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ОглавлениеRahim Baqeri-Schöller öffnete im strömenden Regen die Tür seines Elternhauses in einer Kleinstadt am Rand des Pfälzer Walds. Was Luna daraufhin tat, gab ihm den Rest. Die Nachbarskatze hatte auf der Eingangsstufe unter dem Vordach gewartet. Auf ihn, hatte er gedacht, damit er sie hineinließ und ihr Milch gab wie immer. Automatisch streckte er den Arm aus, um sie zu streicheln. Luna schoss jedoch davon, als hielte er ihr ein brennendes Streichholz ans Fell, und verschwand hinter der Regenwand Richtung Garten.
Was hatte er ihr getan, was allen Menschen getan, dass sie ihn mieden wie einen Aussätzigen? Er hatte gehofft, sein Leben würde sich verändern, nachdem ihn sein Schulkumpel Mustafa vor zwei Jahren zum ersten Mal zu einer Hadra, einem Gemeinschaftsgebet, der Söhne mitgenommen hatte. Die deutsche Tekke war neu gewesen und wo, wenn nicht hier, hätte er Anschluss finden sollen?
Am Anfang war es ihm auch wie im Märchen erschienen. Er hörte auf, die Schule zu schwänzen und herumzuhängen, und büffelte fürs Abi. Er, der dank seiner christlichen, deutschen Mutter und seines jüdischen, aus dem Iran stammenden Vaters über Mohammed bis dahin nicht mehr gewusst hatte als über den Weihnachtsmann, studierte auf einmal Arabisch und den heiligen Koran. Wie alle verbrachte er außerdem einen Tag bettelnd, in seinem Fall vor dem Aldi der Nachbarstadt, um das Geld hinterher dem angestammten Bettler zu geben. Hossein Ali, der lokale Scheich, hatte ihm danach die Finger auf die geschlossenen Augen und die eigene Bettelschale in die Hand gedrückt als Zeichen der Aufnahme als Murid. Damit gehörte er zur Familie.
Und es kam noch besser. Er gewann einen Wettbewerb im auswendigen Rezitieren des Korans und durfte als Einziger aus Deutschland für eine Woche nach London, hatte sogar eine Audienz bei Großscheich Tabrizi. Er träumte nachts immer noch davon. Es war das Beste, was er je erlebt hatte.
Doch seitdem behandelten sie ihn hier wie die Pest.
Tief im Inneren wusste er, er hatte es selbst vermasselt. Hatte nichts mitgebracht, gab ein bisschen an, wie ein Pilger nach dem Hadsch, der einen Schuss Staunen und Respekt erwartete. Trotzdem: Jeder andere wäre genau so begrüßt worden. Nur er nicht. Weil er ein Niemand war und es bleiben musste. In der Schule hatten sie ihn als hinkenden Ajatollah verspottet, weil er wegen eines angeborenen Längenunterschieds ein Bein nachzog. Jetzt galt er plötzlich als arroganter Streber.
Er war dazu verdammt, als hinkender Clown schweigend im Eck zu sitzen, dankbar, dass man ihn nicht wie einen Hund vor die Tür jagte. Und wenn er wie mit dem gewonnenen Wettbewerb einmal einen Erfolg hatte, erwarteten die anderen, dass er sein Licht unter den Scheffel stellte.
Rahim trat ins Haus und sah auf der Dielenkommode einen weißen Umschlag, den sein Vater ihm wohl hingelegt hatte. Eine abgelehnte Bewerbung. Und ein göttliches Zeichen? Erst geschnitten zu werden wie ein Paria, dann Luna, die lieber in den Regen flüchtete, als sich von ihm streicheln zu lassen. Und nun auch noch das. Nichts als Ablehnung, überall. Konnte es sein, dass er sich den Zorn Allahs zugezogen hatte? Oder hatte Er ihn nur übersehen wie alle anderen zuvor?
Als er die Tür zu seinem Zimmer im Souterrain aufschloss, standen ihm Tränen in den Augen.
Dastan war Kommandant der Assassinen, wie Tabrizi seine Leibgarde nannte. Diese hatte er sich zugelegt, nachdem ihn ein Geisteskranker bei einer öffentlichen Hadra mit Apfelsaft übergossen hatte, der ja hätte Säure sein können. Natürlich verkörperte sie dazu den Nukleus der noch diffusen Armee des Mahdis, eine Samenkapsel, die zum rechten Zeitpunkt aufplatzen und die Erde mit Kämpfern übersäen sollte. Aber waren sie schon so weit? Knapp ein Dutzend Leute mit Militär- und Sicherheitsdiensterfahrung. Kampfsport, Messer, ein paar illegale Pistolen. Der Prophet hatte Hunderte von Kriegern besessen und keine gewaltigen Armeen als Gegner gehabt.
