Читать книгу Ich locke dich - Wolf L. Sinak - Страница 11
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ОглавлениеJens stellte den Hartschalenkoffer in den Flur seiner Wohnung und obenauf die Tasche mit der Videokamera. Das fühlte sich an, als legte er einen Kranz auf eine Grabstätte. In der Kamera waren glückliche Momente gespeichert, Szenen mit Steffi, feixend in den Bergen, auf dem Höhepunkt einer lächerlich kurzen Beziehung.
In der Wohnung war es kalt und ungemütlich wie das Wetter in Gera. Gedanklich versetzte er sich in das wohlige Milieu einer Sauna, und schon fluteten Bilder von Steffi heran, wie sie nackt auf der Pritsche lag und Schweiß absonderte, als handelte es sich um einen vom Liebesakt erschöpften Frauenkörper.
Was er auch anpackte, es warf ihn zurück. Zuerst Renate und ihr Kahlschlag in der Wohnung, dann Bunsel, der kindische Teufel, und nun Steffi. Er zog den Hinterkopf in den Nacken und hob die Schulterblätter an, eine Position am Rücken suchend, in der die sechshundert Kilometer Autofahrt nicht zu spüren waren. Wirkungslos. Aber seiner Zunge, die trocken und rissig war wie der Boden in der Sahelzone, konnte er etwas anbieten. Da kein Bier in der Wohnung war und ihn die kahlen Wände grausten, nahm er seine Lederjacke, um für eine halbe Stunde in die Kneipe um die Ecke zu gehen.
Er öffnete die Wohnungstür.
Da schlug sie ihm mit der Wucht eines umstürzenden Klaviers entgegen. Blitzschnell drang ein Pistolenlauf herein, vor dem er auswich, um ihn nicht ins Auge zu bekommen; der Finger am anderen Ende der Waffe hatte die Krümmung eines Schrimps. Zwei Männer polterten in den Flur. Die Tür schlug ins Schloss. Der eine mit der Pistole, deren Lauf Jens noch immer im Großformat vor Augen sah, drängte ihn rückwärts gegen die Wand. Er war blond, Ende zwanzig, Anfang dreißig und hielt zwischen den Lippen ein Streichholz, das leichtgängig auf und ab federte, als wäre es angewachsen.
Ein Irrtum, dachte Jens. Das kann nur ein Irrtum sein, oder die gehören zu der Sorte Einbrecher, denen das Überwinden von Sicherheitssystemen zu lästig ist und die sich auf direktem Weg holen, worauf sie Anspruch erheben. Offenbar hat es sich unter Einbrechern noch nicht herumgesprochen, Zahnärzte von der Liste lukrativer Zielgruppen zu streichen. Der Lauf kam zum Schielen nahe und drückte kalt und schmerzhaft das Fleisch der linken Wange gegen die obere Zahnreihe.
„Wenn ich jetzt abdrücke“, sagte der Mann, „spritzt es Zahnsalat und die Wand hinter dir muss gestrichen werden.“ Mund und Streichholz verzogen sich zu einer Ekelgrimasse. Dass das Holz beim Sprechen nicht abfiel, grenzte an Akrobatik. „Du bekommst die einmalige Gelegenheit, deinen Fehler zu korrigieren, und alles wird so, als ob kein Diebstahl stattgefunden hätte.“
Hinter dem Mann lachte der andere. Er war etwas kleiner, aber viel kräftiger als der Pistolenträger und wesentlich älter. Sein weißes Hemd in einer zu kleinen Konfektionsgröße spannte an Oberarmen und Brustmuskeln. Er trug einen messerscharf geschnittenen schwarzen Schnurrbart und sein Lachen entlarvte zwei unschöne, in Edelstahl gefasste Kunststoffkronen – so ein Typ, der sich lieber mit Klappmessern bewaffnet als mit Pistolen. Jens schauderte.
„Nun“, sagte das Streichholz in einem sanften Ton, der um Verständnis warb, „bevor wir hier wurzeln und mein Freund die Wohnung auf den Kopf stellt, solltest du auf Kooperation setzen.“ Beide Männer glotzten ihn in aller Deutlichkeit an.
„Hast du gehört?“ Der Kerl schrie auf einmal und das Streichholz hüpfte fast davon.
Beim besten Willen wusste Jens nicht, was er sagen sollte, er wusste ja nicht einmal, worum es ging, und er hatte so viel Mitspracherecht wie eine Schießscheibe. „Ich bin bereit und gehe auf alles ein, aber nehmen Sie das Ding runter. Bitte.“
Er spürte nachlassenden Druck auf seiner Wange und den Geschmack von Blut. In Siegesmanier führte der Blonde den Lauf der Pistole zu seinem eigenen Mund und blies scheinbaren Qualm von der Mündung.
„Wo ist das Wohnzimmer?“ Das Streichholz schaukelte gemütlich wie ein Boot auf ruhiger See.
Jens ging voraus und wurde auf den einzigen Stuhl geschubst. In den einzigen Sessel pflanzte sich der Blonde. Jens betrachtete ihn genauer. Seine Haare waren in Pomade ertränkt worden, bevor sie langsam zu Furchen erstarrten. Das Blond konnte aus der Tube stammen. Typen wie der galten früher als Schablone für die Unterwelt; heute sah jeder Zweite auf der Straße so aus.
„Schaue mich um“, sagte der Stämmige. Jens erkannte sofort den osteuropäischen Akzent. Er verfolgte besorgt, wie der Hals sich in dem zu kleinen Kragen drehte und der anomal runde Kopf sich im Zimmer umsah. „Will umziehen, der Doktor?“, fragte er und blickte zu den blanken Bilderhaken an der Wand.
„Ihr habt euch den Falschen ausgesucht. Da, wo Zahnarzt draufsteht, ist nicht zwangsläufig Geld drin …“ Jens’ Stimme hörte sich fester an als eben mit der metallenen Stütze im Gesicht. „Ich lebe in Scheidung, und wie ihr an meiner Wohnung seht, bin ich der Verlierer. Wüsstet ihr von meinen Schulden, könnte ich nicht ausschließen, sogar eine kleine Spende von euch zu kassieren.“
In einer unglaublichen Schnelligkeit war der Stämmige bei ihm, umfasste ein Büschel Haare, ausgerechnet von Jens’ spärlich bewachsener Stelle am Hinterkopf, und zog ihn rückwärts in eine Gefühlswelt aus messerscharfem Schmerz.
