Читать книгу Ich locke dich - Wolf L. Sinak - Страница 13
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Оглавление„Es wird Zeit für mich“, sagte Marlies in hoffnungsvollem Ton, der zu erkennen gab, dass ihre Unterhaltung Auftakt für weitere Begegnungen sein möge. Jens begleitete sie vor die Tür, nicht ihretwegen, sondern um die Lage zu checken. Im trüben Restlicht der Straßenbeleuchtung brachte die Mauer des Studios das Maß Optimismus hervor, das eine Friedhofsmauer ausstrahlt. Hier im Viertel wohnten zumeist ältere Menschen, die sich um neun Uhr abends in ihren Häusern verbarrikadierten und die Jalousien nur hochzogen, wenn draußen die Welt unterging.
Jens fiel der E-Klasse-Mercedes auf, der in einer anderen Ecke parkte als Marlies’ Fiat Bravo und sein BMW.
„Warum bleibst du stehen?“, fragte Marlies. „Gut, ich finde allein das Schlüsselloch meines Wagens.“ Sie ging weiter.
Jens strengte die Augen an. In dem Mercedes saß niemand. Aber er rechnete damit, dass jeden Augenblick zwei Oberkörper langsam aus der Liegeposition nach oben gingen wie Frankensteins Monster beim Verlassen des Tisches, auf dem es geschaffen wurde, und dass die Autotür sich öffnete und ein Streichholz davonflog.
Marlies hielt ihre Autotür in der Hand. „Ist was mit dem Mercedes? Manchmal stellen Nachbarn ihre Fahrzeuge hier ab, obwohl sie das nicht dürfen … Tschüss dann.“ Sie stieg ein, setzte zurück und durchfuhr das Tor. Jens hörte nur unterschwellig, dass ihr Auspuff eine Verstimmung hatte. Lungerten die Verbrecher hier irgendwo, würde er keine Macht besitzen, ihnen zu entkommen. Er ging rasch zurück ins Haus und schloss sich ein. Die nächsten fünf Minuten stand er bei ausgeschaltetem Licht am Fenster. Als er der Meinung war, dass die längst ausgestiegen sein müssten, drehte er das Licht voll auf – jede Lampe, für die er einen Schalter fand. Dann ging er das Studio nach Türen und Fenstern ab, die geöffnet sein konnten, und übersah dabei nicht die Unordnung. Werner war ein mustergültiger Trainer, außer Zweifel, aber er irrte in einer Welt der Existenzangst umher und übersah die vielen kleinen Notausstiege. Ihm musste klargemacht werden, dass er keine abgeschnittenen Muskeln trainierte, sondern Geschöpfe, die von Sinnen geleitet werden, auch jenen, die sich an Unordnung stören. Und Marlies müsste mehr Freiheiten bekommen. Brillant, ihre Idee, in den Einkaufszentren Flyer an Leute mit prallen Lebensmitteltaschen zu verteilen, um das Studio ins Spiel zu bringen, wo sie das Zeug wieder abtrainieren konnten. Sie hatte gesagt, ein schlechtes Gewissen bekämpfe man am besten, wenn es noch warm ist. Das hätte von ihm stammen können. Warum nicht zwanzig Euro für jedes abgenommene Kilo Fett kassieren? Und Werner? Dessen typische Gegenmeinung hörte Jens bereits jetzt: Die würden sich beim Nachwiegen Eisenstücke in den Arsch stecken, um nicht bezahlen zu müssen.
Wieder auf der Hantelbank, nahm er die mit sechzig Kilogramm bestückte Stange von der Gabel und drückte sie in die Höhe, ließ sie langsam herunter bis zur Berührung seines Brustkorbes, wieder hoch und runter, bis die Bewegung harte Arbeit wurde und er die Augen zusammenkniff. Höchstens noch eine Wiederholung, danach rechnete er damit, die Hantel zurück in die Gabel setzen zu müssen, wollte er nicht Gefahr laufen, die Eisenlast voll auf seinen Brustkorb zu bekommen. Allein zu trainieren war gefährlich. Er öffnete die Augen, um die Ablagegabeln zu orten, und musste sogleich zwinkern. Ein Streichholz kam von oben geflogen und traf ihn am Kinn. Das Blut gefror in seinen ausgestreckten Armen. Von hinten schob der Blondschopf sich über ihn. Ein skurriler Anblick, wenn Köpfe verkehrt herum übereinanderliegen und man in Augen wie auf Paranüsse schaut. Ein noch komischerer Kopf kam hinzu, rund und mit Doppelkinn über den Paranüssen.
„Hallöchen, wir sind es wieder“, sagte der blonde Kopf.
Jens ließ das Gewicht sinken, kam aber nicht weit. Zwei Hände verhinderten, dass er es in die Ablagegabeln fädelte. Eine gefährliche Stellung, in der die Hantel sich auf halber Armhöhe befand. Lange konnten seine angesäuerten Muskeln das nicht aushalten. Deshalb drückte er mit äußerster Kraft das Gewicht wieder nach oben.
Ein Schlüsselbund wurde ihm ins Blickfeld gehalten. „Wie schön, dass ich den guten alten Dietrich nicht aussortiert habe“, sagte der Blonde. „Es gibt immer Leute, die an ihren antiken Schlössern hängen wie an Erbstücken.“
Die verlassene Tür zum Abstellraum hinten am Haus, ging es Jens durch den Kopf. In diesem Augenblick hasste er Werner. Dass er nur ein Drittel der Lampen einschaltete, konnte man seinem Bemühen um eine gemütliche Atmosphäre zugutehalten. Ein paar Euros aber an einem Sicherheitsschloss zu sparen, war gefährlicher Geiz, schon versicherungstechnisch gesehen.
Das Blut floss aus seinen Armen und machte sie trocken wie die einer Mumie. Im Kopf sammelte es sich, um seinen Hals bekam er eine Wurst. Unendlich lange Sekunden vergingen. Seine zitternden Muskeln – sauer wie eine Zitrone – balancierten das Gewicht aus, und er glaubte, einzig und allein aus Armen zu bestehen, die zu einer weißen und schmerzenden Masse degenerierten und jeden Augenblick in sich zusammenfallen würden.
