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ОглавлениеNormalerweise treffen wir uns mit Mandanten in der Kanzlei, im Gericht – oder auch im Knast. »Herr Eschenbach«, sagte ich jedoch zu meinem Fahrgast, »hat auf seiner Hütte bestanden. Er will uns etwas Wichtiges zeigen.«
Molban quittierte es mit einem Nicken. Er schnallte sich an und ich gab meinem dreizehn Jahre alten Fiat Uno die Sporen. Ich hatte Molban abholen müssen, weil er weder ein Auto besaß noch fuhr, seit er den Führerschein angeblich in einer Schublade verlegt hatte. Das Getriebe machte beim Schalten in den Dritten ein unzufriedenes Geräusch. Wie mein Gebiss, fiel mir ein, als mir mein kleiner Bruder während eines Nordseeurlaubs heimlich Sand in die Mayo-Pommes gestreut hatte.
Mehr als die bevorstehende Enthüllung Eschenbachs interessierte Molban eine andere. Er starrte auf den Anhänger mit einem winzigen Kruzifix aus schwärzlichem Silber um meinen Hals: »Sie sind Christin?«
Es klang wie: Sie hören Stimmen?
»Nein«, beruhigte ich ihn. »Ich wähle schon mal CDU, aber sonst nichts. Es ist ein Geschenk meines Freundes.«
Ein passender Hinweis, angesichts dessen, dass wir zusammen in den Wald fuhren. Außerdem war die Enttäuschung, die er kaum unterdrücken konnte, aufschlussreich.
»Geschwindelt«, sagte ich und lächelte gemein. »Von meinem Freund ist das hier.« Ich tippte gegen den Mercedesstern an meinem Zündschlüsselbund. »Er arbeitet dort.«
Molban zog eine Augenbraue hoch, als fände er dies unpassend.
»Der Anhänger ist ein Erbstück, das schon meiner Urgroßmutter gehört hat«, sagte ich. Auch Mutter trug es. Aber nicht in jener Nacht. Hätte es einen Unterschied gemacht? »Mehr ein Talisman. Der gute, alte Jesus. Für Religion scheint mir das Gen zu fehlen.«
»Oder das Elternhaus«, meinte er.
Mir fiel ein, dass ich keinen Ring an seinen Händen bemerkt hatte. »Apropos. Was, darf man fragen, schenkt man denn als Philosoph so Frau oder Freundin?«
»Gar nichts. Früher habe ich wenigstens meiner Mutter Gedichte zum Muttertag geschrieben.«
Ich intensivierte die Gemeinheit meines Lächelns. »Bei einem aufstrebendem Yogalehrer und Noch- oder Wieder-Detektiv müssen sich doch die Bewerberinnen die Klinke in die Hand geben.«
»Ich habe die Liebe des Lebens in Großbritannien gefunden und verloren«, sagte er ungerührt. »Sie war die Tochter meines Philosophieprofessors.«
»Eine Wirtstochter wäre ja auch unpassend.«
»Das ist es weniger. Ich bin eben ein schwieriger Mensch.«
Das Getriebe und ich führten einen kurzen, verbissenen Kampf. Für diesmal triumphierte ich.
»Inwiefern?«
»Ich bin mal sehr krank gewesen, manchmal überkommt mich deshalb eine Melancholie. Ich bin Vegetarier. Eigen in vielerlei Dingen. Außerdem stecke ich oft in Gedanken und brauche meine Ruhe. Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der die ganze Zeit redet.«
»Am besten sehen Sie sich in einem weiblichen Trappistenkloster um«, stichelte ich. »Seid ihr Kerle nicht sowieso alle gleich? Euch plagt der Schniedel, aber wenn ihr euren Samen im Schoß des Mädchens einmal deponiert habt, komplimentiert ihr es vor dem Frühstück wieder hinaus.«
Molban schmunzelte und ich fragte mich, ob ich nicht zu weit ging. Unter meinen Händen bildete sich ein feuchter Film auf dem Lenkrad.
»In dem Punkt sind sich wohl alle Männer gleich«, sagte er. »Allerdings suchen sie auch eine Gefährtin, jemanden, den sie im Arm halten können. Mit dem sie zusammen träumen können.«
»Die bloß nicht zu viel dummes Zeug redet?«
»Exakt.«
Für den Rest der Fahrt schaffte ich es immerhin, den Mund zu halten.
Wir fanden die Jagdhütte nach einigem Hin und Her. Eine Geschichte mit Fachwerk und Schindeldach, geräumig und wie aus einem Heimatfilm. Sogar die zugezogenen, eisernen Fensterläden wiesen herzförmige Aussparungen auf.