„Schau an“, sagte der Ausländer. Er hatte losgelassen und betrachtete ein paar Haare in seiner Hand. „Schöne rote Farbe echt.“ Er lachte tief und streichelte Jens das Haupt. Jens nahm den Geruch von Menthol war. Die Stelle am Hinterkopf brannte wie Feuer, und die Tränen in seinen Augen, die reflektorisch dort hineingeschossen waren, ließen die Umgebung wie beim Tauchen an der Wasseroberfläche verschwimmen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sie ab und wartete auf die nächste Aktion, alle Sinne in Alarmbereitschaft und mit leicht zuckenden Augen. Der Blonde sagte dem Dicken in unerwartet barschem Ton, er solle sich zügeln und sich in der Wohnung umblicken. Das Streichholz stieß dabei senkrecht in die Luft. Als der Dicke draußen war und mit ihm das Menthol, hellte sich die Fassade von Freund Streichholzkauer auf, sogar ein Schuss Menschlichkeit heuchelte sich ans Tageslicht. Die Pistole änderte die Richtung und schmiegte sich in seine Hand.
„Ich finde, wir sollten noch einmal beginnen, wir zwei, in aller Ruhe.“ Der Ton des Blonden war vernünftig.
In Jens leckte etwas – leckte den Trieb frei aufzuspringen, ihm die Pistole aus der Hand zu reißen und das Kräfteverhältnis umzudrehen. Sein Hinterkopf war ein Feuermeer, und der ungestrafte Fettsack, dessen Gemurmel aus dem Schlafzimmer drang, wühlte in seinen Sachen herum.
„Dazu gehört aber, dass Sie mir bitte erklären, was Sie mir vorwerfen …“ Er beobachtete das Streichholz, es zuckte etwas, bevor es wieder statisch zwischen den Lippen hing.
„Na schön. Kann ja sein, dass Doktor Unterwelt nicht mehr im Einzelnen weiß, wem er was weggenommen hat. Übrigens, meinen Respekt. Die Idee eurer Kaste, mit neuen Aktionen die Kasse aufzustocken, halte ich für innovativ. Aber die Kiste mitgehen zu lassen – na, na ,na.“
Was für eine Kiste, wollte Jens einwerfen, hielt die Frage aber auf der Zunge fest.
„Ungerecht, wenn Patienten wie Kreihansel ihre Rechnungen nicht bezahlen. Finde ich auch. Klar, dann wird ein Schläger losgeschickt, um sein Erinnerungsvermögen aufzupeppen und die Prothese, das Corpus Delicti, einzukassieren. Willkommen im Club. Aber die Kiste hätte er stehen lassen sollen, dein Gorilla. Denn die gehört mir. Und jetzt ist das Geschichtenerzählen zu Ende. Oder weißt du etwa nicht, dass dein Gorilla geklaut hat?“ Er setzte sich gerade, Streichholz und Pistole in preußischer Ordnung.
Egal was geschah, dachte Jens mit einem Hirn aus Nebelschwaden, das Schlechte hatte immer mit Bunsel zu tun. Dieser Dreckskerl hatte es schon wieder geschafft, auf die Tagesordnung zu gelangen, und wie.
„Ich will eine Antwort. Weißt du, dass dein Gorilla geklaut hat?“
Jens’ Hals war so trocken, dass er meinte, ohne einen Eimer Wasser kein einziges Wort herauszubringen. Draußen poltere es. Offenbar war der Dicke über das Reisegepäck gestolpert. Dann ein Fluch in einer anderen Sprache und ein Geräusch, wie wenn jemand gegen eine Tasche tritt. Jens sah wieder zu dem Blonden, dessen Augen ihn fixierten. Er versuchte ihnen standzuhalten. Auch wenn er nur noch entfernt etwas gemein hatte mit einem begabten und zertifizierten Hypnotiseur, wollte er den Kampf mit diesen Augen aufnehmen. Beim Hinschauen stieß er auf etwas, das aus seinem Herzen einen Knoten machte. Die ganze Zeit war er wissend, dass ihm etwas nicht behagte, er war nur nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken. Aber jetzt klimperte der Groschen:
DIE GESICHTER DER GANGSTER WAREN NICHT HINTER MASKEN VERSTECKT!
Natürlich nicht, weil man ihn sowieso abknallen wollte. In seinem Nacken quollen Tropfen kalten Schweißes und sein Gesicht produzierte das satte Weiß der Wand hinter ihm.
„Kommt deine Blässe einem Geständnis gleich?“
Der Blonde ließ den stämmigen Mann, den er Jurek nannte, ein Glas Wasser holen. Jens riss es ihm aus der Hand und goss den Inhalt hinunter, spürend, wie die Flüssigkeit augenblicklich in den Rissen seines trockenen Halses verschwand. Ein Trommelfeuer von Überlegungen prasselte auf ihn ein: Der fehlende Schalldämpfer, halleluja – ein gutes Omen, ohne den schießen die nicht, aber der konnte sich in der Hosentasche befinden und brauchte bloß aufgeschraubt zu werden, wenn es so weit war.
„Ich glaube zu wissen, wer mir das eingebrockt hat“, sagte er leise. „Er heißt Bunsel und ist … war meine Urlaubsvertretung. Dieser Dreckskerl.“
„Also gut. Du beschaffst bis morgen die Kiste und deponierst sie in deinem Wagen oder sonst wo, damit du sie jederzeit greifbar hast. Und vergiss nicht, die Prothese beizufügen. Ihr Akademiker seid doch sonst so vernünftig, quatscht und tut, als hättet ihr dort noch Hirnmasse, wo bei uns die Scheiße steckt … Leute, die mich verarschen wollen, bekommen eine Hirnwäsche. Über der Badewanne wegen der Schweinerei. Nur mit dem Zurücktun in den Schädel hat es noch nicht geklappt. Hirn ist so glitschig, weißt du, da bin ich zu ungeduldig.“ Das Streichholz fiel fast von den Lippen ab und heißer Atem schoss Jens entgegen. „Und jetzt schauen wir, ob du uns belogen hast. Jurek, stell die Wohnung auf den Kopf!“
Jens’ Herz schlug wie das Ticken der falsch gehenden Wanduhr, die Renate bei ihrem Feldzug hängen gelassen hatte, weil die Restauration ein hübsches Sümmchen verschlingen würde. Auch wenn seine asketische Wohnung an die Zelle eines Mönches erinnerte, so herrschte doch eine mit dem Lineal gezogene Ordnung, und wer sich daran verging, stieß einen Voodoospeer in Jens’ Herz. Den Wühlgeräuschen nach zu urteilen beeilte sich Jurek mit seiner Aufgabe. Jedes Zimmer machte eigenständige Geräusche. Im Bad klapperten Spraydosen. Im Schlafzimmer zerschepperte das Glas der Bilderrahmen – Bilder aus guten Tagen, als er die Sportschule besucht hatte. Auf einem Foto stand er ganz oben auf dem Treppchen und zog die Medaille mit dem Band etwas vom Hals weg, dem Fotografen entgegen. DDR-Meisterschaft der Kanuten.
