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15. Dezember 1990
ОглавлениеImmer wieder sehe ich Merab, wie er genießerisch am Strand sitzt, seinen Leib der Sonne entgegenhält, ab und an provozierend Metaphysisches von sich gebend. Er muss leben! Er lebt in meiner Erinnerung, und wie!
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Die gestrige Lesung im Alten Bahnhof Bochums ging gut. In der Diskussion sprach einer davon, dass in den vormals »sozialistischen« Ländern heute zum ersten Mal in der Geschichte der Kapitalismus zu einer Utopie geworden ist, also an die Stelle gerückt ist, an der bisher unsere Visionen von Sozialismus standen. Die Entwertung der »Trabis« als Bewusstseinstatsache. Wie schon in Solingen werde ich nach dem »neuen Grund« gefragt, von dem im Titel die Rede ist. Viele verstehen nicht, dass das Ausloten der Katastrophe, die Verständigung über den Konstruktionsfehler des befehlsadministrativen Systems und die Arbeit an einem neuen Common Sense der Linken derzeit das Wichtigste.
Einer scheint es unanständig zu finden, ein »Tagebuch« zu veröffentlichen. So was erscheint nach dem Tod. In Solingen ein blutjunger Praktikant der lokalen Zeitung; er schien es egoistisch zu finden, andern die Lektüre eigner Eindrücke anzudienen. Im Publikum versprengte Veteranen von ’68, alten zerschlissenen Sofas gleichend, die von mir zuletzt die Kritik der Warenästhetik (1971) gelesen haben.
Die Jüngeren beginnen sich zu spalten (vorerst ohne es zu merken) in solche, die vom Neoliberalismus überzeugt werden und solche, bei denen der Diskurs der neuen radikalen Linken greift. Zwischen diesen Fronten habe ich es schwer.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, Wilfried Guth: »Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs […] ist auch die vom Westen losgelöste Existenz Osteuropas beendet.« Feiert die neuen Nationalismen im Osten als »eine entscheidende Triebkraft für den fundamentalen Umschwung«. Treibt einen Keil zwischen die europäischen und die außer-europäischen Republiken der SU, indem er den ersteren die Assoziierung an die EG anbietet. Weiß aber, was er an G hat, und bietet folglich den Sezessionisten nur Vages. »Es wäre daher allzu spekulativ, heute darüber nachzudenken, ob zum Beispiel die baltischen Republiken in Zukunft ein so hohes Maß an politischer Souveränität bekommen werden, dass ihr Einschluss in die EG ernsthaft erwogen werden könnte.« Rückblick: »Während der letzten zwölf Monate waren wir vorrangig Beobachter, Zeugen einer kaum fassbaren Bewegung politischer Befreiung«. Diese Zeit sei vorbei, und Banker sowie Unternehmer sollen nun anpacken. Natürlich geht es ihnen um eitel Gemeinwohl.