Dazu kam: Er hatte sie bis jetzt nichts aus Sicht der Ungläubigen Ungesetzliches tun lassen. Wie würden sie reagieren? Wie, vor allem, würde Dastan reagieren? Er stand im schiefergrauen Anzug vor ihm, darunter ein schwarzes T-Shirt, trug Dreitagebart und roch nach Moschusrasierwasser. Geschmeidig, konzentriert, äußerlich gelassen. Nur Tabrizi kannte die Säure, die ihn von innen zerfraß, die er aufgehalten, aber nicht entfernt hatte. Er wusste, was Dastan als Kommandosoldat in der britischen Armee bei einem Einsatz im Irak erlebt hatte. Was ihn nach einer Irrfahrt durch Psychiatrien zum Glauben und zu ihm gebracht hatte.
»Setz dich! Ich habe gerade Ungeheures von unseren Brüdern im Iran erfahren.«
Dastan Augen weiteten sich und er nahm Platz.
Tabrizi fuhr fort: »Ehe ich es dir sage, muss ich dich allerdings dazu verpflichten, niemandem davon zu erzählen außer Seyyed.«
»Gewiss, mein Scheich.«
»Du bist einer der wenigen, die von der Prophezeiung und dem Teppich wissen, und so soll es vorerst bleiben.«
Dastans Augen weiteten sich noch mehr und sein Körper spannte sich wie eine Feder.
»Du erinnerst dich«, sagte Tabrizi, »an den Wachmann auf der Ruine, den Khalil vor geraumer Zeit eingeschleust hat. Nun hat er mitbekommen, dass die Archäologen dort nicht nur eine Nische im Mauerwerk entdeckt haben, sondern auch Spuren einer Truhe, die jemand weggeschafft hat. Einer Kiste, die, darauf deuten Spuren von Mottenpulver hin, einen Teppich beinhaltet haben könnte.«
Er legte eine dramatische Pause ein. Wie erwartet, riss Dastan die Nachricht beinahe vom Stuhl.
»Ein Teppich? So wie es prophezeit wurde? Mein Scheich, das hieße ja …«
»Genau!« Tabrizi hielt es selbst nicht mehr auf dem Sessel. Durchs Zimmer wandernd sagte er: »Khalil hat Erkundigungen eingezogen und ist sogar auf den Schäfer gestoßen, der ihn gefunden hat.«
»Ein Schäfer … Auch das wie in der Prophezeiung!«
Dastan sah zum Porträt Isas an der Wand und Tabrizi folgte seinem Blick. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ja, das hieße die Wiederkehr. Das Jüngste Gericht!«
Obwohl es das Arkanum ihres Glaubens war: Dastan war genauso vom Donner gerührt wie vorhin er selbst.
Tabrizi hielt auf seiner Zimmerwanderung inne und zupfte an seinem Bart. »Dastan, ich war zuerst auch fassungslos, habe niemals damit gerechnet, es zu erleben. Nun denke ich aber, es gab Zeichen. Die Finanzkrise, war sie nicht ein Vorbote, eine Strafe für die Ungläubigen mit ihren unheiligen Zinsgeschäften? Und neulich, da sah ich einen feinen Riss in der Mondscheibe. Damals dachte ich, ich hätte mich getäuscht …«
»Der Gespaltene Mond!«, rief Dastan ehrfürchtig. Sein Blick wanderte von Isas Porträt zum Fernrohr auf der Fensterbank, mit dem Tabrizi seit vielen Jahren den Mond beobachtete. Er war überzeugt, von den zahllosen Vorzeichen der Apokalypse, die der Koran beschrieb, kündigte ausschließlich der zerbrechende Mond das Ende an.