„Kräftiges Kerlchen.“ Der Dicke kam mit diesem Foto zurück und machte den Affen, ließ seine Brustmuskeln durch das enge Hemd zucken wie Schlagadern eines Dinosauriers und trommelte mit den Fäusten auf der Brust herum.
„Schluss jetzt,“ stach das Streichholz in die Luft wie ein Ausrufezeichen. „Wenn du die Polizei einschaltest, wird deine Praxis nur noch als Ersatzteillager für Zahnärzte der Dritten Welt taugen. Wir sind viele, sehr viele. Und am Ende steht der Tod.“
Das Streichholz, kam es Jens vor, schien dem Blonden das Sprechen erst zu ermöglichen. Es schwenkte lethargisch hin und her wie eine Schwungscheibe. Die Schwünge und die Mordandrohung narkotisierten Jens in dem Maße, dass er nicht mehr zuhören konnte und sich nur noch wünschte, aus diesem Alptraum zu erwachen.
Dann gingen sie endlich. Der Blonde kam noch einmal zurück. An seinem ausgestreckten Arm baumelte die Tasche mit der Videokamera. „Danke. Als Aufwandsentschädigung war das auch notwendig.“ Er spuckte das Streichholz weit ins Zimmer hinein, wo es vor Jens’ Füßen auf dem Teppich landete.
Jens konnte sich nicht bewegen. Nach einiger Zeit gelang es ihm, sich zu dem kleinen Sofa zu schleppen, das eine gute Biedermeierimitation war. Er legte den Handrücken auf die Stirn und versuchte abzuschalten, einfach abzuschalten, um später mit dem Denken fortzufahren. Irgendwann klingelte sein Handy. Er rappelte sich hoch mit leichter Genickstarre, machte Licht und holte es aus der Garderobe. Renate war dran. Die gab es ja auch noch, dachte er überrascht wie jemand, dessen verlorenes Gedächtnis zurückgekehrt ist.
„Wie ist das Wetter?“, fragte sie, und Jens fiel ein, dass sie ihn in Südtirol glaubte.
„Wenn du aus dem Fenster schaust, weißt du es. Ein anderes Wetter kann ich nicht bieten. Ich bin zurück in Gera.“
Renate sagte nichts und tat wieder mal so, als sei sie uninteressiert. Aber Jens spürte, wie ihre grauen Zellen die Neuigkeit abtasteten. Ihm fiel es schwer, den Vorwurf zurückzuhalten, dass sie ihm mit Bunsel Scheiße eingebrockt hatte. Sie fing an, davon zu reden, was Jens schon wusste, nämlich eine Beteiligung an der Praxis auszuhandeln, ansonsten wäre ihre Auszahlung fällig. Eine Summe, die den Verkauf der Praxis zur Folge hätte. Dann holte sie Luft und sprach von etwas Neuem, das Jens aufhorchen ließ. Das Miststück glaubte tatsächlich, wieder an der Rezeption arbeiten zu können. Jens dachte an die glücklichen Gesichter von Frau Eisentraut und von Frau Grünwald, als Renate die Praxisschlüssel abgegeben hatte.
„Das kommt nicht in Frage“, schmetterte er. „Nach deinem lautstarken Auftritt in der Praxis vorige Woche musst du froh sein, wenn dich die Patienten noch grüßen …“
„Ich kenne die Reserven der Praxis besser als du oder die Eisentraut.“
Genau das war der Punkt, warum er sie nicht haben wollte. Auf der Suche nach Patienten stilisierte Renate ihn zum Kopfgeldjäger. In den Augen dieses Nimmersatts war Hypnose kein medizinischer Segen, sondern ein Dorn. Ein therapeutischer Zeitfresser, dessen dürftige Honorare sie mit Rotstift markiert und ihm auf den Tisch geklatscht hatte.
„Übermorgen habe ich einen Termin bei meinem Anwalt“, sagte sie. „Da du in Gera bist, rate ich dir mitzukommen.“ Ihre Stimme setzte zum Sprung an, gleich würde sie ihre Stimmbänder durch die Leitung jagen und ihn damit erdrosseln. „Die Schenkel der Kleinen haben dir das Hirn zerquetscht, jetzt brauchst du jemanden, der für dich denkt.“
Aha, ihr Anwalt sollte das für ihn tun. Jens hielt ihn für imstande, Renate die Macht zuckersüß ausgemalt zu haben, um seinen Scheck aufzublähen. „Ich melde mich“, sagte er, legte auf und schaltete das Handy aus.
Anna hatte am häufigsten mit Bunsel gearbeitet. Ihre Angaben konnten Jens zu ihm führen, persönlich oder per Telefon, vielleicht per E-Mail. Er beorderte Anna zu sich ins Arbeitszimmer, wo sie sich ihm gegenüber setzte, eingepfercht zwischen Regal und Schrank.
„Ich hätte auch auf dieses Zimmer verzichten können, als damals die Praxis eingerichtet wurde“, sagte Jens. „Aber ein privates Fleckchen benötige ich – eine Tür, an die man anzuklopfen hat, selbst wenn man wegen des wenigen Sauerstoffs auf die Uhr schauen muss, um nicht zu ersticken.“
Anna nickte.
„Kommen wir zur Sache. Dass ich jetzt hier bin und auch deine Mutter den Urlaub abbrechen musste, ist das Werk von Doktor Bunsel, wie du sicherlich weißt. Schöner Mist, was? Wir hatten uns in Brixen gerade eingelebt. Nicht nur, dass Bunsel ein schlechtes Beispiel für eine Auszubildende abgibt – du für deine Person bist dem gefeit, da habe ich keinen Zweifel –, aber er hat auch Abmachungen in den Wind geschlagen und seine Befugnisse überschritten. Faktisch versucht er, an den Grundfesten der Praxis zu rütteln, also an meiner beruflichen Existenz und an der von euch Helferinnen. Und zeugt es nicht von geistiger Rückständigkeit, wenn sich jemand so einen Schabernack wie den mit dem Vertretungsschild ausdenkt?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ein wenig komisch war er schon.“
Jens erzählte Anna von dem Hypnose-Verbot und Bunsels Anrufen bei den Patienten, vermied aber Einzelheiten, und dass Bunsel demnächst wahrscheinlich mit einer Kanone anrücken würde.