„Wie lange soll das noch gehen?“, krächzte er, kein bisschen über seine Stimme verwundert. Auf den Ablagegabeln zu beiden Seiten ruhten Hände; aus seinen weißen Händen spießten die Knöchel. Er bekam keine Antwort. Er wusste, wenn er erst einmal die Scharniere seiner Ellenbogen entriegelte, um die Arme einzuknicken, gab es kein Zurück. Dann würde das Eisen ihn verletzen. Je länger er der Stange trotzte, je später er sie herabließ, desto ungebremster würde sie ihn malträtieren. Er atmete tief ein, vernahm dabei den Mentolgeruch, löste die Spannung seiner Muskeln und wurde rasch von der Last begraben. Wie der Stoß einer Herzdruckmassage erreichte sie ihn und bildete eine Delle im Brustbein und mit der Wucht eines Lastkraftwagens kam Schmerz hinzu.
Brüllendes Gelächter seitens seiner Bewacher. Jens’ Atemzüge wurden kürzer und kamen aus dem Bauch heraus, wohin die Lunge noch Platz hatte, sich zu entfalten. Wie lange das Herz mitspielen würde, vermochte er nicht einzuschätzen. Er versuchte zu sprechen, und weil er keinen Ton herausbrachte, begriff er die Gefahr: Sein Brustkorb war Knete, in die sich kontinuierlich etwas eingrub, bis er tot war.
„Tief durchatmen, sonst platzt Kopf“, riet ihm der dicke Schweinehund. Das flimmernd schwarze Ende vor Augen, galt Jens’ Anstrengung einzig und allein dem Sauerstoffdefizit. Es gelang ihm nicht, genügend Luft in sich zu saugen. Eine Zwanzig-Kilo-Stange, die an den Enden mit sechzig Kilogramm Eisenscheiben beschwert war, verhinderte das. Was sie eindrückte, trat an seinen Venen als Wiener Würstchen hervor.
„Augen sehen aus wie von Frosch“, sagte der dicke Jurek besorgt.
„Gut jetzt, das reicht.“
Die Stimme, die das sagte, vernahm Jens benebelt aus der Ferne. Der Blonde kam, und Jens spürte, wie ein Amboss aus seiner Brust gezogen wurde. Er begann zu husten, abgehackt und sich überschlagend. In dieser Situation, die Ähnlichkeit mit einer Bronchitis hatte, wurde ihm die Herkunft des Menthols klar. Jurek schmierte seine Brust damit ein. Mit einem Korsett aus Schmerzen am Oberkörper setzte sich Jens auf und sah zu, wie beide Männer hinter dem Tresen herumstöberten. Jurek, der dicke Wachhund, machte sich sogar am Kühlschrank zu schaffen. Und er dehnte seinen Rundgang auf andere Räume aus.
„Wo ist die Kiste?“, rief der Blonde. Ihm hing wieder das reguläre Streichholz an den Lippen. „Ist sie in deinem Auto? Du solltest sie bei dir haben.“ Er kam langsam auf Jens zu. Die Revers seines Jacketts sperrten auseinander und lenkten den Blick auf eine alte Bekannte. Die Pistole im Hosenbund.
„Zu wenig Zeit“, antwortete Jens unter Schmerzen, „ihr habt mir zu wenig Zeit gelassen.“
Der Blonde blickte sich um. „Und in welchem Verhältnis stehst du zu diesem Laden hier? Training allein am Abend. Dir gehört das hier, nicht wahr? Möchte nicht wissen, wonach du deine Finger sonst noch ausgestreckt hast; das wird ja richtig unheimlich.“
„Glaub, was Du willst.“ Jens erwartete mindestens eine Ohrfeige. Aber der Blonde blieb ruhig und rief nach Jurek: „Hast du den Regler für die Sauna gefunden?“
Jurek bestätigte in seiner Sprache: „Tak. Und Wassereimer gefüllt. Machen anheimelnde Wärme.“ Er hängte seine Jacke über einen Stuhl. „Aufstehen!“
Zum Aufstehen motiviert wurde Jens von des Blonden rechter Hand, die unter dem Jackett verschwand, dahin wo der Ballermann steckte.
„Mir geht es nicht gut“, sagte Jens. „Noch nichts von Herzbeuteltamponade gehört? Das ist eine Druckerhöhung durch eine Blutung in den Herzbeutel hinein, die zum Tode führt.“
„Wie bitter.“ Jureks Hand leitete Jens quer durch den Geräteraum zu dem Gang, der zur Sauna führte. Der Blonde folgte pfeifend, ohne das Streichholz abgenommen zu haben. Schon am Solarium wurde Halt gemacht. Sie standen vor einem von drei Geräten, mit denen Jens sich nicht auskannte. Wer von der Sonne mit Röte statt Bräune bedacht wurde, machte gewöhnlich einen Bogen darum wie ein Einarmiger um eine Kreissäge. Black Power VX, stand auf dem Ding. Er wusste aus Gesprächen, dass das Werners Flaggschiff in Sachen Bräunung war. Die beiden Schalen mit den UV-Röhren sahen aus wie eine aufgeklappte Muschel oder wie ein geöffneter Sarg. Dorthin wurde Jens geschubst.
„Ihr seid wahnsinnig!“, schrie er. „Was erhofft ihr euch, wenn ihr mich röstet, tierische Befriedigung?“
Auf ihn gemünzt, bewirkte diese Bräunungsanlage einen mutagenen Rundumschlag, der auf seiner Haut kleine Atompilze keimen lassen würde. Er stellte sich in drei, vier Jahren den Hautkrebs vor – gesprenkelte Kleckse, wie von Vögeln hingeschissen, nur schwarzbraun. Man brauchte ihn bloß lange genug zwischen den Röhren festzuhalten.