Tabrizi nickte und schwieg, bis Dastan es verdaut hatte. Dann räusperte er sich. »Leider ist es so, dass jener Hirte den Teppich nicht mehr besitzt. Er hat ihn verkauft auf dem Teheraner Basar.«
Dastans entrückter Blick kehrte zu ihm zurück. »Und wisst Ihr, an wen?«
»Ja. Khalil und seine Brüder haben den Basari ausfindig gemacht. Nur leider hat er den Teppich seinerseits schon weiterverkauft.«
»Allah prüft den treuesten Diener am ärgsten!«
»So ist es. Aber Er hilft ihm auch, mein lieber Dastan. Denn wir wissen, an wen er ihn verkauft hat. An einen deutschen Teppichhändler namens Eschenbach. Er ist, hat Khalil herausgefunden, mit dem Teppich weitergereist nach Dubai, fliegt von dort nach Deutschland zurück.«
Dastan fuhr sich über die Bartstoppeln. »Und Ihr wollt ihm, wenn er wieder zu Hause ist, den Teppich abkaufen?«
Tabrizi lachte auf. »Abkaufen?« Sein Blick wanderte zum Holzmodell eines Schreins in der Zimmermitte. Er sollte samt goldener Kuppel das erste islamische Heiligtum in Großbritannien werden und neben Isas hölzerner Bettelschale Ruhollahs Gebeine beherbergen. Später, so hoffte Tabrizi, auch seine eigenen. Allerdings waren ihre Ersparnisse schon für das Grundstück drangegangen.
»Der Deutsche«, sagte Tabrizi, »hat eine Million an den Basari gezahlt und ist kein Tölpel. Er würde Unsummen verlangen für so ein antikes Stück. Selbst wenn er seine wahre Bedeutung nicht kennt.«
Dastan nickte.
»Wir müssen also auf andere Weise an den Teppich gelangen.«
Dastans Lid begann zu zucken, wie immer, wenn er nervös wurde. »Ihr wollt, dass ich ihn stehle?«
Tabrizi beugte sich zu ihm. »Ich weiß, du bist Soldat und kein Dieb. Doch bedenke: Der Teppich gehört uns, der Umma, und nicht einem Kafir. Der Deutsche ist nur ein Hehler und der Eigentümer, der zurückholt, was ihm gehört, der ist kein Dieb.«
»Natürlich«, sagte Dastan, noch heftiger mit dem Lid zuckend. »Aber wenn er … die Wegnahme bemerkt und Nachforschungen anstellt?«
Tabrizi musterte ihn verständnisvoll. Bei Dastans letztem Einsatz im Irak sollte ein Auto mit Terroristen angegriffen werden. Aus Gründen, die nur Allah kannte, hatte Dastan stattdessen einen Kleinbus mit Schulkindern in die Luft gesprengt. Der abgetrennte Kopf eines der Kinder war unweit seiner Füße gelandet. Wenn jetzt das Lid zuckte, war es die Erinnerung an den Kopf im Staub vor ihm.
»Dastan«, sagte Tabrizi. »Auch Khalil musste …unangenehme Dinge tun. Ich kann keinen Kommandanten brauchen, der verlernt hat zu töten, wenn es sein muss.«
Dastans Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Ich verstehe.«
»Wirklich? Denkst du daran, dass alle Leiden – sogar der Tod – bedeutungslos sind angesichts der Ewigkeit, für die wir uns bewähren müssen, und der Belohnungen, die auf uns warten? Dass auch alle Qualen, die wir den Ungläubigen und Feinden Allahs zufügen, belanglos sind angesichts der Torturen, die die Kuffar in der Hölle erwarten?«
Dastan nickte heftig. »Habt keine Sorgen. Ich werde alles tun, was notwendig ist.«
Tabrizi war noch nicht überzeugt. Er griff unter seinen Umhang und in die Jacke darunter. Aus der Innentasche zog er ein verschlossenes Aluminiumkästchen, in dem, wie alle in der Tekke wussten, ein schwarzes Notizbuch steckte. Es war das Buch, in dem er Allah am Jüngsten Tag Hinweise geben würde auf Höllenstrafen, die sich Seine Feinde verdient hatten, aber auch auf Erleichterungen für die treuesten Diener.
