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ОглавлениеSonntagabend brach er auf zum Flughafen. Er nahm sich den Schlüssel für den Corsa vom Brett im Flur, als die Küchentür aufging.
»Du fährst noch weg?«
Sein Vater trug eine Kochschürze, die mit etwas besprenkelt war, das Rahim für Tomatensoße hielt. Spritzer davon zierten auch die Hornbrille und den Bart. Seit er durch die Pleite seiner Firma arbeitslos geworden war, übernahm er für Mama mit dem Haushalt auch das Kochen.
»Ja. Muss zwei Kumpel abholen.«
»Von deiner … Tekke?«
Rahim nickte. »Ich esse mit ihnen in der Stadt.«
Sein Vater runzelte die Stirn, er schien zu überlegen, ob er ihm wie so oft Vorhaltungen machen sollte.
»Oma ist wieder im Krankenhaus«, sagte er am Ende. »Kommst du morgen mit, sie zu besuchen? Ich glaube, es geht nicht mehr lange.«
Obwohl er wusste, dass Omas Kehlkopfkrebs schon Metastasen im ganzen Körper gebildet hatte, sie schon lange nicht mehr sprechen konnte, zuckte er zusammen. Er hatte bei ihr gelebt, als er klein gewesen war und seine Eltern beide gearbeitet hatten, und liebte sie mehr als seine Mutter. Aber er wusste nicht, was Dastan und Seyyed für morgen planten. »Ich versuch’s in jedem Fall.«
Rahim machte einen Schritt zur Tür, doch sein Vater hielt ihn zurück. »Sonst alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, klar. Was soll sein?«
»Bleib sauber, Sohn.«
Rahim zuckte ein zweites Mal zusammen, ehe er ging.
Nach der Rückkehr vom Flughafen aßen sie in einem libanesischen Lokal, das Rahim ausgesucht hatte. Sobald sie saßen, deutete er auf die mit Filigran verkleideten Lampen. »Wie in dem Restaurant in London, wisst ihr noch?«
Dabei war damals nur Seyyed mitgegangen, ein Dicker mit Topffrisur und einem käsigen Geruch und einem Faible für coole Sprüche. Jetzt allerdings war er so schweigsam wie Dastan. Nur sein grelles Blumenhemd hob sich ab von Dastans düsterer Montur aus Ledermantel, schwarzem Pullover und ebenso schwarzen Hosen.
»Ich kann’s kaum erwarten, wieder hinzukommen«, sagte Rahim und nutzte die Gelegenheit, Dastan an sein Versprechen vor ein paar Tagen zu erinnern.
Dastan schmierte sich Auberginenpüree aufs Fladenbrot, biss ein Stück davon ab und kaute es, ehe er sagte: »Klar, Junge. Bis dahin müssen wir aber noch etwas leisten. Stählerne Rollläden, hast du vorhin gesagt?«
»Ja.« Rahim zählte nochmals die Sicherheitsvorkehrungen auf, die er ihnen schon auf der Fahrt beschrieben hatte.
»Dann lass uns gleich hinfahren und uns umschauen.«
Damit erwischte er Rahim kalt. Der Teppich war angeblich Jahrhunderte eingemauert gewesen. Warum also die Eile und die Aufregung? Noch nicht einmal ihr Gepäck hatten sie in die Tekke gebracht, in der sie übernachten würden.
»Klar«, sagte er. »Ich hab Zeit.«
Eine Weile aßen sie schweigend, bis Dastan wieder abrupt das Thema wechselte. Er lächelte.
»Zahra, hast du damals gesagt.«
Rahim begriff nicht, was er meinte. Trotzdem fühlte er sich ertappt. »Zahra? Wann habe ich Zahra gesagt?«
»Als ich bei dir angerufen habe. Und auf Englisch. Wie viele Zahras kennst du in London?«
Rahim erinnerte sich an seinen Lapsus und wurde dunkelrot. Seine Gegenüber sahen sich an und grinsten.