Die Pistole war auf einmal an seinem Hinterkopf und nötigte ihn mit dirigierenden Bewegungen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Er legte sich hin und vernahm das Scheppern von Münzen, die den Automaten fütterten. Der Deckel senkte sich und nahm die Sicht auf den schwarzen Schnurrbart und die beiden in Stahl gefassten Kunststoffkronen, die Jens anlachten. Es wurde heiß, er war ein Sandwich im Ofen. Etwa zehn Minuten später erlosch das schrille Licht der Röhren und er durfte aussteigen. Seine Haut fühlte sich abgeschmirgelt an – wie geschaffen, daran ein Streichholz anzureißen. Und sie schrie nach etwas Feuchtfettigem.
„Ihr Verbrecher, ihr armseligen Verbrecher“, stammelte er mit pelziger Stimme, dunkle Flecken sehend, wohin er auch blickte.
„Los komm, wartet Station zwei.“
Kräftige Arme stießen Jens nach vorn. Die Sauna in der ehemaligen Fabrikhalle hatte keine Gardinen an den riesigen Fenstern. Draußen floss die Elster entlang. Kaum anzunehmen, dass im Dunkeln jemand durchs feuchte Gras stampfte und an den Fenstern Halt machte. Er war auf sich allein gestellt.
„Kannst Hose anlassen“, sagte Jurek und hielt wie ein Diener die Holztür zur Sauna offen.
Aber es bedurfte erst dem Anblick der Pistole, dass Jens hineinging. Sollte er den Gang überleben, würde der mit Schweiß vollgesogene, abkühlende Stoff der Hose seine morbide Kratzvorstellung nicht gerade entschärfen. Er setzte sich auf die unterste Stufe. In schadenfrohem Rosa lugten zwei Fratzen durch die Glasscheibe in der Tür wie Geisteskranke. Auf dem Thermometer sichtete er sechsundachtzig Grad. Er drehte die Sanduhr herum; es konnte ja sein, dass die Zeit der Qual später vor Gericht wichtig sein würde. Er schwitzte mehr als sonst, zweimal ging die Tür auf, und Jurek klatschte volle Ladungen Wasser auf die heißen Steine. Im Nu perlte und verdampfte es zischend, Jureks Mentholwolke lieferte die Zutat. Noch eine andere Zutat gab es bei Jureks zweitem Aufguss. Er furzte – es klang, als tat er das in seiner Muttersprache – und schloss hinter sich schnell die Tür.
Hier drinnen hatte Jens letzthin immer schöne Gedanken gehabt, seit er Steffi kannte. Jetzt konnten die Holzlatten zu seinem Totenbett werden. Neu bewertet war das, was das Leben vorantrieb, nicht der Hang am Dasein, sondern die Angst vor dem schrecklichsten aller Tode, dem schmerzhaften und langsamen. Nach einer Ewigkeit öffneten sie ihm die Tür.
„Duschen verboten“, feixte Jurek.
Jens setzte sich schweißnass auf eine Pritsche und schaute im Pulsschlag der Hitze zu, wie Jureks dicke Hand ein Stück groben Strick von einer Rolle schnitt. „Hände auf Rücken.“
Die herausspießenden harten Fasern besaßen ein enormes Kratzpotential auf nasser Haut, erkannte Jens sofort und vergrub die Hände in den Schoß.
Augenblicklich bekam er gezeigt, dass man mit einer Pistole nicht nur schießen konnte. Der Lauf knallte gegen seinen Nacken, dass er aufschrie und eine Zeit lang benebelt umherblickte. Zwischen dem Beifügen von ein paar Sekunden Bewusstlosigkeit mittels definierten Schlags und einem Schädelbruch lagen etliche Jahre Praktikum in der Unterwelt, nahm Jens an, als er wieder klar denken konnte und seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Derweil leerte Jurek die mitgebrachte Reisetasche. Eine Tube Sonnenschutzmittel mit Faktor fünfzig, ein Glas Honig und ein Glas Marmelade, mehr konnte Jens nicht sehen.
„Beste kommt noch“, sagte der feiste Ausländer und ging zum Kühlschrank, dem er eine Wolldecke entnahm. Jens erspähte ihre Stacheln aus zehn Meter Entfernung – Kennzeichen der kratzbürstigsten aller Schafe, die es je gegeben hatte, der Urschafe. Rückzüchtungen mit besonderer Wertschätzung grober Grannenhaare. Jurek strich mit der Hand über die Decke und tat, als piesackte sie ihn. Er schüttelte sich. „Huuuu!“
Jens schüttelte sich auch. Jetzt, da er erkannte, worum es Jurek ging, berührten sich zwei Drähte in ihm. Er konnte nicht auseinanderhalten, was zuerst funkte, der Stich in seinem Herzen oder der Blitz auf dem Rücken, wo Gänsehaut aufschoss. Nur nichts zugeben, entschied er, die nutzten jede Schwäche aus. Er tat so, als wunderte er sich über diesen Mumpitz. Auf einmal hob Jurek die Videokamera, die sie ihm in seiner Wohnung abgenommen hatten, aus der Tasche. Jens fiel die Kinnlade herunter. Steffi hatte ihn gefilmt, als er freimütig über seine klebrig kratzende Macke geplaudert hatte. Der Blonde steckte ein neues Streichholz zwischen die Lippen und setzte sich neben Jens. Sein leiser Ton in der Stimme machte alles nur noch schlimmer. „Am besten bekämpft man seine Marotten, indem man sich ihnen stellt.“
Es gab bestimmt nur wenig Menschen, die bei einem Gedanken wahnsinnig werden konnten. Jens war der Vorsteher dieser kleinen Gruppe. Hinter den Gefängnisstäben seiner Besessenheit war es ohne Bedeutung, dass die Vorstellung den physikalischen Beweis schuldete, eiskalte Wolle und Honig ergänzten sich zu einem Reibeisen, wenn seine Haut ins Spiel kam.
Jurek drückte ihn auf die Pritsche. Seinen Körper und die Holzlatten umwickelte er mehrfach mit diesem beschissenen Strick. Alles tat weh, verblasste aber angesichts der verbrannten Haut, die unter Spannung stand wie eine festgezurrte Plane. Unterbewusst hörte er, wie draußen das Telefon klingelte.
