Читать книгу Ich locke dich - Wolf L. Sinak - Страница 9
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ОглавлениеAm Montagmorgen hörte Anna zunächst sanfte, dann schrille Töne und kam dahinter, dass es nicht die Stimme der Eisentraut war, sondern der Wecker.
Sie sprang aus dem Bett. Heute wollte sie nicht der Prügelknabe dafür sein, dass der Eisentraut schon mit Ende vierzig das Kinn stoppelte. Eine Stunde später kam sie in der Praxis an, halb nass vom Regen. Sie dachte an ihre Mutter, die gestern aus Südtirol angerufen und von einem Sonnenbrand geschwärmt hatte.
Der Geruch von Fendi verriet, dass die Eisentraut bereits durch die Zimmer geisterte. Anna verzog sich in den Umkleideraum und machte aus ihren langen Haaren einen Pferdeschwanz. Da spazierte Doktor Bunsel herein, als wäre das hier öffentlich.
„Weitermachen!“ Er lächelte. „Das sagt der Vorgesetzte den Soldaten, wenn er die zum Gruß Strammstehenden auffordert, die Tätigkeit fortzusetzen, mit der sie zuvor beschäftigt waren.“
Anna nahm die Arme herunter. „Sehr interessant. Aber könnten Sie vorher anklopfen, wir sind nicht beim Bund.“
Bunsel erklärte ihr, dass er sich wegen Platzmangels bei den Helferinnen umzog, und bewunderte sogleich ihr schwarz glänzendes Haar, dessen Herkunft seiner Meinung nach eine dominante genetische Linie voraussetzte. Anna spürte einen Schwapp Röte im Gesicht.
„Um zu solchem Haar zu kommen, muss vor wenigen Generationen eine Spanierin in deinen Stammbaum geraten sein, eine, die zu Zuchtzwecken taugte.“
Anna wusste nicht, wie sie das auffassen sollte. Es klang eher positiv. Deshalb machte sie ihren Rücken etwas krumm und zog die Schultern vor; andersherum wäre ihre Brustlosigkeit sofort ins Auge gefallen. Eine Spanierin, überlegte sie, wusste aber nichts von solchen Vorfahren. Dann müsste die stoppelige Eisentraut Kaiser Barbarossa in direkter Linie gefolgt sein. Der Witz des Monats.
Die erste Patientin war Frau Beate Zarusch. Ihre Schwellung war größer geworden. Anna assistierte Doktor Bunsel und ein bisschen klopfte ihr Herz wie am 1. September beim Start ins Berufsleben. Frau Zarusch war auch nicht locker, ihre Hände zitternden. Anna dachte an Parkinson.
„Jetzt beruhigen Sie sich“, sagte Bunsel zu der Patientin. „Wenn Sie weiter so schwitzen, sind Sie in zehn Minuten ausgetrocknet und der Eiter wird hart wie Beton.“
Frau Zarusch legte ihren Kopf zurück. Bunsels lockere Art kam an. „Ohne Hypnose läuft bei mir nichts“, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
Anna fragte Bunsel, ob sie die Unterlagen holen soll, den Hypnoseordner mit der Anamnese und dem ganzen Zeug.
„Um der Patientin ihren Wunsch zu erfüllen, benötige ich nichts Schriftliches. Nur einen Gegenstand, der zwischen Daumen und Zeigefinger passt, damit ich ihn über ihre Augen halten kann.“
Frau Zarusch musste auf die Toilette. Bunsel schaute Anna ernst an. „Das mit der Hypnose bleibt unser Geheimnis. Dein Chef will nicht, dass ich ihm ins Handwerk pfusche. Hoffentlich rückt uns Frau Eisentraut nicht auf die Pelle.“ Er holte aus und gab ihr fünf.
Dann drehte er die Operationslampe weg vom Behandlungsstuhl und wurde selbst beschienen. Anna gelangte zu der Auffassung, dass er ein attraktiver Mann wäre, wenn man sich die Verunstaltung seines Kehlkopfes wegdachte. Oben knöpfte er sein Hemd auf und zog an einer Kette einen grünen Stein mit weißen Streifen heraus, der die Größe einer Haselnuss hatte und in Silber gefasst war.