„Was weißt du über die Hypnose, die er bei Frau Zarusch durchgeführt hat?“
Das Fenster hinter Jens’ Rücken wurde zum Ziel ihres Blickes. Nach einer Weile sagte sie: „Er hat es etwas anders gemacht als Sie, aber die Wirkung der Hypnose stellte sich auch ein. Dann hat er ihren Zahn behandelt.“
„Erteilte er ihr eine Aufgabe, die sie im Anschluss an die Hypnose ausführen sollte?“
„Ja.“
Jens vergaß seinen Rücken und reckte sich, bis eine Wand aus Schmerz ihn stoppte. Er hatte die Nacht auf dem Sofa geschlafen und heute früh geglaubt, sein Rücken wäre der exakte Abguss davon. „Was hat er von Frau Zarusch verlangt, ich meine, was hat er ihr suggeriert?“
„Das war vielleicht lustig“, sagte Anna und erzählte von einem Kugelschreiber, den Frau Zarusch von der Rezeption stehlen sollte.
„Gab es noch etwas anderes, was er von ihr wollte?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich habe nebenbei die Instrumente vorbereitet und nicht sonderlich aufgepasst.“ Sie rutschte etwas auf ihrem Hocker hin und her.
„Ein toller Typ für euch junge Leute, der Doktor Bunsel, was?“ Jens blieb ernst. „Sogar mit der Musik ist er auf dem Laufenden.“
„Wenn Sie das Radio meinen, das er an die Lautsprecheranlage angeschlossen hat, war das meines Erachtens nach kein Manko. Im Gegenteil: Sonst mokieren sich die Patienten über das Rauschen, weil sie glauben, die Audioanlage sei kaputt.“
„Hat Doktor Bunsel etwas geäußert, woraus man schließen könnte, wo er sich aufhält?“
„Am Dienstag nach seinem Laufpass zog er ein Gesicht, als wollte er mit dem Intercity aus der Stadt.“
„Ich hoffe, er hat das mittlerweile getan. Gibt es eine andere Auffälligkeit, die ich deiner Meinung nach wissen müsste? Du hast zwei Tage mit jemandem gearbeitet, bei dem eine Schraube an der falschen Stelle sitzt, da kreuzen sich doch Welten.“
Anna schien angestrengt nachzudenken, aber Jens wusste bereits, dass sie ihm nicht weiterhelfen würde.
„Er ist etwas schlaksig in seiner Art, aber eigentlich ganz okay“, sagte sie.
Jens erhob sich und entließ Anna aus dem Zimmer. Er nahm das Scheckheft aus der Schublade und schrieb Bunsel einen Scheck über fünf Euro aus; dieses Honorar würde den Scheißkerl mehr kränken, als gar nichts zu erhalten. Er hielt inne und zerriss den Scheck zu Konfetti.
Er wählte die Telefonauskunft. „Ich hätte gern von allen Bundeswehrkasernen im Raum Regensburg die Nummern.“ Er erhielt lediglich eine Telefonnummer der zentralen Vermittlung der Bundeswehr und notierte sie. Eine Minute später stand er vor Frau Eisentraut, die einen Putzlappen in der Hand hielt und nicht recht zu wissen schien, wo sie ihn einsetzen sollte. Er bat sie, seiner Frau nichts von den Ereignissen zu erzählen. Das ihr entgegengebrachte Vertrauen verstand er auch als einen hingeworfenen Happen Fleisch, um sie blutrünstig an seiner Seite zu halten. Dann fuhr er ins Studio, begleitet vom Hintergrunddröhnen der Angst. Er hatte dummerweise nicht zugehört – nicht zuhören können –, wie sich die Gangster den weiteren Verlauf vorstellten, wo und wann sie wieder in Erscheinung treten wollten, um an die Kiste zu kommen. Er ging aber zu achtzig Prozent davon aus, dass sie sich Bunsel vornahmen; bestimmt ein leichtes Unterfangen für Profis, jemanden wie diesen Idioten aufzuspüren.
Im Geräteraum herrschte Leben; fünf oder sechs Frauen fuhren Rad und eine Gruppe junger Männer – mutmaßlich Arbeitslose, denen Werner einen Sonderbeitrag einräumte – posierten wie Bodybuilder vor dem großen Wandspiegel, sich gegenseitig schubsend und lachend.
„Sieh an, der Putzteufel für Dentalkloaken“, begrüßte ihn Werner. Jens verlor keine Zeit und bat um Hilfe.
„Schon wieder? Ich glaube, uns holt die gute alte Zeit ein, wäre doch schade, wenn ein Team wie wir von der Welt verschwände. Mann, hatten wir ein Kerbholz, so lang wie ein Maibaum. Um ein Haar hätte der Funktionär die Zigarettenschachtel gesehen, als Wasser ins Kanu schwappte und sie davonschwamm. Wir wären von der Sportschule geflogen. Es macht mir richtigen Spaß, diesem Bunsel hinterherzujagen …“
Jens ließ ihn nicht ausreden. „Gestern Abend hat man mich in meiner Wohnung überfallen. Zwei widerliche Typen, die Bunsel auf den Plan gerufen hat; ob Kalkül dahintersteckte, weiß ich nicht.“
Er ließ sich einen Mineraldrink geben und berichtete die Vorkommnisse seinem Freund, dem sich der Mund immer weiter auftat, bis die Zunge erschien. Werner war ein Tausendsassa, aber was er hörte, schien er nicht genauso schnell verarbeiten zu können. An dem Punkt der Darlegung, an dem Jens einen Teil seiner Haare eingebüßt hatte, beobachtete er Werners Mundwinkel, um zu ergründen, ob sich da ein spitzbübisches Zucken abzeichnete. Aber er sah nur eine gekalkte steinerne Maske, welche Werners Züge trug.
„Wir gehen zur Polizei“, sagte die Maske.
„Nein.“
Jens blickte Werner hart in die Augen. Solch ein Moment kam der Wahrheit über die Freundschaft sehr nahe. Werners Lippen bewegten sich mechanisch wie die einer Augsburger Puppe.