»Ich … habe damals einen Plastikspiegel von ihr auf der Bank gefunden und dachte, sie ruft an, weil sie ihn wiederhaben will.«
Sie lachten so laut, dass eine Gruppe Gäste am Nebentisch herüberstarrte.
»Du hast geglaubt, sie ruft bei dir wegen eines Plastikspiegels an?«
Rahim schwieg. Natürlich war es idiotisch gewesen.
»Hör mal, Junge«, sagte Dastan. »Ich bin nicht überall dabei, aber ich habe Augen und Ohren. Du hast im Speisesaal zu ihr rüber geschaut, bist um sie herumscharwenzelt wie die Maus um den Speck, hast nur Muffensausen gehabt, sie anzusprechen. Du willst wegen ihr nach London, hm?«
»Nein«, behauptete Rahim. »Ich … sehe dort vor allem bessere berufliche Möglichkeiten.« Er kratzte all seinen Mut zusammen. »Und wenn es so wäre? Sie hat mir gefallen, das gebe ich zu. Aber ich habe nichts Unehrenhaftes getan.«
Dastan zwinkerte ihm zu. »Weißt du, ich mag dich. Das mit der Galerie hast du bisher prima gemacht. Und jetzt bist du auch noch ein Kerl, der weiß, was er will, hast erstaunlichen Geschmack. Eine Prächtigere als Zahra wirst du kaum finden, selbst wenn sie stolz ist und ihren eigenen kleinen Kopf hat. Außerdem bist du mutig. Verliebst dich ausgerechnet in die Tochter unseres Scheichs.« Er lachte wieder, diesmal leiser.
Es war pure Phantasie. Da könnte er sich sogar in die Tochter eines Königs verlieben. »Ich … kann man seine Gefühle steuern?«, rechtfertigte er sich.
»Manchmal«, sagte Dastan, »muss man es. Aber vielleicht nicht in diesem Fall.«
Rahim durchlief ein Prickeln.
Dastan packte seine Hand. »Junge, der Teppich ist tausendmal bedeutungsvoller, als du ahnst. Wenn du hilfst, ihn zu beschaffen, wird der Scheich erwägen, sie dir zur Frau zu geben. Mit seiner Einwilligung kannst du sie heiraten, obwohl sie erst sechzehn ist.«
Er stellte sich vor, Zahra zu besitzen, und sofort presste sich sein steifes Glied gegen den Stoff seiner Hose. »Die Frage ist doch, ob sie will«, stammelte er.
»Du bist ein stattlicher Bursche. Warum soll sie dich abweisen?«
»Ich habe ja nicht mal mit ihr gesprochen.«
Im Garten der Tekke, am letzten Abend, da hätte er seinen Mut zusammengenommen. Aber sie war ihm durch ihren hastigen Aufbruch zuvorgekommen.
»Der Scheich wird es für dich tun.«
»Aber … so will ich es nicht. Und du hast doch gesagt, sie ist … eigenwillig.«
Dastan hob eine Braue. »Nicht so eigenwillig. Niemand bei uns kann das sein, verstehst du, Bruder?«
Rahims fürchtete jetzt, sein Glied könnte platzen.
Nach dem Essen langte er in der Jacke nach dem Geldbeutel.
Dastan hielt ihn zurück. »Du bist eingeladen. Hol mir den weißen Umschlag aus der Vordertasche. Dort sind meine Euros drin.«
Rahim öffnete gehorsam den Reißverschluss von Dastans Reisetasche aus weinrotem Cordura auf der Sitzbank. Das Kuvert ertastete er ganz zuunterst. Um es packen zu können, zog er etwas heraus, was im Weg lag. Ein Kunststoffdraht, an dessen Ende dunkle Holzgriffe befestigt waren.
»Was ist das?«, fragte er. Der Draht weckte in ihm auf eine ungute Weise Erinnerungen an gewisse Filmszenen.
