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Es war schon nach Mitternacht, als Hamid durch ein Klopfen an der Tür aus seinen Grübeleien gerissen wurde. Abbas streckte den Kopf ins Zimmer. »Wir sollen beide in den Keller, sagt der Scheich.«

Abbas war ihr höchster Pir, ihr höchster Älterer. Er hatte Ruhollah noch persönlich gekannt und misstraute Vater nicht nur wegen der Todesumstände seines Vorgängers, sondern kritisierte hinterrücks angeblich mangelnde Zucht und Askese. Zwar hatte Abbas selbst keine Ahnung, worum es ging. Doch wenn sein Vater sie beide in den Keller zitierte, konnte das nur bedeuten: Er war aufgeflogen. Natascha hatte die Bilder verschickt und jetzt würde er ihn auspeitschen vor Abbas’ Augen oder vor denen aller. Aber warum? Ihre SMS war keine drei Stunden alt.

Hamids Beine knickten ein beim Hinabsteigen. Vielleicht hätte er sich davonmachen sollen. Aber er war unfähig, sich zu wehren, und ging weiter wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Galgen. Unten im Keller kamen ihnen Dastan und Seyyed entgegen. Hamid beachtete sie kaum. Abbas betrat mit ihm einen Raum, in dem bis dahin Möbel gelagert hatten. Jetzt war er fast leer, wunderte er sich. Hatte sein Vater den Winkel seinetwegen geräumt?

Seine drohende Gestalt wartete an der Wand und Hamid suchte nach einem Gürtel oder einer Peitsche in seinen Händen. Aber sie waren leer. Vor Vater stand eine kleine, schwarze Holztruhe und er sagte mit heiserer Stimme: »Ich will, dass ihr es mit eigenen Augen seht.«

Hamids Erleichterung war grenzenlos. Auf Vaters Geheiß hoben er und Abbas den Deckel der morschen Kiste an und fanden darin einen brüchigen, alten Teppich. Mit größter Vorsicht breiteten sie ihn auf dem Boden aus.

Sein Vater starrte den Teppich an. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, ehe er sagte: »Kniet nieder und betet!«

Hamid klopfte sich erst das feine, weiße Pulver von den Händen, in das das antike Stück in der Kiste gebettet gewesen war. Damit schüttelte er zugleich seine Angst ab. Worum auch immer es ging, es war nicht Natascha. Also sank er nieder und sprach ein stilles Dankgebet für das morsche Gewebe, das ihm im Übrigen nicht das Geringste sagte.

Sein Vater begann zu rezitieren: »Dereinst wird ein Hirte euch den Teppich bringen. Er stammt von Mohammed selbst und wird euch weisen den Weg zum Paradies, den Heiden zum Höllenfeuer und den Ketzern zum Untergang.« Anschließend fügte er hinzu: »Abbas, Hamid, dies ist der Teppich! Er stammt aus Alamut, gefunden von einem Hirten. Ihr wisst, was das bedeutet.«

Deshalb hatte Vater ihn herzitiert. Es war, als würde sein Verstand mit Tempo dreihundert in eine Hundertachtzig-Grad-Kurve geschleudert. DER TEPPICH. An den er längst nicht mehr glaubte. Den er als Märchen, als ketzerische Phantasie Ruhollahs und seines Vaters abgetan hatte, wie die kindische Idee von der Herrschaft der Reinen.

Abbas neben ihm gab einen heulenden Laut von sich. Er rutschte auf seinem langen Sufgewand aus grober Wolle näher heran und krallte die Hände in den mächtigen, verfilzten Bart. Vaters Mund war aufgerissen und seine Augen waren geweitet. Er sah den Teppich wohl selbst zum ersten Mal. Wenn er jetzt von Natascha erführe – es scherte ihn nicht mal mehr, ging Hamid durch den Kopf.

»Es ist ein Afghan«, murmelte Abbas ergriffen. »Die rötliche Farbe, das ist Krappwurzel, und in der Bordüre, das sind Göls, afghanische Stammeswappen.«

»Aber müsste es nicht ein Perser sein?«, entfuhr Hamid.

Die beiden starrten ihn an, als hätte er darauf gepinkelt.

»Eine afghanische Sklavin, von Nomaden nach Mekka gebracht, kann ihn geknüpft haben«, sagte Abbas eisig. »Außerdem vergiss nicht, Afghanistan war damals Teil des Großpersischen Reichs und das bald Teil des Kalifats.«

Hamid errötete. Er betrachtete das löchrige Gewebe und die verblassten Farben. Gegen seinen Willen und trotz der Erleichterung, nochmals davongekommen zu sein, brütete sein Verstand weitere Einwände aus und ließ sich nicht davon abbringen, sie hinauszuposaunen. »Trotzdem frage ich mich: Wie kann ein Teppich überhaupt so lange halten? Ich habe mal gelesen, die, die so alt sind, waren alle im Eis vergraben. Die Mikroben sind das Pro…«

»Es ist sehr wohl möglich«, schnitt ihm Abbas das Wort ab. »Der weiße Stoff, den du dir abgeklopft hast, ist sicher Mottenpulver. Schau dir dazu die Truhe an! Das schwarze Metall innen ist keimtötendes, angelaufenes Silber, außen ist sie mit Pech versiegelt. Außerdem muss es dunkel und trocken in der Burg gewesen sein.«

»Du bist ein Narr, Hamid«, fluchte sein Vater. »Ein unverbesserlicher Zweifler. Ich habe dich kommen lassen, damit du siehst und die Gelegenheit zur Umkehr nutzt.«

Hamid schwieg betreten. Er senkte den Blick und betrachtete die Muster. Sie waren grob und eher langweilig. Einzig interessant war ein rautenförmiges Objekt in der Mitte, mit kleinen Tupfern wie Bullaugen und einer Art Antenne. Komischerweise erinnerte es ihn an eine fliegende Untertasse. Vielleicht wegen der Science-Fiction-Romane, die er las. Sonst sah er nur endlose geometrische Bänder.

