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22. Mai 1991
ОглавлениеKathrin erschien tatsächlich nur kurzzeitig, ihr Freund überhaupt nicht, er wollte Fallschirmspringern zusehen. Aber die VU »kam an« in Ostberlin. Von mir habe ich freilich (wie zumeist) das Gefühl, dem historischen Moment nicht genügt zu haben, ein alterndes Füllen, stets bereit, loszusprengen, natürlich nicht in irgendeine Richtung, sondern schon in eine der »richtigen«, aber einseitig: wenn ich die Suppe fad finde, würze ich sie, das sieht dann für manche so aus, als böte ich Würze statt Suppe.
Reinhart Mocek fragte nach dem »Gedankensystem« von Marx (fragte also unverändert marxistisch-leninistisch. Ohne Rede von der historischen Mission der Arbeiterklasse sei Marxismus oder auch nur marxistische Theorie sinnlos. Er hat Brechts vernichtende Kritik an dieser Figur nie zur Kenntnis genommen. Seine weiteren Kriterien sind: Geschichtsgesetze, Materialismus, Dialektik (letztere sieht er in Selbstorganisations-Forschung weiterverfolgt). Die Diskussionsanordnung erlaubt keine Bearbeitung der von Mocek genannten Fragen. Mir fehlt es an gesammeltem Überblick und kalkulierter Argumentation. Ich lege los bei Agnolis (Mocek nennt ihn Avinieri) Kriterien der Absage an Rechtsstaat und Markt und Stamms kulturrevolutionärem (intellektuellenfeindlichem) Gestus.
Mocek sieht blass und fast verhärmt aus, anders als noch in Frankfurt. Wir Westmarxisten seien »auf dem besseren Pferd«. Er unterscheidet mit gewissem Recht den »Popular-ML« vom wissenschaftlichen. In den akademischen Institutionen habe es kein Nachplappern gegeben. Habermas hat sich jetzt erinnert, bei seinem Besuch in Halle (auf Einladung Moceks) sei Erich Hahn als Aufpasser dabeigesessen; in Wirklichkeit habe Habermas darum gebeten, weil es um eine gemeinsame Veranstaltung beim Weltphilosophenkongress ging.
Jan Vogeler, auf den ich mich gefreut hatte, entpuppte sich als wahre Kongressplage. Zog von Veranstaltung zu Veranstaltung mit immer derselben Litanei. Die ersten beiden Male hörte man sie noch wohlwollend an, bis man begriff, dass seine rituell wiederholte Versicherung, er sei ein sowjetischer Kommunist, gekommen um zu lernen, die Tatsache maskierte, dass er überhaupt nicht zuhörte und schon gar nicht lernte. Am schlimmsten sein Auftritt beim Perestrojka-Workshop des letzten Tages, wo er nicht nur seinen unthematischen Sermon endlos wiederholte, sondern auch noch alle übrigen gröblich missverstand. Als ich Michael Stürmer zitiert hatte, hielt er mich für dessen Anwalt. Eine dumme Propagiererei, totalitär, aber nun als angestrengte Zahnlosigkeit. Ein Jesuit einer Revolution, die es nicht mehr gibt. Seine Wirklichkeitsbehauptungen: Dreiviertel der sowjetischen Bevölkerung stehen unerschütterlich hinter Gorbatschow; in Moskau sind die Geschäfte leer, die Kühlschränke aber voll – und zwar für sechs Monate im Voraus. G habe niemals von sozialistischer Marktwirtschaft gesprochen, immer nur von Marktwirtschaft sans phrase. Ich schließe daraus auf eine neuerliche Wende, die in der alten Struktur erfolgt und daher ihr Immer-Schon hinter sich wirft und so als Erbin der ideologischen Ewigkeit auftritt. – Eigentlich war er für gestern Abend auf Besuch bei mir angesagt, blieb aber zu meiner Erleichterung ohne Entschuldigung aus.
Hans Mottek scheint nun der ›chinesischen Variante‹ den Vorzug zu geben.