„Verstehe ich das richtig: Du willst mit mir gegen – wie es aussieht – Drogengangster zu Felde ziehen …“
„Nein, nicht gegen die. Wir müssen Bunsel finden, alles andere ergibt sich. Der Kerl mit dem Streichholz im Mund war nicht von der Sesamstraße. Drogenkriminalität ist gewöhnlich organisiert und ich glaube schon, dass sein Arm aus dem Gefängnis herausreichen und ein par Schicksalsschläge in die Wege leiten könnte.“
Werner schüttelte den Kopf. „Das hier ist das richtige Leben und keine Filmkulisse für einen Thriller.“
„Wenn bei mir eine Verwicklung mit Drogen öffentlich wird, bleibt etwas hängen, egal ob ich unschuldig bin oder nicht. Denke mal an unsere Vergangenheit. Hobbyschnüffler werden darin herumstochern und jeder wird Drogen für die logische Folge in unseren Lebensläufen halten.“
„Du meinst deine Vergangenheit; unsere Gemeinsamkeiten solltest du gegen unsere Unterschiede abgrenzen.“
Jens trank den Rest seines Mineraldrinks mit einem Mal aus. „Aber du hast mich verstanden, oder?“
Werner nickte, holte mit der Hand aus, und sie gaben sich fünf. „Jetzt weißt du, wie es mir derzeit geht“, sagte er.
„Meinst du das neue Fitnessstudio?“
„Die setzen uns einfach so einen Kasten vor die Nase, nur zwei Straßen weit entfernt, mit Video auf den Laufbändern, Bistro, Spielecke für Kinder und anderen Kinkerlitzchen. Wenn die öffnen, können wir einpacken. Ich glaube, die haben extra eine Konkurrenz gesucht, die sie wegpusten können. Gut fürs Marketing. Ich muss etwas unternehmen. Umbauen, anbauen, sonst etwas.“
„Geh weiter mit den Beiträgen runter.“
„Das reicht nicht. Lifestyle ist das Zauberwort. Wir brauchen neue Geräte und eine neue Sauna, eine Saunalandschaft … und Investoren.“
Jens blieb gelassen. Er wusste, dass er angesprochen war. Werner würde keine Bank für einen weiteren Kredit finden. Im Stillen hatte Jens seinen finanziellen Teil am Studio bereits unter Verlust verbucht, als die Mitgliederzahlen rückläufig wurden und er von dem geplanten neuen Superstudio in der Nachbarschaft erfahren hatte. Er beabsichtigte nicht, noch mehr Geld zu verlieren. Auch wenn für Werner das Studio die Existenz bedeutete.
„Marlies“, sagte Werner.
Jens drehte sich um. Sie betrat gerade das Studio. Ihr Gesicht war blass, keine Spur von den östrogenbleckenden Augen, die ihn in seiner Wohnung angehimmelt hatten. Sie grüßte mit fester, lauter Stimme und lächelte Jens für eine Tausendstelsekunde an. Dann verschwand sie in der Umkleidekabine für Angestellte.
„Ich denke an das paradiesische Gefühl, als dein Kopf in ihrem Bauch steckte“, sagte Werner. „Marlies würde dir auch helfen. Sprengstoff würde sie sich um die Taille binden und in die Luft gehen mitsamt dem Ungeziefer.“
Jens kommentierte das nicht. Er sah sie etwas später noch einmal, als sie die Kabine verließ und zum Laufband ging. Ihre muskulösen Beine steckten in einer roten Gymnastikhose und erinnerten an Eisschnellläuferinnen, Typ Sprinter.
„Also, du bist im Boot?“, fragte er.
„Wenn wir das leisten, was wir früher geleistet haben, sollten wir keine Angst haben. Nicht vor Verbrechern und nicht vor der Konkurrenz.“ Werners Lächeln fiel dürftig aus. Dafür atmete Jens auf. Sie besprachen noch ein paar Details, dann fuhr er auf den Ziegelberg.
Das mit Ornamenten verzierte Haus, in dem Steffi und ihre Tochter wohnten, war vor ein paar Jahren renoviert worden und zeigte glaubwürdig Details aus der Gründerzeit. Dass Steffi lange durch den Spion schaute und überlegte, wie sie sich verhalten sollte, spürte er, wie ein Arthrosekranker seine Gelenke spürt. Sie öffnete und sah gut aus, zum Anbeißen, auch ohne Hilfestellung der südtiroler Sonne. Erstaunt lächelnd und wortlos bat sie ihn herein. Sie ging vor ihm her, gekleidet in einen engen, gerippten Pullover und eine knappe Hose. Beide Kleidungsstücke bewegten sich geschmeidig gegenläufig wie die Wirbel eins Reptils. Jens wünschte, sie trüge etwas Weites aus Sackleinen. Überall hingen Bilder, kleine und große Blickfänge, die auch dem Geist ein Zuhause gaben. Sie nahmen im Wohnzimmer Platz und schenkten sich beide Wasser ein.
„Willst du unverbindlich mit mir essen gehen? Ich habe im Fall Bunsel mit dir über Anna zu reden.“
„Anna? Hat sie was verbockt?“
„Gehen wir essen?“
„Nein. Tut mir leid … heute jedenfalls nicht. Was ist mit Anna?“ Ihr Ton war fordernd, fast feindselig. Jens achtete auf seine Atmung. Wenn er seine Praxis retten wollte, musste er auf seine Atmung achten. Nervosität und sexuelle Fernlenkung durch Saunagefühle waren Gift. Er nahm die Steuerung des Zwerchfells in die Hand, hob und senkte den Bauch und fühlte sich leichter. Wäre es nicht ungebührlich gewesen, er hätte sich auf die Couch gelegt und die Augen geschlossen, um in sich hineinzuhorchen.
„Anna erledigt ihre Aufgaben vorzüglich“, sagte er. „Sie wird einmal eine gute Zahnarzthelferin. Notgedrungen war sie Bunsels Assistentin. Ich habe sie heute über ihn befragt. Ehrlich gesagt, war sie nicht sehr kooperativ, wie junge Leute so sind, wenn sie mit jemandem die Zeit verbringen und sich fühlen, als säßen sie im selben Boot.“
Steffi löste ihre übereinandergeschlagenen Beine. „Willst du andeuten, sie hätten gemeinsame Sache gemacht?“
„Wie kommst du darauf. Ich glaube lediglich, sie will aus falscher Loyalität Bunsel nicht verpfeifen, das ist alles!“
„Und nun soll ich sie ausquetschen.“
„Tue es für die Praxis und für Annas Zukunft.“
Steffi atmete tief durch. „Gut, aber wenn ich Anna im falschen Einflugwinkel erwische, wird das eine Bruchlandung. Wie bei allen Kindern in dem Alter.“ Steffi lächelte. „Ich sage das nur, um einen Kinderlosen wie dich zu belehren.“
Jens nippte an seinem Glas. Notfalls hätte er von dem Überfall erzählt. Das brauchte er nun gottlob nicht. Ihre mütterliche Schutzfunktion hätte alles zusätzlich aufgebläht.