Dastan nahm ihm das seltsame Teil ab und spannte den Draht. Er tat es halb unter dem Tisch, sodass es nur Rahim sehen konnte. Dann platzierte er ihn ohne Vorwarnung über Rahims Handgelenk und überkreuzte blitzschnell die Griffe. Es schnürte ihm das Blut ab und der Schmerz raubte ihm den Atem. Sofort ließ Dastan locker.
»Siehst du? Mein treuer, kleiner Freund«, sagte er. »Eine Klaviersaite.«
Rahim rieb sich das Handgelenk, auf dem sich ein roter Striemen gebildet hatte. Eisige Kälte packte ihn. Eine solche Würgeschlinge benutzte man nur von hinten, nicht zur Verteidigung. Dastan hatte erzählt, dass er früher Soldat gewesen war. Aber wofür brauchte er eine Mordwaffe?
Dastan sah ihn einen Moment forschend an. Schließlich sagte er: »Reine Gewohnheit. Natürlich werden wir sie nicht benutzen. Hast du damit ein Problem?«
Rahim schluckte. »Nein. Auf der Schule hatten auch viele Messer«, fiel ihm ein.
Dastan nickte. »Du weißt nie. Jetzt tu sie wieder rein.«
Rahim parkte in der stillen Seitenstraße, von der aus er die Galerie in den letzten Tagen beobachtet hatte. Seine Gäste drückten sich in die Rückbank, Dastan spähte durch ein Fernglas. Niemand sagte etwas, bis Dastan das Glas absetzte. »Seyyed und ich schauen es uns an.«
Kurz darauf schlichen sie hinüber. Rahim beobachtete, wie sie die Front mit den heruntergelassenen Stahlrollläden abliefen und schließlich im seitlichen Hof vor dem Nebeneingang haltmachten. Dort inspizierten sie die Alarmanlage und das Zahlenschloss. Auf Rahim machten sie einen ratlosen Eindruck. Er hatte bis jetzt keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie die Festung knacken würden. Für Profis, nahm er an, trotz allem kein Problem. Die zwei waren ehemalige Soldaten, vielleicht noch anderes, wovon er besser nie etwas erfuhr. Echte Einbrecher waren sie jedoch nicht, das merkte ein Blinder.
Zurück im Wagen, knatterten sie los in kehligem Farsi, von dem Rahim trotz seines aus dem Iran stammenden Vaters nur Brocken verstand. Der Corsa füllte sich mit Dastans Aftershave und Seyyeds käsigem Körpergeruch. Ihre Atemluft staute sich und ließ die Scheiben beschlagen.
Schließlich wandte sich Dastan auf Englisch an ihn: »Das wird schwierig, Junge. Wir brauchen einen Plan, jede Menge Zeit und vermutlich Hilfe von anderen. Verdammt! Der Scheich wird enttäuscht sein.«
Nicht nur er. Rahim hatte es befürchtet, trotzdem deprimierte es ihn. Der Traum von Zahra schrumpfte so rasant wie sein Schwanz vorhin im Lokal. London – aus und vorbei? Kehrte er wieder wimmernd in das schwarze, abgeschottete Verlies zurück? Außerdem dachte er daran, dass er die beiden nicht ewig mit dem Zweitwagen herumkutschieren und vor Teppichgeschäften auf der Lauer liegen konnte, ohne dass sein alter Herr etwas peilte.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er.
Dastan winkte ärgerlich ab und stieß etwas aus, das wie ein persischer Fluch klang. »Fahr uns in die Tekke, was können wir schon tun?«
Rahim ließ achselzuckend den Motor an. Er legte den ersten Gang ein, bog auf die Fahrbahn und näherte sich der Kreuzung.
Dann bremste er abrupt.
»Warum bleibst du stehen?«, fragte Dastan.
Gestoppt hatte er nicht wegen des Querverkehrs, sondern wegen eines schwarzen Mercedes, der diskret die Hauptstraße entlangfuhr. Jetzt bog er in den Hof der Galerie und kurz darauf schlüpfte jemand aus der Limousine.
Im fahlen Licht der Laterne erkannte Rahim Eschenbach.