„Ein Malachit“, sagte er. „Die Worte des Hypnotiseurs sind nur das Gaspedal in eine tiefere Trance, denn wir befinden uns ständig auf einer unteren Ebene dieses umnachteten Zustandes, ganz raus sind wir nie; es kommt bei der Hypnose darauf an, die Trance zu verstärken, wenn du weißt, was ich meine.“
„Wir sind ständig in Trance?“, fragte Anna. Doktor Klemmer hatte ihr schon viel zu diesem Thema erklärt, einen Dauerzustand aber nicht erwähnt. Er benutzte einen silbernen Kugelschreiber. Einmal hatte er ihn verlegt, suchte nicht lange und nahm einen Radiergummi, um ihr zu demonstrieren, dass es bei der Hypnose nicht auf den Gegenstand ankam. Und über die Zarusch hatte er gesagt, sie sei das ideale Medium und benötige für Hypnose nur einen Händedruck und ein paar Worte.
Bunsel riss sie aus ihren Gedanken: „Erinnerst du dich, wie du in der Garderobe mit erhobenen Händen erschrocken bist, als ich reinkam. Ich war die Respektsperson, vor der du erschrakst, und erst in zweiter Linie war es der Mann in der Damenkabine. Und warst du nicht froh, als ich dich wegen der Haare gelobt habe – ein weiteres Gaspedal in eine tiefere Trance. Das ist Hypnose. Lerne, damit umzugehen, sie zu gebrauchen, und du wirst im Leben weit kommen – oder auch nicht.“ Bunsel sagte das bedrückt, als säße er wegen Hypnose hinter Gittern. „Wenn du willst, erzähle ich euch heute Abend über meine Erfahrungen. Vorausgesetzt, dir, der Eisentraut und Frau Grünwald passt es, dass ich im Schwarzbierhaus meinen Einstand gebe.“
Frau Zarusch kam zurück und wurde von ihm sofort in die Liegeposition gefahren. Er hielt den Stein über ihre Stirn, auf dass ihre Augen beim Hinsehen hochrollten und mehr Weiß preisgaben. Anna fand es lustig, dass die Patienten in dieser Phase leicht schielten.
„Fixieren Sie den Stein weiter, Frau Zarusch, bewegen Sie sich nicht, gut so, ruhig atmen …“
Bunsels Tonfall war monoton, aber nicht überzogen, die richtige Mischung aus Autorität und Schlaftablette.
„… Der Stein wird unscharf, das nicht zulassen, sondern scharf hinsehen, das strengt an und macht die Augen schwer, den Stein scharf ansehen und ruhig atmen, die Augen tränen und brennen …“
Bunsel gab den Befehl zum Schließen der Augen. Frau Zarusch lag da und unterschied sich von einer Toten nur dadurch, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte und ihre Lidspalten feucht waren.
„Sie machen alles sehr gut, Frau Zarusch. Zur Belohnung dürfen Sie in einen noch tieferen Schlaf sinken. Sie vergessen alles und genießen, wie Sie auf einer Bahn aus Watte hinabgleiten in eine noch wohltuendere Entspannung.“
Er suggerierte Schmerzfreiheit im Gebiet des schlechten Zahnes und begann mit der Behandlung. Frau Zarusch atmete gleichförmig und langsam weiter, bis der Zahn provisorisch verschlossen war. Was als Nächstes folgte, war neu für Anna. Bunsel wies an, dass Frau Zarusch nach ihrem Aufwachen aus der Hypnose einen Kugelschreiber von der Rezeption nehmen und in ihre Handtasche stecken sollte, ohne zu wissen, warum sie das tat.
„Und noch etwas: Wenn Sie heute Abend im Bett liegen, werden Sie daran denken, wie glücklich Sie über diese Zahnarztpraxis sind, die Ihnen wirklich hilft, und dass die entstehenden Kosten nebensächlich sind angesichts der Gesundheit und der Wohlgestalt, die Sie erwarten. Deshalb werden Sie aus einem Bedürfnis heraus, ohne Aufforderung, den Vorschuss von eintausend Euro auf das Praxiskonto von Doktor Klemmer überweisen und einen Beitrag zum Überleben der Praxis in einer wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeit leisten. Ich wiederhole, Sie werden eintausend Euro …“
Plötzlich kam Frau Eisentraut ins Zimmer. Bunsel beugte sich ausladend über seine Patientin. Die Eisentraut kam näher. Ihr keimfreier Blick traf Anna anhaltend lang – eine Strapaze für ihre Gesichtsfarbe, die nicht länger standhielt und auf rot umschaltete.
