wollen, denn sie fragte in einem sachlichen Ton:
„Gehört der Kerl – die Urlaubsvertretung – zu denen?“
„Die sind sich zuvor nie begegnet. Ein unglücklicher Zufall hat die Halunken zusammengeführt, und ich bin in die Schusslinie geraten.“
Die Hitze verschwand aus ihrer Schramme. „Noch ’ne Frage …“ Sie sprach schubweise, als kämen die Gedanken Blatt für Blatt aus einem Kopierer. „Du bist ein unbescholtener Bürger, ja … Die haben dich gequält, so … Und du legst dich mit diesen Verbrechern an?“ Jetzt kam die Schlussfolgerung, auf die Jens gewartet hatte: „Wieso pfeifst du auf deine Steuergelder, mit denen du die Polizei unterhältst? Die sind bestimmt geil auf so einen Fall und können das viel besser.“
„Ich verspreche, ab einem gewissen Punkt deinen Rat zu befolgen. Etwas Verrücktes zu tun, ist manchmal das Beste. Vertraue mir.“ Er nahm ihren Kopf sanft zwischen die Hände, drehte ihn zum Licht des Treppenhausfensters und strich die Haare von der Stirn. „Ist nicht tief genug, die Schramme, um was zurückzubehalten.“
„Dann kann ich ja noch einiges vertragen. Aber Folgendes muss dir klar sein: Die Nummer der Polizei kommt in mein Handy, und sollte ich auch nur einen Schatten von denen sehen, die gestern mein Leben in ein Zitterspiel verwandelt haben, drücke ich die Speichertaste und mache es dringend.“
Es würde sich hervorragend anfühlen, ihr auch die Beine auf Schrammen zu untersuchen, schoss Jens ein Relikt seiner Affäre mit ihr durch den Kopf.
„Können wir drei bei dir zu Hause die Einzelheiten besprechen?“, fragte er.
„Untersteht euch, mir das Ungeziefer anzuschleppen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du einen Schweif dunkler Gestalten hinter dir herziehst.“
„Dann bleibt nur noch Werner übrig“, sagte Jens, dem es nicht behagte, Walli in den Kreis der Wissenden aufzunehmen.
Marlies nickte. „Ich weiß, wo er wohnt, war schon dort.“
Die Äußerung gefiel Jens’ Magengrube nicht. Sicher hatte das mit Eifersucht nicht das Geringste zu tun, aber wenn eine Frau wie Marlies schon bei Werner war, dann roch das nach Serie, und welcher Mann mochte gern den Hampelmann spielen?
„Werner wird nichts dagegen haben“, setzte er hinzu und gab ihr beim Weggang die Hand. Dabei fühlte er die Wundmale von gestern Abend. Das war eine Gemeinsamkeit, die sie beide hatten. In ihrer Haut hatten Dornen gesteckt, in seiner waren es haarige Überreste einer grauenhaft rohen Rasse von Schafen. Die Risse am Handgelenk hatte Marlies mit dem Sweatshirt bedeckt. Ihm lag die Belehrung auf der Zunge, dass noch kein Stoff erfunden worden war, der nicht auf rohem Fleisch kratzte. Er ließ es bleiben, schüttelte sich und ging zurück zu Werner. Sie fuhren schon, als Jens von Marlies’ Zusage berichtete und wo sie sich treffen wollten.
„Bei mir? Du hättest vorher fragen sollen“, sagte Werner. „Denn du hast Walli vergessen.“
„Der tun sie nichts, genauso wie sie dir und Marlies nichts tun werden.“
„Ich meine damit, dass Walli ebenfalls nicht gefragt wurde.“
Jens’ Speichel lief zusammen und spritzte mit den Worten an die Windschutzscheibe. „Sie wird sich keine Sorgen machen, weil sie nichts erfahren wird. Von Bunsel ja, aber über die anderen Typen darf kein Wort fallen.“
Werner umfasste den oberen Teil des Lenkrads, als wollte er es erwürgen.
„Was ist nun?“, fragte Jens und bekam keine Antwort. „Gut, dann halten wir unsere Versammlung eben hier in deiner verrosteten Karre zwischen Werkzeugkoffern ab – diesem hübschen, vertrauensbildenden Ort. Meinst du, der verunsicherten Marlies macht das Mut?“
Werner entspannte etwas die Fäuste und fuhr weiter.