Eschenbachs Mercedes parkte vor dem Haus, sonst gab es kein Anzeichen seiner Anwesenheit.
Molban ließ einen Detektivblick über Hütte und Umgebung gleiten. Er lauschte einen Augenblick, ehe wir hingingen. Automatisch ließ ich ihm den Vortritt, als hätten wir seine Sphäre betreten, in der ich nur geduldeter Gast war. Er klopfte, denn es gab keine Klingel.
Nichts rührte sich.
»Herr Eschenbach? Wir sind von Ruchling & Suttner.«
Wieder lauschte er. Dann klopfte er noch einmal.
Schließlich probierte er die Klinke. Die Tür war unverschlossen und er öffnete sie mit leisem Knarren.
Dahinter war es stockdunkel und still.
»Herr Eschenbach?«
Molban trat in die Hütte und ich folgte ihm. Am liebsten hätte ich seine Hand gepackt.
Im gleichen Moment, in dem er nach dem Lichtschalter tastete, flammte eine Lampe auf und blendete uns.
Als ich wieder sehen konnte, sah ich Eschenbach in einem Sessel hinter einem Schreibtisch sitzen. Eine Hand lag auf dem Schalter einer Tischleuchte, mit der anderen zog er sich Ohrstöpsel aus den Ohren.
»Kommen Sie rein. Ich war nur eingenickt.«
Er trug wieder einen Anzug, diesmal allerdings knitter- und rauchfrei, dazu ein fliederfarbenes Einstecktuch.
Er stand auf und gab uns die Hand. »Erstaunlich für einen Paranoiker, nicht wahr?«, sagte er, noch leicht schläfrig. »Bei unverschlossener Tür einzunicken in einer Hütte im tiefsten Wald. Aber nicht mal meine Frau kennt mein Refugium und ich fühle mich inzwischen unter Pflanzen und Tieren sicherer als unter Menschen.«
»Das mit dem Paranoiker bleibt ja unter uns«, scherzte ich, sobald ich mich von dem Schock erholt hatte. »Darf ich Ihnen Herrn Doktor Molban vorstellen? Er arbeitet schon lange erfolgreich als Ermittler für die Kanzlei.«
Molban sollte jetzt mit unterwürfigem Grinsen die Hand seines potenziellen Brötchengebers schütteln. Stattdessen streckte er sie abwesend hin, als reichte er das Salz bei Tisch, und beäugte einen merkwürdigen verspiegelten Koffer auf dem Schreibtisch.
»Schönes Stück, das da«, murmelte er anerkennend.
Jetzt erst bemerkte ich, dass die Verspiegelung aus Hunderten von rautenförmigen Metallplättchen bestand.
»Nicht wahr?« Eschenbach lächelte. »Ich habe ihn von einem Goldschmied in Aleppo anfertigen lassen.«
Molban strich bewundernd über das Metall des Koffers.
»Was für ein Doktor sind Sie, wenn ich fragen darf?«, unterbrach Eschenbach seine Andacht. Wahrscheinlich hatte er sich unter einem Detektiv einen schwiemeligen, nach Tabak stinkenden Lederjackenträger vorgestellt.
»Philosophie«, sagte Molban nur. Weiteres schien er für unnötig zu halten.
Zu Recht. Denn Eschenbach lüpfte eine Augenbraue. »Philosophie, das trifft sich! Ich wollte Ihnen sowieso was zeigen. Nicht, um Sie zu überzeugen, sondern damit Sie mich verstehen. Sagen Sie mir, Herr Molban: Glauben Ihre Philosophen, dass zwei und zwei stets vier ergeben muss?«
Ich hätte jetzt gerne die Augen verdreht. Stattdessen bewunderte ich ein Hirschgeweih an der Wand.