„Können mehr als nur eure Autos klauen, wirst gleich sehen“, flüsterte Jurek ihm ins Ohr. Jetzt wusste Jens, dass Jurek ein polnischer Name war. Der Blonde klappte eine Liege hoch und machte es sich darauf bequem. Aus der ausgebreiteten Decke spießten Haare wie kalte Igelstacheln. Sie dampfte vor Kälte.
„Igitt, klebt ja“, sagte der dralle Henker und strich mit dem Finger Honig an der Decke ab. Das Arschgesicht konnte sich gar nicht wieder beruhigen vor igittigitt! Jens zügelte seine Spuckmuskeln, ihm etwas ins Gesicht zu geben.
„Habe Video studiert“, sagte Jurek. „Und Leckerli für dich. Dachte, bisschen Sonnencreme kann nicht schaden, schön zäh.“ Er schraubte den Deckel von der Tube und hielt sie hoch über Jens’ verschwitzten Rücken, der in seiner Ziegelröte unregelmäßig gemustert sein musste, so wie es seine gesamte Haut war. Die Komposition aus Sonnenbrand und gestauter Hitze erinnerte Jens an Leichenflecke. In ständigem Kampf mit den sinnlosen Gefühlen seiner Manie hatte er es gelernt, mit ihr auszukommen. Dass der schlimmste seiner Alpträume jemals wahr werden würde, war so unwahrscheinlich gewesen wie der Fall, dass eines Tages vor der Tür eines Schizophrenen körperhaft sein zweites Ich dastünde. Jetzt war alles ungültig, und der Dicke lag nicht falsch mit seiner Annahme, mehrere Einreibemittel würden die Qual noch steigern. Da half Jens die akademische Einsicht nichts, dass etwas Gleitmittelweiches wie Sonnenmilch Borsten zähmte, statt sie noch härter zu machen.
Er reckte seinen Hals zur Seite und sah am Rand seines Gesichtsfeldes mit Tellerminen von Augen, wie eine lange weiße Wurst die Tube verließ und sich ihm entgegenschlängelte.
Doktor Jens Klemmer fing an zu schreien.
Sein breiter Rücken war wie geschaffen für eine halbe Tube zähe Sonnenschutzcreme. Der Handballen des dicken Henkers verrieb sie in großen Kreisen, bis die Vermischung mit dem Schweiß eine emulsionsartige, glitschig dicke Flüssigkeit ergab. Der Blonde steuerte große Kleckse Honig und Marmelade bei.
„Nicht in deiner Haut stecken möchte ich, ganz bestimmt nicht“, sagte Jurek schnaufend. Jens machte sich eine lebhafte Vorstellung von den Zutaten auf seinem Rücken und der bevorstehenden Mutter aller Foltern. Auf seiner Gänsehaut hätte man rohe Kartoffeln reiben können.
„Wie fühlt sich Pasta an?“ Jurek war außer Atem. „Ist wie Leim. Hab Angst, Haut von dir wird an Wolldecke kleben bleiben, wenn ich herunterziehe. Und das muss ich. Decke ist Erbe von Großvater. Darin war Silber eingewickelt im Kofferraum auf Fahrt von Polen nach Deutschland.“
Der Blonde sah fasziniert zu. Beinahe hätte er ein zweites Streichholz an seine Lippen gehängt.
„Wegen Kratzer auf Silber, weißt du“, fuhr Jurek fort und bearbeitete den Rücken wie ein schwatzhafter Masseur, „habe ich nur halben Preis für Silber bekommen. Hätte weiche Decke nehmen sollen …“
„Steck dir deine Decke in den Arsch“, schrie Jens, dass ihm fast die Halsvenen platzten. Daraufhin eröffnete Jurek das Finale, indem er Jens die Decke kurz an die Wange hielt. Kälte umgab sie wie eine Aura, und als wäre sie eine hypnotische Pinnwand, heftete sich Jens’ Blick an sie.
Seine Großmutter meldete sich zu Wort. Ihre fast vergessene Stimme durchdrang ihn wie in seiner Kindheit, als sie ihm die Einbildungskraft ausmerzen wollte und Wolle und Marmelade in die Hände nahm. ‚Wir schwitzen alle einmal, Jensilein, dadurch wird die Wolle nur weicher. Fühle, wie dieser Pullover von der Marmelade gebändigt wird.‘
Danke für den Versuch Oma. Ihm wurde schlecht.
Unablässig quasselte die Akzentstimme von Jurek weiter: „War gute Idee von mir. Wo sonst außer in Wüste schwitzt und bratet man? In Sauna und Solarium.“ Den letzten Satz formte er zu einer langgezogenen Melodie.
Oma, sprich weiter, bat Jens hinter geschlossenen Augen. Sie war eine einfache Frau gewesen, fest in ihrer Liebe. Jens verspürte sie wie einen Rüssel aus dem Jenseits, an dem er saugen sollte.
Aber nicht sie sprach weiter, sondern Jurek. „So, bin so weit. Werde Decke wickeln um dich und Schnur straff darum, bis Luft wegbleibt … War nur Scherz, sollst genießen, worauf lange gewartet.“
Jens’ Kraft war verpulvert. Er ergab sich dem, was ihm aschgrau vor Augen flackerte wie der Schatten des Todes, ließ seine Muskeln erschlaffen und dem Drehen in seinem Kopf freien Lauf. Seine linke Wange klebte auf dem Holz der Pritsche. Noch zu früh, um ohnmächtig zu werden. Jens Klemmer war Sportler gewesen. Die Befähigung zu einer kurzen physischen Erholungsphase steckte in ihm wie zu seinen Glanzzeiten. Er würde fit sein und nicht ohnmächtig, wenn die graue Decke pikend Rücken und Beine bedeckte. Er würde den Höhepunkt erleben: die widerwärtige Vereinigung von seiner klebrig konditionierten Haut und von Wollborsten, die über Jahrzehnte ihre Robustheit beibehalten hatten, weil der Großvater des irren Polen sie gewartet hatte wie Sägeblätter.