Plötzlich erstrahlte ihr Gesicht, als gäbe es gespeicherte südtiroler Sonnenenergie ab. „Ich für meinen Teil hatte lange nicht solchen Spaß wie auf der Zirmaitalm im Gerangel mit den Kühen. Dafür möchte ich mich revanchieren. Und du hast mich erfahren lassen, was für ein anständiger Mann du bist.“
Beim letzten Satz ruhte ihr Blick auf dem Boden.
Nachdem sie die Tür hinter Jens geschlossen hatte, ging Steffi sofort ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob die Tube mit kadmiumgelber Ölfarbe verschlossen war. Sie lag geöffnet auf dem Tischchen neben der Staffelei und frönte ihrer Angewohnheit nachzulaufen, wenn an ihr gedrückt worden war. Steffi schraubte den Verschluss darauf und fuhr fort, die Künstlerpalette mit Ölfarben zu füllen. Ihre Eindrücke von der Zirmaitalm waren nicht länger zurückzuhalten, ein Wirrsal von Umrissen und Farben warteten darauf, an die richtigen Stellen auf der Leinwand gebracht zu werden. Steffi hatte ihren Skizzenblock im Gepäck gehabt, aber auch die Scheu, ihn in Jens’ Gegenwart zu gebrauchen.
Sie war beim Malen des Hintergrundes. Anna kam von der Arbeit und fragte, warum sie so viel Gelb auf der Palette hatte.
„Im herbstlichen Südtirol leuchten die Blätter, als hinge Goldfolie an den Ästen.“
„Wie romantisch. Und, läuft da was zwischen dir und meinem netten Chef?“
„Das Einzige, was manchmal läuft, ist deine Rotznase, du Rotznase.“
Anna zog die Nase hoch. „Mit Doktor Klemmer in der Verwandtschaft würde ich auf der Karriereleiter an Frau Eisentraut vorbeirauschen und ihr aufs Haupt spucken. Die hätte er rausschmeißen sollen und nicht Doktor Bunsel.“
„Na, na. Erzähle mir von diesem Bunsel, damit ich mir ein Bild machen kann.“
Anna stellte ihre Tasche ab und setzte sich aufs Bett. „Er hört Musik, die alle hören, fast alle. Er spricht mit den Patienten, als sei er ihr Kumpel, und seine gelben Zähnen bedeuten: Seht her, ich bin einer von euch.“
Vor Lachen spuckte Steffi ein paar Speicheltropfen aufs Bild.
„Und von der Eisentraut“, fuhr Anna mit verdrehten Augen fort, „war er genauso begeistert wie ich. Aber das ist ja kein Wunder, wenn selbst ihr Mann trinkt. Den hättest du sehen sollen, wie er im Schwarzbierhaus den Gang vermessen hat.“
Die Eisentraut interessierte Steffi im Moment so wenig wie der Wasserstand der Elbe. „Könnte es sein, dass Doktor Bunsel dich auch mag, vielleicht über das Berufliche hinaus?“
„Ich hätte mir denken können, worauf dein Interesse abzielt“, sagte Anna, verschwand in ihr Zimmer und schloss sich ein.
Nach mehr als einer Stunde pfiff sie dann im Bad ein Lied. Die Laune stimmte, der Augenblick war günstig. Ohne Pinsel und Palette abzulegen, ging Steffi hin und schubste mit dem Fuß die Tür auf. Ihre Tochter drehte ihren Oberkörper hin und her, den Blick immerfort auf den Spiegel gerichtet. Steffi schaute ein Weile zu. Wie schnell doch junge Menschen zu ihrem Selbstbewusstsein zurückfinden. Brüste sind nicht alles. Anna beachtete sie nicht, nahm die Bürste und schabte lange Furchen ins schwarze Haar.
„Ich weiß nicht genau, was sich in der Praxis abgespielt hat und wie groß der Schaden ist“, sagte Steffi, „aber wir könnten uns nützlich machen und bei der Bewältigung der Krise helfen. Das schulden wir Doktor Klemmer, der dir eine Lehrstelle verschafft hat.“
Anna zupfte ein paar Haare aus der Bürste. „Wie kommst du darauf, dass ich Doktor Bunsels Aufenthaltsort kenne. Denn das meinst du doch, nicht wahr? Jeder fragt mich heute danach. Mir ist Wurst, wo Bunsel sich aufhält, hoffentlich weit genug weg.“
„Ich wollte nur helfen.“ Steffi hob ihre öligen Hände samt Pinsel und Palette in die Luft, wie um ihre Aussage zu beschwören. Dann ging sie wieder ins Schlafzimmer zu ihrem Bild. Aber es ging nichts mehr. Sie räumte die Farben weg und reinigte die Pinsel. Als sie sich selbst im Bad reinigen wollte, posierte Anna immer noch vor dem Spiegel. Aus allen möglichen Richtungen versuchte sie, sich zu sehen. Es schien, als ständen ihre Brüste im Vordergrund des Interesses.
Den unangenehmen Teil des Tages – Frau Zarusch – hatte sich Jens für den Nachmittag reserviert. Er hielt es für angebracht, sie in der heiklen Angelegenheit aufzusuchen, anstatt mit dem Telefonhörer zu sprechen.
Sie wohnte im Stadtteil Lusan im neunten Stockwerk eines Plattenbaus. Die Nachbarin, eine weißhaarige Frau in einem abgetragenen Morgenmantel, trat aus ihrer Wohnung. Am Mund klebten Krümel. Wahrscheinlich, dachte Jens, knabberte sie während ihrer visuellen Ermittlungen am Türspion Kartoffelchips. Die Frau teilte ihm mit, dass der Notarzt Frau Zarusch ins Krankenhaus gebracht habe, weil die Lider ihres rechten Auges die Größe von Silikonimplantaten angenommen hätten.
„Wer sind Sie eigentlich?“ Sie sah ihn an, als sei es hart an der Zeit, dass er sich vorstellte.
„Ein guter Bekannter, der sich freuen würde, wenn die nette Nachbarin auch die Stationsnummer wüsste.“
Sie verriet sie ihm, noch bevor die Duftmarke der offenstehenden Wohnung ihn erreichte.
Das Krankenhaus befand sich oberhalb der Stadt am westlichen Stadtrand. Frau Zarusch lag in einem Zweibettzimmer und hatte nur ein Auge zur Verfügung, um ihn anzusehen. Das rechte trug einen Verband, der den Nasenrücken einschloss. Wie aus Wachs modelliert glänzten Haut und Haare. Neben ihr hing eine Infusionsflasche, die über einen Schlauch mit dem linken Arm verbunden war.