»Weißt du, was ich für dich darin notieren werde?«, fragte er. »Jene Kinder, sie sollen dich mit Blumen empfangen im Paradies – wenn du ihn beschaffst.«
»Das … würdet Ihr tun?«
»Weil du es verdienst! Wäre es nicht passiert, wärst du in der Armee geblieben. Du könntest den Teppich nicht zurückholen und Allahs Wille könnte sich nicht erfüllen. Selbst unsere Fehler sind Teil Seiner Pläne, Dastan. Nur Zweifel und Schwäche, die verzeiht Er niemals.« Tabrizi beugte sich noch weiter vor. »Ab jetzt, mein Bruder, sind wir im Heiligen Krieg.«
Die letzten Stunden hatte Rahim mit Tagträumereien vergeudet, unterbrochen von seinem Alten, der ihn piesackte, wann er endlich einen Job bekäme. Woher sollte er das wissen? Inschallah. Niemand wollte ihn, draußen nicht und hier nicht. Studieren? Sein Abiturschnitt war drei Komma vier, trotz Büffelei war er der Schlechteste des Jahrgangs gewesen.
Verloren spielte er mit Zahras Taschenspiegel. Ein billiges, goldfarbenes Plastikding mit aufgedruckten Arabesken auf der Rückseite, wie es sechzehnjährige persische Mädchen eben besaßen. Rahim jedoch sah darin das Geschmeide einer Prinzessin. Er hatte den Spiegel von der Bank geklaubt, die sie fluchtartig verlassen hatte, nachdem er sie an seinem letzten Abend in London im Garten der Tekke überrascht hatte. Natürlich wollte er ihn zurückgeben, war nur nicht dazu gekommen. Der Spiegel beschwor jedes Mal ihren Anblick herauf, das glänzend schwarze, von einem Kopftuch verhüllte Haar, das zarte Gesicht und die Formen, die sich unter der Kleidung abzeichneten und das Paradies auf Erden versprachen.
Nicht für ihn natürlich. Verbittert legte er den Spiegel zurück in die Schublade, stellte eine CD mit sanfter Trommelmusik an. Er begann sein abendliches Dhikr, sein Gebetsritual, und rezitierte die neunundneunzig schönen Namen Allahs. Bei »Oh Al-Mujib, du Erhörer aller Gebete« vibrierte sein Handy. Einerseits durfte er die Gottesandacht nicht unterbrechen. Aber dass ihn jemand anrief, war ungewöhnlich. Dazu noch eine Auslandsnummer. Sein einziger Gedanke war: Zahra. Sie hatte herausgefunden, dass er ihren Spiegel hatte.
»Zahra, ich …«
»Zahra? Hier ist Dastan«, meldete sich eine männliche Stimme auf Englisch. »Wir haben uns in London kennengelernt, erinnerst du dich?«
Rahim wurde nicht nur rot, er war fassungslos. Was in aller Welt wollte der Chef von Tabrizis Leibgarde von ihm? Wie die anderen Wettbewerbsgewinner hatte er mit den Assassinen, wie sie sich nannten, ein paar Ausflüge unternommen und gegrillt. Dastan jedoch war meist abseits geblieben, in Rahims Erinnerung ein stiller, unheimlicher Typ.
Er kramte mühsam sein Englisch hervor. »Ja, klar erinnere ich mich.«
»Hör mal, Bruder, du hast mit unserem verehrten Scheich gesprochen damals und einen guten Eindruck auf ihn gemacht.«
In Rahims Kopf sprang eine Batterie Flutlichter an. All die düsteren Gedanken von vorhin schienen plötzlich zu jemand anderem zu gehören, einem, den er kaum kannte, ja, für den er sich schämte.
»Das ist … eine unglaubliche Ehre.«
»Das ist es, Junge, das ist es. Sag: Bist du wahrhaft ein treuer Diener Allahs?«
»Aber natürlich.«
»Und bist du verschwiegen oder ein Klatschweib?«
»Klar bin ich verschwiegen.«
Rahim war bewusst, dass sein Leben eine rasante Wendung nahm. Und er war davon überzeugt: Wohin auch immer sie ihn führte – zum Schlechteren ginge es beim besten Willen nicht.
»Bist du bereit, uns einen Gefallen zu tun?«
Heiliger Ernst lag in Dastans Stimme.
»Ja, alles.«
»Es geht um etwas … ungeheuer Wichtiges und so Geheimes, dass du es bei deinem Leben und dem Heil deiner Seele niemals verraten darfst. Schwörst du das?«
Rahim zuckte nun doch zusammen. Was wollten sie von ihm? Etwa … Seine Gedanken drehten sich wie ein Kreisel, blieben dann stehen wie das Rad eines Roulettes. Was spielte es für eine Rolle?
»Ja, ich schwöre es.«
»Also hör zu! Es geht um einen Teppich.«