Kaum zu Ende gedacht, drückte flächendeckend etwas Eiskaltes und Hartes auf seine Rückseite. Die Gänsehaut explodierte. Dann stopften Hände die Decke rabiat unter seinen Bauch und führten einen Strick herum. Ein Riss durchfuhr Jens und trennte jedwede Vernunft von ihm ab. Was übrig blieb, waren Zuckungen eines Versuchsfrosches – der nervale Grundstock eines jeden Menschens, auch eines, der wie Doktor Jens Klemmer mit der Begabung aufwartete, andere Menschen durch Seelenruhe in seinen Bann zu ziehen.
Als die Schnüre den Druck erhöhten, wuchs die Zwangsvorstellung von dem, was sich auf seinem Rücken abspielte, wie durch ein Vergrößerungsglas. Ein Arsenal von Reibeisen und aufgerolltem Stacheldraht beackerte seine Haut, grub von Honig und Marmelade triefende Stacheln hinein und hinterließ ein Muster blutiger Furchen, in denen entwurzelte Härchen schwammen. Ein offenes Krebsgeschwür, das so fürchterlich kratzte, dass nur der Sprung von einem Hochhaus die Erlösung brächte. Wie einfach, dachte Jens. Es war zum Lachen. Und er keckerte ungehemmt die hohen Töne, die hinter den Türen von Irrenhäusern zu hören sind.
Bis eine unsichtbare Zeitschaltung das Lachen abrupt beendete. Er erblickte einen anderen Menschen als seine Peiniger.
Die Tür des Studios war verschlossen. Und Marlies’ Schlüssel scheiterte an Jens’ Schlüssel, der innen ansteckte.
Ihr war es gelungen, gegen die genierlichen Rückzugsfedern in ihrem Denken anzugehen und zum Studio zurückgefahren. Einen Vorwand hatte sie, sie würde ihm sagen, dass sie ein Gefühl der Unruhe in sich trug, weil er wegen des Mercedes auf dem Hof so eigenartig reagiert hatte. Wenigstens sehen wollte sie ihn. Also trat sie auf die Kiste mit Streusand vor dem linken Fenster und schaute in den ungewöhnlich hell erleuchteten Raum. Kein Jens weit und breit. Bestimmt duschte er gerade oder war in der Sauna. Sie kicherte und machte sich auf den Weg hinters Haus. Jenseits der Parkplatzmauer und des Gehweges wurde es uneben, die Betonplatten endeten im Gelände. Auch dunkel war es hier weitab der Straßenbeleuchtung, und sie fragte sich, wer wohl mehr in Gefahr schwebte, er oder sie. Hinter einer Baumgruppe wurde es heller. Die Elster floss nach abfallendem Gelände silbrig getüpfelt vorbei und die Saunafenster projizierten Lichtflecke auf die Grasfläche.
Sie trat an ein Fenster. Zuerst sah sie die komfortablen Liegen im Ruheraum. Am Tag war es herrlich, drinnen zu liegen, nach draußen zu schauen und sich vom Wasser des Flusses beruhigen zu lassen. Dann nahm sie einen kleinen dicken Mann wahr, der sich über etwas beugte, dann einen anderen Mann auf einer Liege sitzend. Er sah dem Dicken bei irgendeiner Arbeit zu. Marlies stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte unter dem dicken Mann eine Gestalt auf der Pritsche. Mit roten Haaren, nass zusammengeklebt.
Jens lag dort auf dem Bauch!
Ihre Skelettmuskeln schalteten auf starr. Außerstande, dem, was sie sah, logische Fakten zuzuordnen, überfiel Marlies die Vorstellung vom zusammengerollten Teppich, in dem man eine Leiche entsorgt. Jens stand kurz vor dem Abtransport. Der Mann band resolut die Schnüre zusammen. Aber dass der Teppich viel zu klein war, ihn komplett einzuhüllen, entging ihrer dezimierten Auffassungsgabe.
Und das Gesicht von Jens: eine in rotes Wachs geritzte Fratze, die das Ganze auch noch komisch fand. Aber er lebte. Erstmals war Marlies fähig zurückzuzucken, sie schaute sich um, ob sie mit diesem ungeheuerlichen Vorfall alleine war. Niemand zu sehen. Nur die schwarze Weite der Freiheit. Ihr Blick suchte noch einmal Jens, und jetzt trafen ihre Blicke aufeinander. Erst die Verbrecher, die das bemerkt hatten und zur Tür hinaus in den Gang stürmten, rissen sie aus ihrer Lethargie. Sie rannte entlang des Pfades, den sie getreten hatte, kam in der Dunkelheit davon ab, stieß schmerzhaft gegen eine Schubkarre oder einen Handwagen und bremste ab, als sie durch das kümmerliche Hell des Weges einen Schatten sich bewegen sah. Langsam trabte sie zurück, steigerte das Tempo kraft ihrer gedrillten Beine, bis der Wind um ihre Ohren pfiff und das Gras schneidend wurde. Sie gelangte die Böschung hinab zu hohen Sträuchern und kauerte sich dazwischen. Nach einer Weile hörte sie das Rascheln durchstreifender Beine. Der schwenkende Lichtstrahl, der zu einer Taschenlampe gehörte, tauchte auf und kam ausgerechnet in ihre Richtung. Lauer Wind, der aus derselben Richtung wehte, hatte die Frische von Menthol.
Marlies presste die Muskelpakete ihrer Oberschenkel an die Brust; kaum, dass sie noch atmete. Von dem Schatten, der die Taschenlampe hielt, löste sich ein Teil und fächerte sich vor ihren Augen in kurze, kräftige Finger auf. Sie sprang seitlich weg wie ein Reh in Todesangst, stolperte über ein Hindernis und fiel in einen harten Strauch; es war der Fuß des Mannes, der ihre Flucht verhindert hatte. Die Taschenlampe erlosch.