„Zu dumm“, murmelte er, „ich habe die Blumen vergessen.“
„Die Blumen? Heißt das, Sie besuchen mich?“ Ihre Stimme klang dünn. „Als Sie hereinkamen, dachte ich, Sie wollten mich untersuchen … Und wieso sind Sie nicht im Urlaub? Pardon, ich meine, sagten Sie nicht, dass …?“ Sie sah ihn groß mit dem einen Auge an.
„… dass ich nach Südtirol fahre. Ja, aber manchmal löst sich einer von den fiesen Schicksalsbrocken, die einen ständig umkreisen, und stürzt herab. Peng!“
Er beugte sich vor und legte einen Handrücken neben den Verband. Die Stelle war heiß. Und nicht nur sie. Hinter dem matten Glas ihres freien Auges brodelte Fieber.
„Die Ärzte dachten, es könnte sich auf mein Hirn oder so legen, und schnippelten mir am Auge herum. Heute geht es mir besser, obwohl ich aussehen muss wie ’ne aufgedunsene Wasserleiche. Jemanden, der mir einen Spiegel vorhält, verklage ich.“ Sie verzog das Gesicht. Jens glaubte, dass es ein Lächeln sein sollte. „Wissen Sie, warum in Gottes Namen Doktor Bunsel mir den schlechten Zahn wieder verschlossen hat?“
„Das hat er getan?“ Jens wurde kalt. Zuerst in der Kehle, dann in den Eingeweiden. „Ich werde das klären, das verspreche ich.“
Bunsel hatte einen Vulkan von Zahn verstopft. Und nun drohte ihr eine Siunus-Cavernosus-Thrombose, eine Weiterleitung des Eiters zur Augenvene und von dort in ein Venengeflecht des Hirns. Unter Umständen lebensbedrohlich.
„Ich bin wegen Ihrer Anzahlung gekommen“, sagte Jens.
„Oh, zu wenig, was?“
„Nein, nein, Sie sollten überhaupt nichts überweisen.“
„Deshalb kommen Sie extra hierher?“
„In finanziellen Fragen bin ich sehr korrekt. Glauben Sie mir, ich fühle mich geehrt, welch großes Vertrauen Sie mit einem Vorschuss in meine Arbeit setzen. Aber das kann und darf ich nicht annehmen, einfach so eine Geldsumme … Ich glaube, Sie verstehen mich.“ Er schwieg und sah in ihr linkes Auge, das zur Kompensation der Sehleistung aufgerissen war, vielleicht auch wegen ihrer Verwunderung.
Sie zuckte mit der Schulter. „Gut, es war nur so eine Idee. Und wenn ich es mir richtig überlege, eine recht eigenwillige Idee. Sympathie demonstriert man nicht mit ein paar Scheinchen. Dazu noch bei einem Zahnarzt.“
„Na, sehen Sie … Nebenbei gesagt, sind mir als Zahnarzt eintausend Euro nicht den Weg zur Bank wert, sie abzuheben.“ Er stellte sich vor, wie ein Ölscheich lachen würde, dem man einen Euro Wechselgeld herausgibt, und lachte so. „Sie sagten, es wäre nur so eine Idee gewesen. Hat Sie jemand dazu ermuntert?“
„Nein, wer denn?“
Jens spielte den Nachdenkenden. „Vielleicht Doktor Bunsel, der es gut mit mir meinte.“
„Moment mal, wieso ist das wichtig?“ Sie ergriff den Haltebügel überm Bett und zog sich etwas hoch. „Sie müssen zugeben, nach dem Vorfall hier mit meinem Zahn und jetzt mit dem Aufhebens um den Vorschuss sollte ich doch etwas beunruhigt sein.“
„Meine Befürchtung ist lediglich, dass irgendein Umstand in meiner Praxis Sie beeinflusst haben könnte. Es gilt, für alle Zeiten vorzubeugen.“
Sie atmete erleichtert aus. „Ich bin am nächsten Morgen aufgewacht und verspürte den Wunsch, in meine Zahngesundheit zu investieren. Sie sehen also, eine Unregelmäßigkeit in Ihrer Praxis gibt es nicht.“
„Vielleicht kann ich mich ein wenig revanchieren für das, was Ihnen widerfahren ist. Sie baten mich doch kürzlich, einen Vortrag zu halten.“
Frau Zarusch schaute zur Seite. „Das ist mir jetzt aber peinlich. Ich habe Doktor Bunsel gefragt. Tut mir leid. Ist er überhaupt noch da?“
Jens schüttelte den Kopf. Ohne richtig bei der Sache zu sein, ließ er sich sagen, wann und wo die esoterische Veranstaltung stattfinden sollte. Bunsel war ein Lügner hoch drei, aber es war nicht auszuschließen, dass er trotzdem dort hinging.
Er klopfte sanft auf Frau Zaruschs Hand. „Ich überweise Ihr Geld zurück und mache alles wieder gut. Auch ohne den Vortrag zu halten.“
Mit der Willensstärke eines übernächtigten LKW-Fahres bohrte Jens seinen Blick in die Straße und fuhr nach Heinrichsgrün zum Fitnessstudio. Was er jetzt brauchte, war Krafttraining. Wenn man sich mit einem zur Tonnenlast gewordenen Gewicht auf die letzten Wiederholungen der Übung konzentrierte und einem fast die Hände abfielen, war das eine effektive Methode, um abzuschalten. Er konnte sich einschließen und sicherer als zu Hause fühlen und spät am Abend würde er in einem der komfortablen Liegestühle einschlafen.
Er fuhr auf den von einer Mauer umgebenen Parkplatz des Studios. Drinnen trainierte eine Handvoll Leute. Werner erklärte einer Frau mit krummem Rücken und schlaksigen Armen die Handhabung des Zugapparates. Wie doch die Körperhaltung Neulinge zu erkennen gibt, dachte Jens.
„Na endlich.“ Werner kam ihm entgegen. „Glaubte schon, die Mafia hat dir die Kehle durchgeschnitten.“
„Hast du ein paar Klamotten für mich? Meine Trainingstasche steht zu Hause.“
Werner holte einen kleinen Stapel Wäsche und nahm Jens zur Seite. „Um die Frau musst du dich kümmern. Ein Fisch an der Angel. Bei der ist ein Jahresvertrag drin.“ Werner räusperte sich. „Halb acht kommt Marlies und gibt ’ne Stunde Pump. Vertragt euch … jedoch nicht zu sehr.“
Bevor sein Lachen die Ohren erreichte, fing Jens an, ihre beider Planung bezüglich Bunsel zu wiederholen. Werner sollte die Umgebung von Möllers Frühstückspension inspizieren. Logisch betrachtet, kam selbst Jens die Sache töricht vor; er suchte die Stecknadel, während ein Orkan ihm den Heuhaufen um die Ohren fegte. Realitätsbezogen müsste er jetzt auf einem Polizeirevier sitzen und eine Anzeige erstatten. Und Werner stand ins Gesicht geschrieben, dass er sich nicht traute, die Aktion in Frage zu stellen.
