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14. Dezember 1990
ОглавлениеTraf mich mit Alexander Filippow, er aus Bielefeld, ich aus Solingen kommend, in Bochum im Café Ferdinand, hinterm Bahnhof. Er ist Friedrich-Ebert-Stipendiat, arbeitet sonst in Moskau unter Juri Dawydow, dessen Entfremdungsbuch ich kenne, und hat sich auf die westdeutschen Konservativen spezialisiert. 1980 habe er als junger Assistent (wie wir sagen würden) einen Bericht über unser »Projekt Ideologie-Theorie« geschrieben. Der Bericht sei indes nicht veröffentlicht worden, weil zu marxistisch. Die zuständige Frau Galzowa, die heute entscheidenden Einfluss bei Nowy Mir ausübe, habe damals ausgerufen: »Armes Russland! Nach 70 Jahren gibt es noch immer Leute, die an Marx glauben!« An jenem Institut für Wissenschaftlichen Kommunismus habe man sich für alles außer für Kommunismus interessiert, sagt F., er selber habe hauptsächlich Weber, Popper und anderes dergleichen übersetzt. 1984 Referat über Orwells Neusprech. Als Habermas im April 1989 in Moskau am Institut für Philosophie auftrat, seien viele, oft gerade die Jüngeren, mit ihm unzufrieden gewesen, weil er zu sehr an Marx angeknüpft habe.
Im Gegensatz zu berühmten »Radikalreformern« stellt F. sich als Opfer des alten Regimes vor: Als Jude, Parteiloser und Unverheirateter habe er drei negative Karrieremerkmale gehabt. Jakowlew sei exemplarisch für Karriere im Zentrum des alten Regimes, sich allenfalls durch Englischkenntnisse von anderen unterscheidend; 1972 habe er die Kollektivierung der Landwirtschaft gefeiert. Ligatschow gehöre dagegen zu den Organisatoren vor Ort. Die Karrieren bedingen anscheinend rivalisierende Gruppen innerhalb der Elite. I. Frolow lese selber und habe »Sinn für Qualität«. Er sei der wichtigste Gate-Keeper zu Gorbatschow gewesen, der Denkimpulse weitergeben oder blockieren konnte.
Die neuen ›demokratischen‹ Politiker schildert Filippow als gute Redner ohne praktische Fähigkeiten. Die städtische Verwaltung Moskaus sei unter Popow und seinem Stellvertreter Stankijewitsch schlimmer daran als zuvor. Nostalgisch spricht er von den alten »kommunistischen« Verwaltern. In Leningrad sei es nicht anders. Andernorts, wo die alten Chefs in den neuen Strukturen sich haben behaupten können, herrsche zwar weniger Demokratie, sei aber die Versorgung mit Lebensmitteln »normal«, gleiche dem gewohnten Sozialismus mit seinen Mängeln, aber erträglich. In Moskau seien inzwischen nicht mehr nur die Regale leer, sondern es gebe keine Regale mehr. »Gute alte Zeit« unter Breschnew! Eine Wende zur ideologischen Verschärfung habe der Einmarsch in die ČSFR mit sich gebracht. – Die SU, merke ich, ist eben auch bei sich selbst einmarschiert; der Ausnahmezustand der Unterdrückung der andern schlägt unverzüglich auf die Unterdrücker zurück. Breschnew hat die hohen Ölpreise für sozialpolitische Geschenke genutzt, nicht für die Erneuerung der Produktionsstrukturen. Als die Ölpreise fielen, musste ein neuer Chef mit neuer Politik her.
Gorbatschow habe sich ohne jedes Szenario in die Perestrojka gestürzt. Jetzt keine Zeit mehr für neue Ideen, daher der Präsidialrat abgeschafft. Angesichts des Schicksals der ungarischen Reformpolitiker, die alle von der Entwicklung verschlungen worden sind, werde Gorbatschow die Reformen keinesfalls weiterbringen, sondern auf der jetzigen Stufe stehenbleiben und sie zu stabilisieren versuchen. – Hier spricht Filippow BRDSprache, schillert vom Neostalinismus zum Neoliberalismus hinüber. Als Meinung anderer referiert er: Es gehe Gorbatschow um Zeitgewinn, damit die alte Elite die neuen Positionen zu besetzen vermöge, um dann eine Diktatur nach chilenischem Muster einzurichten, auf dem Bündnis von Konzernen und Militär beruhend, dem Land Liberalismus aufzwingend.
F. sagt, er habe meine Gorbatschow-Studie zu einem Drittel gelesen. Ohne sie direkt zu kritisieren, widerspricht er in der Sache, diskreditiert nach Kräften meine Zeugen und unterläuft meine theoretischen Konzepte, zumal das der Zivilgesellschaft. Die SU sei kein Staat im eigentlichen Sinn, sondern ein Imperium, an dessen Bestand die Möglichkeit eines sowjetischen Universalismus (er nimmt meinen Term) gebunden sei.
Wenn das Imperium zerfällt, tritt nicht Zivilgesellschaft hervor, sondern entstehen Staaten, die mit Menschen- und Bürgerrechten wenig anfangen können. Bei F. scheint durch, dass er das Imperium mit Gewalt zusammengehalten haben will. Gleiches schreibt er Gorbatschow zu, der wisse, dass er anders gestürzt würde. Wenn die Union auf dem Spiele stünde, würde Gorbatschow nicht davor zurückscheuen, Blut zu vergießen. In den sezessionistischen Republiken seien jetzt selbst große Teile der russischen Minderheit für die Abspaltung. Der antirussische Nationalismus der dortigen Mehrheit werde sie allerdings binnen kurzem eines bessern belehren. F. anscheinend für neue Diktatur, sieht jedenfalls keinen andern Weg für Russland als den des Zwangs, repressive Daseinssicherung als mögliches Legitimationsmuster. Deutschland und Japan gelten ihm als Beispiele dafür, dass »Liberalismus aufgezwungen werden kann«.
Niemand kommt bei Filippow schlechter weg als die »liberalen Elitären«. Tatjana Saslawskaja etwa, die für Preiserhöhung bzw. für Freigabe der Preise spreche und dies durch Sozialpolitik ausgleichen zu können glaube, obwohl es doch hierfür vorerst weder Ressourcen noch Institutionen gebe, habe sich von der alten Administration benutzen lassen und sei jetzt bei breiten Schichten zu recht in Misskredit.
Nebenbei erfahre ich von F., einer seiner Freunde habe in der Prawda gelesen, Mamardaschwili sei gestorben. Ich glaube nicht daran.