„Nicht eilig sein, junge Frau. Hier draußen allerlei Getier … deshalb bleiben hier.“ Die Stimme ging in ein gedrosseltes Lachen über. Der Mann drückte sie noch tiefer in den Busch und tätschelte ihren Hintern. „Wenn Schrei, kleine Hure, dann dein letzter!“
Ein besonderer Antrieb, den Sportler besaßen, davon war sie später überzeugt, hatte seinen Ursprung in den hochgezüchteten Muskeln, die wie scharrende Hufe in Startlöschern saßen – ein autonomes, aufmüpfiges Element, das Auslauf forderte. In diesem Sinne zog Marlies sich noch tiefer in den Busch, um Freiraum für eine Drehung zu gewinnen. Bei dem anschließenden Wälzer zur Seite gelang es ihr, das rechte Bein nach außen zu strecken und es mit einem mächtigen Schlag in die Flanke des Mannes zu hauen. Gleich darauf vollführte sie eine weitere halbe Drehung und legte dem Mann, der aus seinem Konzept geraten war, ihre Beine um den Hals. Gerade das zu machen war sporadisch von ihren Oberschenkeln gelenkt, dieser gewaltigen Anhäufung von Muskeln, so umfassend und komplex, dass sie den Anschein erweckten, eine eigenständige Intelligenz entwickelt zu haben. Halb zog sie den Mann zu sich heran, halb hangelte sie sich an ihm hoch, bis sein bulliger Kopf nahe der Stelle war, wo Jens ihn hatte, als sie von seiner Frau erwischt wurden. Mit den Oberschenkeln drückte sie die Seelen aus den Leibern. Ihrem und seinem. Es war zu dunkel und von der Seite nicht möglich, in das verzerrte Gesicht des Mannes zu blicken, dessen Hals in der Mangel einer Anakonda steckt. Aber sie stellte sich vor, was mit seinen Augen passierte, die auf einem Treibsatz saßen. Darauf konzentrierte sie sich, nicht auf seine Faustschläge, die ihre Beine bearbeiteten und am Stahl ihrer Muskeln abprallten wie Querschläger und die daraufhin versuchten, rücklings zu schlagen, aber am Lattenrost ihrer Arme scheiterten und den Unterleib verfehlten. Der Mann erhob sich und probierte, den weiblichen Schraubstock von sich wegzuschleudern. Marlies hing an ihm wie ein siamesischer Zwilling, schleifte durch das Gebüsch, hinterließ Fetzen ihrer Jacke an den Ästen. Das dauerte nicht lange, er sackte zu Boden mit schläfrigen Bewegungen, die an ein Fortkommen im Wasser erinnerten. Marlies wurde bewusst, dass Mund und Nase des Mannes Opfer ihres Oberschenkelumfanges waren. Darauf fixiert, spürte sie ein kaum merkliches Nagen an der Innenseite ihres rechten Beines. Es musste der Todeskampf sein, in dem der Mann versuchte sie zu beißen. Sie drückte noch eine Weile, dann löste sie langsam die Spannung und beobachtete jede seiner zuckenden Bewegungen, die sich gegen den nicht so dunklen Himmel abzeichneten. Ohne die beinerne Halskrause sackte der Mann zusammen und hustete wie nach einem Wohnungsbrand. Das Röhren von Mageninhalt ertönte. Sie kannte die Situation aus Filmen, in denen man die Gefahr als gebannt glaubte und dann blitzschnell am Knöchel gepackt wurde. Abrupt trat sie von ihm weg und lief gebückt bergauf, so schnell es ging, einer anderen Route folgend, als sie gekommen war, getrieben von Todesangst und dem Drang, Jens zurückzubekommen, wo sie ihn doch nie besessen hatte. Das Gestrüpp wurde dichter und spickte sie mit Dornen und Ästen. Sie rannte gegen etwas und federte zurück. Ein Maschendrahtzaun, der in der dunklen Umgebung der Büsche nicht zu sehen war, ein zwei Meter hohes Überbleibsel der alten Fabrik. Beflügelt durch die Vorstellung, der Dicke hätte sich erholt und sei ihr auf den Fersen, bedurfte es nur ein paar Griffe in die Maschen und Marlies’ linkes Bein schwang wie eine Wurfschleuder über das Hindernis und zog den Körper mit. Sie rannte vor zur Straße und hörte ein Auto starten. Im Schutze eins Baumes erwartete sie, den Mercedes mit quietschenden Reifen vom Parkplatz brausen zu sehen, wurde aber von der Gemächlichkeit überrascht, mit der das Fahrzeug aus dem Tor bog und die Straße bis zur Kreuzung fuhr, wo es sich in den Verkehr einfädelte.
Sie fand Jens an derselben Stelle, an der sie ihn durch die Scheibe gesehen hatte. Er lag gefesselt und in eine hässliche Decke gewickelt auf einer Pritsche, deren Holz dunkel vom Schweiß war. So hatte sie noch keinen Menschen schwitzen sehen.
„Marlies, du Retter! Meine Oma lag falsch, es kratzt nicht nur, es tut sogar weh …“ Er schaute sie mit flehentlichen Augen an. „Zieh mir die Stacheln aus der Haut.“
„Was haben die mit dir gemacht?“
„Du musst die Decke entfernen, sofort.“
„Soll ich nicht zuerst die Polizei verständigen, die Typen sind getürmt …“
„Nein, verflucht. Zuerst losbinden.“
Sie knotete die Stricke auf und hob die Decke von seinem Rücken. Ihr offenbarte sich eine seltsam geleeartige Masse, in der sich die grob strukturierte Decke abzeichnete, in der aber keine Stacheln steckten. Die Haut darunter war etwas gerötet – im Grunde genommen kein Anblick, der sie erschrecken ließ.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Du musst noch meine Fesseln lösen!“ Er rüttelte mit Handgelenken und Unterschenkeln an den verbliebenen Stricken, wie um ihr zu zeigen, dass sie schwerfällig kapierte.
Sie hatte mit einer Blutlache gerechnet, die von der Wolldecke gehindert wurde, über Jens’ Seiten abzulaufen, und darin zahlreiche Glassplitter oder so etwas Ähnliches, und sie hatte ein augenblickliches Zusammenschlagen seiner Zähne erwartet, als sie die Decke abzog – eine Reaktion auf den Schmerz, in den sich dieser Mann verbeißen würde. Stattdessen, kaum zu glauben, war der Rücken mit Ingredienzen glasiert, die aus Honig- und Marmeladegläsern und einer Tube Sonnenschutzcreme stammten. Und es handelte sich nur um eine Decke, wenn auch abstoßend grob und unschön in ihrer grauschmutzigen Farbe.