Da traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. »Meinetwegen bin ich ein Narr«, sagte er trotzig. »Aber wo bitte ist denn jetzt die Offenbarung? Oder seht ihr irgendwo eine Inschrift?«

Später, nachdem er noch lange mit Abbas auf der Suche nach einer Botschaft um den Afghan herumgekrochen war, hockte Tabrizi allein vor ihm, überwältigt von schwarzen Gedanken. Er hätte ihm den Weg zum Paradies weisen sollen. Den Triumph über seinen Vater bringen, der ihn als Kind geschlagen und verhöhnt hatte. Seine Familie hätte sich vor ihm im Staub gewälzt, einschließlich Faezeh, seiner ersten Frau, die sich von ihm losgesagt hatte zusammen mit seinem eigentlichen ältesten Sohn. Angefleht hätten sie ihn, ein gutes Wort für sie einzulegen auf dem Weg zu den kupfernen Toren. Und er hätte ihnen verziehen. Wie allen.

Jetzt würden sie über ihn lachen. Sogar Hamid.

Er war am Ende. Die Söhne waren es, wenn vor ihm nur ein halbverfaultes Stück Stoff lag.

Natürlich mochte es einfach der falsche Teppich sein. Aber konnte es einen zweiten geben auf Alamut?

Früher hatten ihm immer Visionen geholfen. Als Kind hatten sie ihn durch die Vermittlung eines frommen Lehrers von der Bettelarmut seiner Familie, den Hieben des Vaters zu Ruhollahs Söhnen geführt. Ihm später befohlen, den Scheich zu töten und seinen Platz einzunehmen. Und jetzt: Hatte Er ihm nichts mehr zu sagen?

Er stand auf und dachte an den Bushmills im Arbeitszimmer. Im Haus über ihm war es still. Längst lagen alle im Bett. Keine Schritte, kein Geräusch war zu hören, nur sein eigener Atem, während er auf den Teppich starrte, als könnte er ihm doch einen Hinweis entlocken.

Nach ewiger Zeit lenkte ihn ein leises Klopfen ab.

Tabrizi erschrak und sah zur Kellertür. Wer wollte ihn stören? Dann begriff er, das Pochen kam nicht von dort. Es klang eher wie gegen Holz und nicht den Stahl der Tür. Und es wurde vernehmlicher.

Ratlos sah er sich um. Woher nur …? Da fiel sein Blick auf die Holzkiste und seine Augen weiteten sich. Ja, von dort kam es. Aber wie konnte das sein? Und es wurde immer lauter, zu einem herrischen Schlagen. Als wäre eine Katze dort eingesperrt, eine Katze mit der eisernen Faust eines Riesen. War die Kiste denn nicht leer? Jetzt ließ das Pochen den Boden erzittern, die Truhe ratterte und hüpfte wie ein Geist auf und nieder. Ihm schien der Kopf zu zerspringen, und er hielt sich die Ohren zu.

Jetzt lenkte ihn ein Feuerschein ab. Er sah weg von der Kiste, hin zum Teppich. Dort, wo zuvor nur verblichene, bedeutungslose Muster gewesen waren, loderte ein rot glühendes Feuermeer. Es flammte auf im Takt des Pochens und Tabrizi dachte, dass es ihn an etwas erinnerte. Es musste ein Hinweis sein, etwas sehr Wichtiges …

Dann, plötzlich, begriff er es.

Das Pochen. Die Pochende. Die hundertunderste Sure.

Al-Qari’a, das Verhängnis. Die Muster begannen zu fließen, verwandelten sich in einen glühenden, brausenden Mahlstrom, in dem ewig die verkohlten, niemals sterbenden Leiber der schreienden Verdammten kreisten. Er schrie gegen die Wände und stampfte im Takt auf den Boden: »An dem Tag, da die Menschen gleich verstreuten Motten sind! Und die Berge gleich bunter, zerflockter Wolle! Dann wird der, dessen Waage schwer ist, im angenehmen Leben sein. Doch der, dessen Waage leicht ist – seine Mutter wird sein der Höllenschlund.« Tabrizi breitete die Arme aus und sah zur Decke. »Und was macht dich wissen, was er ist?«, flüsterte er. »Ein glühend Feuer!«

Später, als es wieder still war, der Afghan nur ein Teppich und die Truhe eine Truhe, wischte Tabrizi sich den Schweiß aus dem Gesicht und dachte nach. Wie konnte er eine Vision vom Jüngsten Tag empfangen – wenn das heilige Stück keine Inschrift enthielt?

Am Ende sah er nur eine Möglichkeit: Man hatte ihn betrogen. Wenn Dastan nicht den falschen Teppich mitgenommen hatte, wofür nichts sprach, musste ihn jemand vorher vertauscht haben. Und dafür kamen drei Personen in Frage: der Hirte, der Basari oder jener Eschenbach. Aber der Hirte und der Basari hätten niemals gelogen, nicht unter Khalils Händen. Er erinnerte sich an seine eigene Todesangst und die Schmerzen im Gefängnis.

Damit blieb nur der Deutsche.

Tödliche Sure

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