Molban sagte dagegen lediglich: »Zum einen, Russell und Whitehead haben es in den Principia Mathematica bewiesen. Andererseits gibt es eine Linie des Skeptizismus, Descartes, sein Zweifel, ob wir mehr wissen können, als dass wir existieren. Aber die meisten glauben an einen, sagen wir, technologischen Erfolgsbeweis. Wenn uns die Mathematik in die Irre führte oder ungenau wäre, dürften weder Flugzeuge fliegen noch Schiffe schwimmen. Und wenn ich zwei und zwei Stück Kuchen gegessen habe, bin ich jedenfalls exakt so satt wie nach vieren. Sie nicht?«
»Durchaus«, gab Eschenbach zu. »Vorausgesetzt, die Stücke wären jedes Mal gleich groß.«
Er verschwand kurz in einem Nebenraum. Als er zurückkehrte, trug er zwei Brücken unter dem Arm. Er rollte den ersten Teppich vor uns aus, zog einen kleinen Kamm aus der Jacke und glättete mit ihm sorgsam die Fransen. »Ein junger Kayersi, nur zweitausend Knoten. Er hat keinen besonderen Wert. Außer für mich.«
Tatsächlich war es ein stinknormaler Teppich in Rot und Braun, mit geometrischen Formen in der Mitte und wabenförmigen Mustern am Rand. Eschenbach kniete sich jedoch neben ihn und fuhr mit der Hand die Waben in der Bordüre nach. »Mit bloßem Auge können Sie es nicht erkennen. Aber man kann es messen. Jede Wabe hat minimal unterschiedliche Seitenlängen. Ein oder zwei Knoten. Ich nenne es: die Unschärfe.« Er sah hoch und fixierte uns. »Das Entscheidende ist: In Summe über die Bordüre wiederum ergibt sich ein exaktes Verhältnis von sieben zu vier zwischen den Längs- und Querseiten der Waben.«
Das war sie also, Eschenbachs außerirdische Mathematik. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Molban, der mit Pokermiene und leicht gerunzelter Stirn dasaß. Eschenbach schwieg erwartungsvoll und Molban sagte schließlich: »Sie meinen, diese ›Unschärfe‹ ist berechnet? In Summe ergibt sie wieder eine vollkommene Präzision?«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Eschenbachs Augen leuchteten auf. Er sprang auf und rollte die zweite Brücke ab. Rautengitter mit stilisierten Blüten. »Beachten Sie die Linien des Gitters! Sie sind nicht hundertprozentig parallel, sondern verschieben sich um ein bis drei Knoten. Doch auch hier ergibt sich wieder ein exaktes Verhältnis über die Summe. Die Innenflächen weisen immer einen von genau zwei Werten auf.«
Eschenbach setzte sich schwer atmend. »Ich nenne es eine annähernde Mathematik. Erst am Ende eines komplexen Algorithmus ergibt sich ein exaktes Ganzes. Das hier sind nur die einfachsten Beispiele. Und deshalb glaube ich, dass für … sie einmal zwei und zwei nicht genau vier ergibt, sondern ungefähr. Erst viele Male hintereinander ergibt sich ein exaktes Vielfaches von vier.«
»Aber was ist der Sinn?«, entfuhr es mir.
Eschenbach sah mich an. »Nicht der Sinn, sondern die Sinne, Frau Pfennig! Ich stelle sie mir vor wie Insekten. Daher keine Quadrate, sondern Waben … Und ihr am besten entwickelter Sinn ist statt des Sehens der Geruch.«
Eschenbachs Blick schoss zwischen uns hin und her. »Verstehen Sie den Unterschied? Das Auge ist binär: Entweder ein Gegenstand ist da oder nicht, entweder er war da oder er ist noch da. Sein, Nichtsein, Vergangenheit, Gegenwart: Alles ist getrennt. Die Raumlage eines Objekts – das stereoskopische System kann sie exakt bestimmen. Unsere ganze Mathematik, denken Sie an Euklid, hat sich aus an-schau-licher Augen-Mathematik entwickelt.« Er schwieg für einen Moment.
»Was aber«, fuhr er schließlich fort, »wenn das wichtigste Sinnesorgan die Nase wäre? Ein Geruch hinterlässt immer eine Spur, die mit der Zeit verblasst. Nur an der Stärke könnten wir entscheiden, ob unsere Frau noch vor uns sitzt – oder vor einer halben Stunde das Zimmer verlassen hat. Wir wären gezwungen, in Wahrscheinlichkeiten zu denken, dabei alle Möglichkeiten einzubeziehen, auf jedes Ja/Nein zu verzichten. Und das«, er deutete auf den Teppich, »liegt meines Erachtens zu unseren Füßen. Eine unscharfe, IHRE, die EXTRINISCHE MATHEMATIK.«
Eschenbach klopfte auf seinen Spiegelkoffer. »Hier drin befinden sich Berechnungen, die dem Bau der Cheopspyramide zugrunde liegen. Mir fehlt die Zeit, alles zu erklären. Aber ohne diese Mathematik wäre sie nie gebaut worden. Und zwar von IHNEN. Darin stimme ich von Däniken absolut zu.«
Erst jetzt fielen mir die Bücher in einer Kiste hinter dem Schreibtisch auf. »Die Spuren der Außerirdischen«, »Waren die Götter Astronauten?«, so lauteten zwei der Titel.
