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1. Die geschichtliche Entwicklung des materiellen Polizeibegriffs

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Der Begriff der Polizei im materiellen Sinn umfasst nach heute hM jene Tätigkeit, die inhaltlich dadurch gekennzeichnet ist, dass sie der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dient. Dieser materielle Polizeibegriff ist das Ergebnis eines langen historischen Entwicklungsprozesses[1]. Der Begriff der Polizei umschrieb in seiner ursprünglichen Bedeutung einen Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens. Von diesem Begriff gingen die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577 sowie die Landespolizeiordnungen aus, die zur Verwirklichung und Erhaltung eines Zustandes „guter Polizey“ für nahezu alle Lebensbereiche der Untertanen umfassende Reglementierungen vorsahen (zB Vorschriften über Handel und Gewerbe, Erb-, Vertrags- und Liegenschaftsrecht, über die Religionsausübung, die allgemeine Sittlichkeit, Kleiderordnungen usw). Hierauf basierend wurde in den absolutistischen deutschen Territorialstaaten die Polizeigewalt zum Inbegriff der dem Fürsten zustehenden absoluten Staatsgewalt, des ius politiae. Davon wurden allerdings im Laufe der Zeit einzelne Bereiche abgesondert, nämlich die auswärtigen Angelegenheiten, das Heer- und Finanzwesen sowie die Justiz. Diese Polizeigewalt des Monarchen, die sich in Akten der Gesetzgebung wie der vollziehenden Gewalt artikulierte, unterlag keinen rechtlichen Beschränkungen, sondern gab dem Herrscher die Möglichkeit, in alle Lebensbereiche der Untertanen zur „Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt“ reglementierend einzugreifen. Man bezeichnete die absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts deshalb auch als Polizeistaaten und die Tätigkeit, welche durch die Polizeigewalt ausgeübt wurde, als Polizei. Sie umfasste sowohl die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit als auch die Förderung der umfassend verstandenen, durch den Monarchen zu definierenden allgemeinen Wohlfahrt.

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Gegen diesen weiten materiellen Polizeibegriff und die ihm korrespondierende umfassende Polizeigewalt des Monarchen wandte sich die liberal und individualistisch gesonnene Aufklärungsphilosophie. Bereits 1770 forderte der Göttinger Staatsrechtslehrer Johann Stephan Pütter in seinem Werk „Institutiones Iuris Publici Germanici“: „Politiae est cura avertendi mala futura; promovendae salutis cura non est proprie politiae“ (Aufgabe der Polizei ist die Sorge für die Abwendung bevorstehender Gefahren; die Wohlfahrt zu fördern ist nicht eigentlich Aufgabe der Polizei). Von dieser Einschränkung des Polizeibegriffs ging auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten vom 1.6.1794 (ALR) aus, das in § 10 Teil II Titel 17 (§ 10 II 17) bestimmte: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publiko, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey“. Mit dieser Regelung war bezweckt sicherzustellen, dass staatliche Zwangsbefugnisse zur Förderung der Wohlfahrtspflege nicht mehr ohne eine besondere gesetzliche Grundlage ausgeübt werden konnten.

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Die im ALR vorgesehene Einschränkung der Polizeibefugnisse geriet freilich in der Folgezeit wieder weitgehend in Vergessenheit. Ohne dass § 10 II 17 ALR formell aufgehoben wurde, war in der Praxis – begünstigt durch verschiedene königliche Verordnungen – festzustellen, dass auf Grund der restaurativen Bestrebungen konservativer Kreise die Kompetenzen der Polizei und – hiermit einhergehend – die staatlichen Zwangsbefugnisse wieder ausgeweitet wurden.

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Einen grundlegenden Wandel, der zu einer tatsächlichen Einschränkung der polizeilichen Befugnisse – und damit des materiellen Polizeibegriffs – führte, bewirkte die Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 14.6.1882, das berühmte Kreuzberg-Urteil[2]. Bei ihm ging es um die Gültigkeit einer Polizeiverordnung, die aus ästhetischen Gründen (Sicherung der Sicht auf ein Siegesdenkmal) die Höhe der Bebauung für bestimmte Grundstücke in Kreuzberg beschränkte. Das PreußOVG hielt diese Verordnung für ungültig. Es stützte sich dabei auf § 10 II 17 ALR, der nach seiner Auffassung die allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage war. Da die Verordnung nicht der Gefahrenabwehr diente, sie vielmehr eine Maßnahme der Wohlfahrtspflege darstellte, sei sie von der genannten Vorschrift nicht gedeckt und damit unwirksam. Das Gericht setzte damit durch, dass die Polizeibefugnisse auf die Gefahrenabwehr begrenzt wurden. In den folgenden Jahrzehnten hielt das PreußOVG im Einklang mit der hM an dieser Judikatur fest und entwickelte auf der Grundlage des § 10 II 17 ALR eine detaillierte Systematik des Polizeirechts.