Werner verabschiedete sich von seinen trainierenden Schützlingen und übergab die Frau in die Obhut von Jens. Sie war ein leptosomer Typ und der Zugapparat das Richtige für ihren Rücken. Jens widmete ihr eine halbe Stunde, bis ihre Schultern noch tiefer hingen und er den Zeitpunkt zum Aufhören für gekommen sah, um sie vor Muskelkater zu bewahren. Sie fragte, wo sie duschen könne, und Jens erkannte beim Nachblicken, dass in ihrem müden Gang eine Portion Jubel mitschwang. Er zog sich um und ging auf das Laufband am Fenster. Draußen lag der Parkplatz still und spärlich beleuchtet wie ein Friedhof. Ein paar Minuten später fuhren Autos auf, und am Tresen fanden sich Marlies und eine Handvoll Frauen für den Pump-Kurs ein. Hinten auf den Matten stretchten ein paar Männer ihre Muskeln nach getanem Training. Und über allem spannten die hochräumige Leere des alten Fabrikgebäudes und die nüchterne Deckenbeleuchtung, die nur jeder dritten Lampe Saft abgab. Jens verließ das Laufband und zimmerte sich gedanklich einen Trainingsplan. Seine lange Trainingspause erhob Anspruch auf eine sorgfältige Auswahl der Geräte. Wie immer begann er mit dem Bankdrücken. Die Langhantelstange ruhte quer über der Bank auf beiden Ablagen. Er bestückte jedes Ende mit zehn Kilogramm Eisen, legte sich unter die Stange und umfasste sie in Brustbreite. Dann atmete er tief durch und drückte die Stange hoch, ließ sie langsam herunter, bis sie seinen Brustkorb berührte und drückte sie wieder von sich weg. Nach zehn Wiederholungen waren seine Muskeln warm. Er legte noch zwei Zehn-Kilo-Scheiben auf und schlenderte hinüber zum Fenster. Auf dem Parkplatz stand ein Dutzend Autos. Die trauten sich nicht, hereinzustürmen und ein Blutbad anzurichten. Nicht, solange außer ihm noch jemand trainierte. Er ging zurück zur Bank und drückte die Stange so oft, bis er ermattet auf der Bank lag. Das hatte ihm die ganze Zeit gefehlt.
Er blickte zur Glasscheibe der Eingangstür, welche die Schwärze des Universums hatte, und ging hinüber zum Kursraum, wo laute Musik durch die Glastür drang. Dahinter erhellten Lichtblitze die sich rhythmisch bewegenden Körper mit ihren Langhanteln. Marlies stand vor den Frauen mit Headset am Kopf und Funkgerät am Gürtel und gab Befehle, trug selbst eine Langhantel auf den Schultern und bückte sich, wobei sich ihre gewaltigen Oberschenkelmuskeln nach außen bogen wie Blattfedern. Jens sah eine Weile zu und kümmerte sich dann wieder um sein eigenes Training.
Eine halbe Stunde später verließen die Frauen vom Kurs das Studio. Marlies war nicht unter ihnen. Anscheinend saß sie in der Sauna. Ihn kümmerte nur, dass sie da war. Er überlegte, wie er sie in ein Gespräch verwickeln konnte, ohne den Anschein zu erwecken, an ihre gemeinsame Affäre anknüpfen zu wollen.
„Wo ist Werner so dringend hin, dass du ihn vertreten musst?“
Jens drehte sich um. Marlies stand da mit feuchten Haaren und fügte hinzu: „Wenn Werner das Studio verlässt, dann ist entweder Feierabend oder seine Wohnung steht in Flammen.“
„Ein sehr privater Termin, so was soll es auch in Werners Leben geben“, sagte Jens und erschrak. Hinten aus der Sauna kam ein dicker Mann – dick wie Jurek. Sein noch rot erhitztes Gesicht erinnerte Jens an den Werkunterricht in der Gießerei, wo ihn als Kind fasziniert hatte, wie ungeheuer lange große Mengen Eisen zum Abkühlen brauchten. Als der Mann seine Tageskarte bezahlte, fragte Jens ihn, ob er schon mal trainiert hatte.
„Ich wollte nur die Sauna inspizieren. Sehr groß ist die ja nicht“, sagte er zu Marlies.
„Alles relativ“, gab Marlies zurück. „Unsere Philosophie besteht darin, jedermann zu optimieren. Willst du Muskeln, kriegst du welche. Willst du Pfunde loswerden, zeigen wir dir, wo und wie lange du dich abstrampeln musst, bis du die Zierlichkeit erreicht hast, den Saunakasten wie einen Bahnhofssaal zu empfinden.“
Der Dicke lachte befreit und ungläubig zugleich. Als er ging, zog er einen Luftwirbel mit hinaus.
„Ein Korpulenter ist mehr wert als fünf Dünne“, sagte Marlies, die ihr Schmunzeln noch nicht abgelegt hatte.
„Inwiefern?“
„Wenn du Korpulente vorzeigen kannst, können sich andere Korpulente leichter überwinden, mal hier reinzuschauen. Glaub mir, insgeheim wollen die alle abnehmen.“ Sie fischte eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. „Geh mal durch die Modeabteilungen der Kaufhäuser. Aus den Umkleidekabinen stöhnt es wie aus Folterkammern. Dort sollten wir Flyer verteilen mit dem Slogan: Weiche Masse gegen harte Euros. Wie findest du das?“ Ihre Augen leuchteten mit den Strahlern über der Theke um die Wette. „Ich weiß, das klingt komisch, aber man wird nachfragen, wie das gemeint ist, und wir kommen in ein Gespräch.“
Wenngleich ihr Enthusiasmus offenbar dem Leitgedanken geschuldet war, über alles, nur nicht über ihre beider Affäre zu sprechen, war Jens erstaunt. Er durfte nicht versäumen, Werner darauf aufmerksam zu machen, welch geistvolle Beraterin in Marlies schlummerte.
Voll von ihrem Feuer ergriffen, hörte er zu, was sie anders machen würde, wenn ihr das Studio gehörte. Und ihre Sympathie für ihn leuchtete über allem wie ein Reklameschild. Während er dem Umstand zürnte, dass Marlies’ und nicht Steffis Herz für ihn schlug, warf ein auf den Parkplatz auffahrendes Auto einen schwachen Lichtstrahl an die Wand hinter dem Tresen. Von Jens und Marlies unbemerkt.