„Anna, hast du Fieber?“
„Fieber ist meine Betriebstemperatur. Ich glaube, sie lag noch nie unter achtunddreißig Grad.“ Von ihrer Schlagfertigkeit war Anna selbst überrascht. Frau Zarusch wurde unruhig, obwohl Bunsel seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte und ihren Atembewegungen folgte, um sie zu beruhigen, mehr konnte er in Frau Eisentrauts Gegenwart nicht tun.
Dann furzte Frau Zarusch ungebremst durch die schmale Spalte zwischen Gesäß und Polsterung und erzeugte einen unreinen Ton, ohne die geringste Anstrengung, das Geräusch zu verhindern. Anna fing den Blick der Eisentraut ein wie eine Beschuldigte und spürte heiße, rote Farbe im Gesicht, als sei es in Ordnung, ihrer sittenlosen Generation alles zuzutrauen. Die Eisentraut verließ das Zimmer. Sofort wandte Bunsel sich mit hypnotischen Befehlen an die Patientin und gab Anna ein Zeichen, das Fenster zu öffnen, worauf Anna wieder rot wurde.
„Und jetzt streiche ich über Ihre Arme und Beine und das Gefühl wird wieder normal, Sie fühlen sich frisch und munter, Ihr Körper ist erholt und Sie brennen darauf, die Augen zu öffnen. Augen auf!“
Frau Zarusch blickte sich um. Sie entdeckte das offene Fenster und rieb sich fröstelnd die Oberarme.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Bunsel.
„Ich fühle mich ausgeruht, erholt. Aber könnten Sie das Fenster schließen?“
Anna ging sofort hin und schloss es, weil sie nicht Doktor Bunsels nach innen gekehrtes Wiehern sehen und sich anstecken lassen wollte. Er erklärte Frau Zarusch, was er mit dem Zahn gemacht hatte.
„Doktor Klemmer hat mir aber gesagt“, fuhr sie dazwischen, „dass der Zahn offen bleiben muss, damit der Eiter abfließt.“
„Das war vorige Woche, die Situation ist jetzt eine andere.“
Sie nickte und bat, eine Frage stellen zu dürfen. „Würden Sie vor einer Gruppe von Leuten einen Vortrag über Hypnose halten und denen zeigen, was Sie so drauf haben?“
„Ich mache fast alles, wenn der Rahmen stimmt, versteht sich. Wir telefonieren, okay?“
Damit war die Behandlung abgeschlossen, Anna fuhr die Patientin zurück in die Sitzposition und Bunsel händigte ihr ein mit dem Logo der Praxis und der Kontonummer versehenes Blatt Papier aus.
Als Letzte kam Anna ins Schwarzbierhaus, dessen Gaststätte aus zwei Etagen bestand. Die Grünwald hatte sich krankgemeldet. Doktor Bunsel stand auf und gab Anna die Hand. Er hatte einen grauen Rollkragenpullover an, unter dem sein Kehlkopf steckte wie eine kleine Brust. Anna setzte sich neben die Eisentraut, die zwei Lagen Lippenstift aufgetragen hatte. Und frisch rasiert, dachte Anna belustigt. Nach dem Essen fiel Frau Eisentraut ein, dass sie unbedingt etwas erzählen musste.
„Erinnern Sie sich an Frau Zarusch heute Vormittag? Während ich einen Termin für sie suchte, langte sie über die Rezeption und nahm einen Kugelschreiber. Sie sah ihn komisch an und steckte ihn in ihre Handtasche. Vor meinen Augen! Ich sagte, wenn sie einen Kugelschreiber braucht, soll sie fragen oder in ein Fachgeschäft gehen. Ich forderte sie auf, ihn zurückzulegen, ansonsten würde ich den Zwischenfall nicht für mich behalten.“
„Und?“, fragte Anna mit schwerer Stimme.