Sie befreite seine Arme und Beine und hockte sich direkt vor Jens, der sich aufgesetzt hatte.
„Was geht hier vor, Jens?“
„Das siehst du doch. Ich wurde gefoltert.“ Seine Augen waren Gruben des Unverständnisses. „Ist von meiner Haut noch was übrig?“ Er sah verzerrt über seine Schulter, mehr schematisch als effektiv.
„Außer dass du schweißnass bist, fehlt deiner Haut gar nichts. Die sämige Schönheitspackung auf deinem Rücken ist gewiss kein Grund zum Sterben.“
„Gut, lassen wir das. Ein andermal.“ Sein leerer Blick füllte sich mit Substanz.
„Jens, einer der Kerle hat mich erwischt und hätte mich fast … Ich meine, mir ist es gelungen, ihn von mir fernzuhalten. Da sagst du ein andermal?“
Keine Antwort. „Gut, dann rufe ich jetzt die Polizei.“ Sie stand auf, aber er drückte ihre Schultern wieder nach unten.
„Mädel, du siehst ja selbst, das hier ist alles mehr oder weniger ein Scherz. Honig: wie giftig. Sonnenschutzmittel: wie schädlich. Lachhaft, nicht war? … Welcher der Männer war es?“
„Der mit dem weißen Hemd, kräftig gebaut. Ich habe ihn in den Schwitzkasten meiner Beine genommen.“ Sie kam gegen den Stich Röte an Ohren und Jochbeinen nicht an. Jens schmunzelte und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. „Es ist doch nichts passiert, oder?“
Sie schlug die Hände weg und stand auf.
„Warte!“ Er wankte einen Moment und holte sie an der Tür ein. „Hör zu, wir haben beide noch mal Glück gehabt. Die Sache ist verdammt kompliziert. Einfach die Polizei zu verständigen, aus dem Affekt heraus, macht alles noch komplizierter.“
„Kompliziert? Bei mir war die Sache einfach. Das Schwein hat mich an den Arsch gefasst. Hätte ich mich nicht gewehrt, stünde ich jetzt entweder stundenlang unter der Dusche oder wäre tot!“
„Quatsch, hier geht es nicht um Mord.“
„Wenn ich für die nun eine unliebsame Zeugin bin?“
„Eine Zeugin wofür? Für einen Schabernack? Ich kenne die – unter anderen Umständen ganz passable Kerle. Die bereuen sicher jetzt schon ihren Ausrutscher und du siehst sie nie wieder.“
„Ja, weil ich mich verstecke oder die Polizei mich in Schutzhaft nimmt.“
„Unsinn, Unsinn, Unsinn.“
„Und wer sind die?“
„Lass mich erst mal duschen, ich klebe wie ’ne frisch geteerte Straße.“ Jens verschwand hinter dem Raumteiler, der die Kaltduschen abschirmte. Das Wasser plätscherte. Er stöhnte nicht wie im Kälteschock, eher wollüstig.
Was geschah hier wirklich? Marlies bemühte sich gedanklich, Perlen der Vorkommnisse auf einen Faden zu schieben.
Erste Perle: Jens wird gewaltsam eingeschmiert und eingewickelt wie ein Palatschinken.
Zweite Perle: Wer dem zusieht, wird gejagt.
Dritte Perle: Die schrecken nicht vor sexueller Gewalt zurück.
Stellte sich nur noch die Frage, wer die Männer waren. Sie hatte von studentischen Umtrieben gehört, von diesen ewigen Pennälern, die Streiche ausheckten, wenn andere ihres Alters schon arbeiten gingen. War es nicht so, dass man sich zwanzig Jahre später wieder traf und sich nach ein paar Bierchen der Kommilitoninnen erinnerte, deren Slipeinlagen man mit weißem Pfeffer bestreut hatte oder Tampons mit einem Wasserstoffperoxid-Präparat, damit das Blut schäumte? Sicher gab es das. Aber die Männer, so kurz sie ihrer auch ansichtig geworden war, waren von einem anderen Schlag, als dass sie in einen Zusammenhang mit Jens’ Vergangenheit passten. Tut mir leid Jens, aber ich glaube, es steckt was anderes dahinter.
Das Plätschern hörte auf. „Könntest du mir bitte ein Handtuch geben?“, bat Jens. Marlies ergriff die Wolldecke, die sich nasskalt und hart anfühlte, und hielt stattdessen sie an den Raumteiler.
„Hier.“
Jens’ nackter Arm griff um die Ecke, fasste zu und ließ die Decke sofort wieder fallen. Wurfsterne von Augen erschienen neben dem Raumteiler. „Immer gut für einen Scherz, die kleine Marlies.“
Sie ging und holte ein Handtuch aus dem Regal. Beim Abtrocknen hinter dem Raumteiler sprach er mit ihr.
„Verrückte Burschen, die vom Sportclub damals. Ich musste mal erwähnt haben, dass das Schlimmste am Mittelalter für mich das Teeren und Federn war. Und weil sie jetzt glaubten, noch eine alte Rechnung begleichen zu müssen, strengten sie ihr Gedächtnis an und wurden fündig. Statt Teer und Federn nahmen sie Honig, Marmelade und Wolle. Schwamm drüber. Jetzt ist es vorbei, dank deiner Entschlossenheit.“ Er kam hervor und hatte die Unterhose an.
Sie sagte nichts, betrachtete nur ihre Fingernägel, weil es ihr angebracht erschien, nicht sein Dummerli zu spielen.
„Werner wird dir das bestätigen, denn der kennt die Typen auch.“
„Ausgerechnet an dem Abend in zehn Jahren, an dem Werner mal nicht anwesend ist, passiert hier was“, sagte Marlies.
Jens kam auf sie zu. „Wie siehst du denn aus?“ Er hob vorsichtig einen ihrer Arme hoch.
