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27. November 1990

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Seit Sonntagnacht streiken die Reichsbahner; Frigga hatte größte Mühe, von Berlin wegzukommen. In der Berichterstattung ein auffallender Gegensatz zwischen den westlichen und den östlichen Medien. Im Westen wird die Erklärung der Regierung übernommen, aus der man den Eindruck gewinnen muss, bei der Reichsbahn werde im Vergleich zur Bundesbahn ein halb so großes Schienennetz von doppelt so viel Menschen betreut. In Wirklichkeit sind die Belegschaften nicht nur etwa gleich stark (je rund eine Viertelmillion), sondern es werden bei der Reichsbahn die gesamten Produktions- und Reparaturbetriebe mitgeführt, die man bei der Bundesbahn längst privatisiert hat und hier nun eben gleichfalls privatisieren will. Auch wird im Fernsehen verbreitet, die Reichsbahner verdienten eh schon mehr als die andern. Es wird kaum gesagt, dass dieses »Mehr« von Löhnen ausgesagt wird, die maximal 1500 DM betragen. Davon kann eine Familie in diesen Zeiten der Privatisierungen und Preiserhöhungen nicht annähernd normal leben, das ist unter der Armutsgrenze. Ich verstehe, dass es riesige Menschengruppen in der vormaligen DDR gibt, denen es noch schlechter geht. Aber hier hat sich zum allerersten Mal eine große Gruppe gewehrt, hat das angstschlotternde Sich-Anpassen unterbrochen. Man hielt es nicht mehr für möglich. In fast allen anderen Bereichen herrscht seit Monaten das Rette-sich-wer-kann. Nein, der Streik ist ein Glück, ein Zukunftsvitamin, das Beste, was seit den Demonstrationen vom letzten Herbst und den Runden Tischen passiert ist. Er kommt wenige Tage vor der Wahl. Und die Reichsbahn ist die einzige Branche in der vormaligen DDR, die gebraucht wird, deren Betreiber also überhaupt die Macht haben, wirklich zu streiken. Berlin ist jetzt auf dem Schienenweg abgeschnitten, wie seit der Blockade nicht mehr. Noch verkehrt die S-Bahn.

Achtzigtausend sollten fürs Erste entlassen werden, und statt sich zu desolidarisieren, hoffend, es werde andere treffen, haben die Eisenbahner mit 97 Prozent für den Streik gestimmt, also für die kollektive Verteidigung: Die erste Forderung betrifft den Kündigungsschutz, der dem bei der Bundesbahn Üblichen angeglichen werden soll. Das verunmöglicht keineswegs Entlassungen, schützt nur die dienstälteren Kollegen, die auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chance mehr haben. Erst die zweite Forderung gilt dem Lohn und ist sehr maßvoll: hier will man die Hälfte der Bundesbahnlöhne erreichen. Solche Informationen muss man sich mühsam herausfiltern.

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Laut Gorbatschows Vorschlag eines neuen Unionsvertrags wird UdSSR künftig »Union der souveränen Sowjetrepubliken« bedeuten. Das Sozialistische verschwindet aus dem Namen. Der Kongress der Volksdeputierten wird in dem Entwurf nicht erwähnt; daraus schließt Werner Adam ein bisschen sehr schnell, dessen derzeitige Sitzung könne die letzte gewesen sein. Außer Militär- und Außenpolitik soll die Unionsregierung »gemeinsam mit den Republiken die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und die Schaffung von Bedingungen zur Entwicklung eines unionsweiten Marktes auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung« betreiben. Ein ungeheuer kompliziertes Mächtegerangel zwischen Republiken und Union zeichnet sich ab. Die Union verfügt noch nicht einmal über einen eigenen Unionsdistrikt wie die USA. Ein Verfassungsgericht soll die Konflikte schlichten. In den USA ist die heutige Struktur aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen. Ob ein neuer Bundesstaat ohne eine derartige Kriegsgeburt zur Welt kommen kann? Aber hier gibt es – vielleicht außer der Armee, deren Belastbarkeit aber höchst ungewiss ist – keinen Akteur, der den Nordstaaten entspräche.

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