„Kaum zu glauben, die hat noch gekränkt getan, als sie ihn wieder aus ihrer Tasche holte. Sie wäre in Gedanken gewesen und Diebstahl nicht ihre Art …“
Frau Eisentraut wurde von etwas abgelenkt. Ein Mann kam die Treppe herunter. Seine Augen schauten konträr, als gehörten sie nicht zusammen. Auch schien es, dass er ohne das Geländer aufgeschmissen wäre. Die Eisentraut ging hin und führte ihn beiseite, konnte aber die eckigen Bewegungen des Mannes nicht verhindern.
„Scheint ihr Mann zu sein“, sagte Bunsel und nippte an seinem Glas. „Und sieht aus, als macht er das öfter. Eine rote Nase kriegt man nicht von Mineralwasser.“
Frau Eisentraut kam zurück. Der Lippenstift war nicht mehr das einzige Rot in ihrem Gesicht. Anna entdeckte es auch an den Ohren. Willkommen im Club. Frau Eisentraut verabschiedete sich und nahm den Mann mit.
„Warum haben Sie Frau Zarusch das mit dem Kugelschreiber tun lassen?“, fragte Anna.
„Um zu testen, ob die posthypnotische Suggestion wirksam ist und ob die Erinnerungslücke funktioniert.“
„Und sie wird eintausend Euro überweisen, ohne eine Rechnung gesehen zu haben. Ist das legitim?“, fragte Anna.
„Ist es vielleicht legitim, wenn Patienten ihre Rechnung nicht bezahlen? Ein Vorschuss ist legal.“
„Sieht aus, als ob Hypnose neue Horizonte eröffnet.“
Bunsel nickte und winkte der Kellnerin.
„Noch andere Horizonte sind längst Realität, nur dass wir sie nicht gebührend nutzen. Sonst würden nicht abertausende Frauen ihre Brüste aufschneiden, mit Silikon ausstopfen und zu strammen geometrischen Wunderwerken formen lassen, von denen die Natur nichts Vergleichbares kennt.“ Bunsel zog ein Gesicht, als wäre er auf irgendeine Weise Leidtragender gewesen. Und als ob es Annas Markenzeichen war, schoss ihr Röte ins Gesicht. Sie wusste nicht, ob es wegen des pikanten Themas war oder der Tatsache, dass sie, Anna Lang, ganz oben stände, wenn es eine rechtmäßige Rangliste zur Brustvergrößerung gäbe – etwas, worüber sie bestimmt nicht mit Doktor Bunsel reden wollte.
Auf der anderen Seite aber rebellierte ihr Minderwertigkeitskomplex, denn morgen und ohne den Wein in den Adern würde sie sich nicht trauen, aus dem Nichts heraus zu fragen, inwieweit Hypnose eine Alternative zu Silikonimplantaten darstellt.
„Was hat Hypnose damit zu tun?“ Aber sie spürte die Antwort bereits.
„Einer Reihe von Krankheiten ist Hypnose auf den Leib geschnitten. Ich nenne mal den Abbau von Ängsten, das Bettnässen, das Erröten …“
Anna bekam Farbe und lachte.
„Ich kenne jemanden“, sagte Bunsel, „dem würden die Schönheitschirurgen mit ihren Skalpellen liebend gern an die Kehle gehen, so erfolgreich ist er mit Hypnose. Gregor, mein Bekannter, schafft keine Guinness-Plastiken, er ist nicht Frankenstein. Er gibt den Frauen nur das, was ihnen zusteht, weil ihre Körper Aussetzer hatten, als die Brustzellen an der Reihe waren, sich zu bilden. Gregor sagt dem Körper, dass es endlich losgehen soll. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: fünf bis sieben Zentimeter Gewinn an Brustumfang. Und die Brüste, die er suggeriert, sehen nicht nur aus wie echt, sie sind es auch.“
Anna hatte am Stiel ihres Weinglases einen Tropfen entdeckt. Sie rieb daran, rieb und rieb noch, als er längst verschwunden war. Doktor Bunsel glaubt bestimmt, dass ich frage, wo sein Bekannter wohnt. Eher gehe ich zu Frankenstein.
„Gregor war mein Lehrer …“, sagte Bunsel. Er lehnte sich zurück und ließ die Hände auf dem Tisch, als sei deren Zugegensein beweisführend für das Gesagte. „… Das bedeutet, dass ich es auch kann.“
Mit einem Schluck trank Anna den Rest des Weines. Zum Glück kam die Kellnerin zum Kassieren.