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Im Gegensatz zu Preußen vollzog in Süddeutschland der Gesetzgeber den Schritt zu einem rechtsstaatlichen Polizeibegriff. Die von Baden (1863 und 1871), Bayern (1861 und 1871), Hessen (1847) und Württemberg (1839 und 1871) erlassenen Polizeistrafgesetzbücher enthielten sowohl Einzelermächtigungen zur Abwehr von konkreten Gefahren als auch Ermächtigungen zum Erlass von Polizeiverordnungen. Zwar war in diesen Ländern umstritten, ob für die nicht ausdrücklich geregelten Fälle subsidiär eine Generalermächtigung zur Gefahrenabwehr galt, und die Rechtslage war unterschiedlich. Jedoch waren übereinstimmend die polizeilichen Zwangsbefugnisse auf den Bereich der Gefahrenabwehr beschränkt.

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Auch unter der Weimarer Reichsverfassung wurde an der liberalen, rechtsstaatlichen Begrenzung des materiellen Polizeibegriffs festgehalten. Einige Länder kodifizierten die Ergebnisse der polizeirechtlichen Rechtsprechung. Andere Länder gingen – mangels positivrechtlicher Normierungen – weiterhin davon aus, dass eine Ermächtigungsgrundlage zur Gefahrenabwehr gewohnheitsrechtlich anzuerkennen war. Von den Kodifikationen seien insbesondere die ThürLVO vom 10.6.1926 sowie das PreußPVG vom 1.6.1931[3], das in § 14 eine polizeiliche Generalermächtigung enthielt, erwähnt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde zwar der materielle Polizeibegriff nicht formell beseitigt. In Gestalt der Gestapo besaß das nationalsozialistische Regime jedoch ein Instrument, um seine politischen Ordnungsvorstellungen ohne gesetzliche Bindung durchzusetzen. Nur auf jenen Sektoren, die keine politischen Bezüge aufwiesen, hielten sich noch Reste eines rechtsstaatlichen, auf die Gefahrenabwehr beschränkten Polizeirechts.

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Eine ähnliche Deformierung des Polizeirechts war auch in der früheren DDR feststellbar[4]. Zwar galten hier bis zum Erlass des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Volkspolizei vom 11.6.1968 (GBl. I, S. 232) die überkommenen Rechtsgrundlagen, insbesondere das PreußPVG fort. Die polizeiliche Praxis setzte sich jedoch über die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze hinweg und „interpretierte“ die polizeirechtlichen Begriffe „um“. Dies galt insbesondere für die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten als eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu qualifizieren war. Hier wurde nunmehr als maßgeblich angesehen, ob ein Sachverhalt dem „gesellschaftlichen Fortschritt“ im Wege stand. Im Volkspolizeigesetz aus dem Jahre 1968 fand dann der Wandel des Polizeibegriffs hin zu einem „sozialistischen Polizeibegriff“ seinen ausdrücklichen Niederschlag. Die Beschränkung auf Gefahrenabwehr entfiel; durch die Einbeziehung einer Art „sozialistischer Wohlfahrtspflege“ wurde auch die formale Beschränkung auf Gefahrenabwehr aufgegeben. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde am 13.9.1990 das „Gesetz über die Aufgaben der Polizei“ (NBPAG) erlassen, das sich eng an die polizeigesetzlichen Regelungen der alten Bundesländer anlehnte und später in allen neuen Bundesländern durch eigene landesgesetzliche Regelungen ersetzt wurde.

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Im Polizeirecht der Bundesländer aber auch des Bundes zeichnen sich in den letzten Jahrzehnten neue Entwicklungstendenzen ab[5]. Wachsende Gefahren durch eine international agierende organisierte Kriminalität sowie terroristische Bedrohungen haben verbunden mit technischen Innovationen zu einer Ausweitung der polizeilichen Tätigkeit geführt. Kennzeichnend hierfür ist der Einsatz neuer Mittel zur Gefahrenbekämpfung und deren partielles Ansetzen bereits im Vorfeld von Gefahren. Insbesondere bei verdeckten Informationseingriffen die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit zu finden, stellt das Polizeirecht vor neue Herausforderungen. Dem trägt eine Ausdehnung des Grundrechtsschutzes Rechnung, in dessen Konsequenz spezifische verfahrensrechtliche wie auch materiell-rechtliche Erfordernisse für neuartige Grundrechtseingriffe aufgestellt werden. Eine Schlüsselfunktion erfüllt hierbei das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Mit dem Ausbau dieser Sicherungen gehen zugleich Kompetenzüberlagerungen in Folge einer stärkere Einbeziehung bundespolizeilicher Behörden in die Gefahrenabwehr sowie ein Ausbau der grenzüberschreitenden operativen und informationellen Kooperation einher. In ihrem Rahmen kommt supranationalen und internationaler Organisationen eine wachsende Bedeutung zu. Wichtige Impulse für eine Zusammenarbeit innerhalb der EU ergeben sich vor allem aus Titel V AEUV. Er postuliert die EU als einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ und enthält in den Art. 67 ff AEUV nähere, der Verwirklichung dieses Zieles dienende Vorschriften.

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