„Wenn dir das jetzt schon auffällt“, sagte sie, „dass meine Klamotten nicht mal mehr für die Rotkreuzsammlung taugen, dann herzlichen Dank für das Mitgefühl.“
„Selbstverständlich komme ich für den Schaden auf.“
„Ich glaube, der Schaden ist größer.“
„Verzeihung, ich habe die Angst vergessen, die dich sicher noch eine Weile quälen wird.“
Wurde auch Zeit, dass er verstand. Aber er war nicht mehr der, zu dem sie sich vorbehaltlos hingezogen fühlte. „Und welche Rolle spielt deine Oma?“
Seine Lippen schienen zu einer Antwort bereit zu sein, mehr aber auch nicht.
„Gut, lassen wir das.“ Sie war zu anständig, in einer frischen Wunde zu bohren.
Ohne etwas zu sagen, begannen beide mit dem Aufräumen. Jens rückte die Liegen und die Pritschen zurecht, Marlies hob die Wolldecke auf und wischte die klebrigen Überreste zusammen. Jens’ Blick, der sie dabei verfolgte, befand sich in der schaurigen Faszination von etwas Ekelerregendem, die einen üblicherweise nicht angesichts einer lumpigen Wolldecke ergreift, sondern eher bei einer sich im Stadium der Verwesung befindlichen Kuhhaut.
Nur zwei Minuten später hatte Jens die Hand am Lichtschalter und schaute sich noch einmal detektivisch um. „Bist du sicher, keine Marmelade übersehen zu haben?“ Er wischte über seine Arme, die von einer Gänsehaut überzogen waren. Marlies wunderte sich darüber, denn im Saunabereich war es noch warm.
Vorn am Tresen half er ihr beim Abputzen der Kleidung und übernahm die Rückseite. Seine Gedanken aber loteten den eigenen Rücken aus. Von wegen sämige Schönheitspackung. Überdeutlich spürte er Wollhaare im Hackfleisch seiner Haut.
Maries würde sich nicht abhalten lassen, die Polizei einzuschalten. Ihr Herz schlug nicht in einer Existenz, die so sensibel war wie eine Zahnarztpraxis. Was, wenn die Dreckskerle die Praxis nachts verwüsteten, während Polizisten ihn zu Hause bewachten? Überall konnten die nicht sein. Realitätssinn war da ein besserer Partner. Und sein dermatologisch geschändeter Rücken war ein Stück dieser Realität.
„Könntest du die Vorkommnisse für dich behalten, ohne die kleinste Ausnahme? Es wäre sehr wichtig für mich.“
Sie starrte auf das fast leere Glas Honig, das auf dem Tresen stand wie ein Corpus Delicti und noch nicht dem Mülleimer übergeben worden war. Das Schwein vorhin hatte seinen Finger in den Honig getaucht und ihn ungenießbar gemacht.
„Fürs Erste ja. Mehr kann ich nicht versprechen. Ich muss über alles nachdenken. Niemandem etwas zu sagen ist viel, was du verlangst.“ Jetzt schaute sie ihn an, als wäre eine Gegenleistung das Mindeste. „Wie dachtest du, soll es weitergehen?“
Auf die Frage hatte er gewartet. Er erinnerte sich der Wärme ihrer Schenkel. Ein trainierter, fettarmer Körper, dargeboten mit einer jungenhaft netten Art. Da spielte ihr mittelmäßiges Aussehen eine verdammt untergeordnete Rolle. Er hingegen rangierte in jener Altersklasse, in der man für vergleichbare Angebote Geld hinblättern musste.
„Uns beide trennen siebzehn Jahre, Marlies. Ich bin nicht sicher, ob du in zwanzig Jahren einen alten Esel wie mich nicht lieber im Tierheim abgeben würdest.“
Marlies schaute genervt gen Decke. „Ich meine nicht unsere Beziehung … Dieses Thema ein andermal. Meine Stimmung ist am Boden. Was ich durch das Fenster gesehen habe, machte nicht den Eindruck eines harmlosen Streiches alter Sportsfreunde. Vom Alter her hat der blonde Mann im Kindergarten geturnt, als du auf der Sportschule warst.“
Jens nickte, was sollte er sonst tun? Zum Glück klingelte das Telefon auf dem Tresen neben Marlies.
„Ach du, Werner. Hier ist Marlies … Wieso, so ungewöhnlich spät ist es nicht …“ Sie gab Jens den Hörer.
Jens hörte Werners kichernde Stimme, noch bevor er sie direkt am Ohr hatte. „Das nennt man hundertprozentige Nutzung der Gelegenheit“, sagte Werner. „Habt ihr wenigstens sauber gemacht. Frühmorgens begleiten oft Kinder ihre trainierenden Mütter. Ich will nicht, dass die was finden.“ Jens sah im Geist Werners Zähne und die zurückgeschlagenen Lippen, die ein Pferd nachahmten, das einen Lachkrampf erleidet. „Ich habe mir Sorgen gemacht“, fuhr Werner fort, „weil du nicht an den Apparat gegangen bist. Hättest ja sagen können, dass du Marlies dabehalten hast.“
„Du phantasierst mal wieder. Gibt’s was Neues?“
„Alles ruhig, Bunsel scheint woanders zu pennen. Los, sag schon, habt ihre die Kopf-Nummer fortgesetzt? Du weißt schon, die sauerstoffarme Stellung, in der Renate euch erwischt hat …“
Jens grinste Marlies steif was vor. „Ich lasse jetzt Marlies mithören, sonst denkt sie, wir hätten Heimlichkeiten.“ Er drückte die Lautsprechertaste, worauf im Raum nur noch das letzte Wort von Werners Satz zu hören war. „… Spielverderber“.
Nicht schlecht, dachte Jens. Marlies könnte das Wort auf den angeblichen Streich von der Sportschule beziehen. Aber sie war offenbar nicht in der Stimmung für eine Konversation mit Werner und drückte die Lautsprechertaste wieder aus. Tränen liefen über ihre Wangen, wo sich frische rote Kratzspuren kreuzten. Ihre Haare waren zerzaust und in ihrem Inneren steckte Angst mit einem langen Verfallsdatum. Er nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Schulter. Mehr nicht. Mehr durfte er nicht tun. Krächzende Laute wie aus einem alten Grammophon drangen aus dem Telefon.
Er drückte die Aus-Taste.