Die Erwähnung von Dänikens rüttelte Molban offenkundig wach. »Herr Eschenbach, alles schön und gut und nicht uninteressant. Aber könnte es auch sein, die Knüpferinnen haben einfach schlampig gearbeitet und die von Ihnen beschriebenen Verhältnisse ergeben sich durch Zufall?«
Eschenbach lächelte nachsichtig. »Das dachte ich früher auch. Bis zu Yamamotos Besuch jedenfalls. Ich hatte viel nachgedacht über Teppiche, die im Islam die Vollkommenheit Gottes repräsentieren. Ist es da nicht viel naheliegender, dass das, was Sie schlampig nennen, in Wahrheit Teil eines Plans viel größerer Vollendung ist?«
»Und wie soll die Mathematik in die Teppiche gekommen sein?«, fragte Molban. »Die Frauen sind doch ungebildet, zum Teil Analphabetinnen, die nicht einmal rechnen können.«
Eschenbach zuckte die Achseln. »Liegen gelassene Notizen unserer prähistorischen Lehrer und Baumeister. Sie müssen wie Götter verehrt worden sein. Ja, sie waren unsere Götter. Die Menschen haben alles von ihnen aufbewahrt, nachdem sie zurück zu den Sternen sind. Zweifellos schrieben sie den Formeln magische Kräfte zu und nahmen sie deshalb in die tradierten Muster auf. Sie mussten gar nicht wissen, was sie bedeuten.«
Eschenbach sah uns den mangelnden Enthusiasmus an. »Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass ich Sie überzeugen kann, ich wollte es nur erklären. Jedenfalls enthält jener jetzt verschwundene Teppich meiner Meinung nach einen weiteren Beweis für ihre Anwesenheit. Nämlich die Darstellung eines Raumschiffs in seinem Zentrum.«
Sollte man lachen? Oder am Ende anfangen, ihm Glauben zu schenken? Die dämmrige Hütte, Eschenbachs Beredtheit und sein inneres Leuchten wirkten nahezu hypnotisch.
Molban runzelte jedoch ungerührt die Stirn. »Ein Raumschiff? Wie hat es ausgesehen?«
Eschenbach malte etwas auf einen Block und schob ihn zu uns herüber. Es erinnerte an eine Suppenterrine mit Bullaugen und einer Antenne statt eines Knaufs. »Aus dem Gedächtnis«, sagte er. »Ich hatte nur ein einziges Mal die Gelegenheit, ihn anzuschauen.«
Molban schürzte die Lippen. »Eine fliegende Untertasse. Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass die ersten in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts beschrieben wurden? Und niemals in den Jahrtausenden davor? Seltsam, nicht? Wenn sie zuvor niemals erwähnt wurden – haben wir dann tatsächlich eine Ahnung, wie ihre Raumschiffe aussehen? Könnte es nicht jede erdenkliche Form sein? Und ist es nicht denkbar, dass Sie, dass wir alle nur unsere Vorstellungen in unsere Wahrnehmungen projizieren?«
Eschenbach wirkte zum ersten Mal verunsichert. »Wie gesagt, ich konnte es nur ein Mal sehen. Der Teppich war zu brüchig. Aber die Mathematik – da zumindest hege ich keine Zweifel. Wenn man das Corpus Delicti nur vor sich hätte …«
Wir verfielen in Schweigen. Bis Molban wieder das Wort ergriff: »Die Probleme im Zusammenhang mit Ihrer Theorie werden wir kaum hier und jetzt lösen. Was den Teppich betrifft, hat Frau Pfennig wohl immerhin etwas Neues.«
Auf das Stichwort zog ich die Fotos aus der Handtasche, die ich mit Hilfe der Feuerwehr von Eschenbachs Dachgeschossbüro gemacht hatte. »Sehen Sie? Ihr Schreibtisch steht noch. Und darauf sind nur Flaschen und Kanister, von einer Holzkiste ist nichts zu sehen. Sind Sie sicher, dass sie dort gestanden ist?«
Eschenbach schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Ja, vollkommen! Und das ist der Beweis: Der Teppich und sein Verschwinden müssen etwas mit dem Überfall zu tun haben. Und da nur ich und meine Frau von ihm wussten und ich ausscheide …«
»Hm …« Molbans Blick wanderte zur Decke. »Ist das so? Zumindest die, die ihn Ihnen verkauft haben, müssen noch von ihm wissen.«
Eschenbachs Reaktion war seltsam. »Das können Sie vergessen«, sagte er ärgerlich. »Der Basarhändler ist ein alter Geschäftsfreund. Und warum sollte er seine Kunden überfallen?«
Molban musterte Eschenbach mit einem schwer zu deutenden Blick. Schließlich zuckte er mit den Achseln. »In der Tat, warum? Dann erzählen Sie mir von Ihrer Frau …«