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2. Mai 1991

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Vor der Vereinigung hat eine öffentliche Diskussion Biedenkopfs mit DDR-Intellektuellen stattgefunden, eingeleitet von Christa Wolf. »Sinn und Form« hat eine schriftliche Fassung abgedruckt, die sich rückblickend fast wie eine Anhörung liest, durch die Konsens für eine politische Kandidatur beschafft wird. Ich lese sie zur Vorbereitung eines Referats bei der PDS.

Biedenkopf erklärt, »eine elementare Bedingung […] der Existenz menschlicher Gesellschaft, nämlich ihre Zukunftsfähigkeit, [ist] selbst zur Utopie geworden«, nachdem er im Satz zuvor die »Notwendigkeit utopischer Zielvorgabe« betont hat. Geben wir also, mag er sich sagen, den Leuten als »utopisches Ziel« ihr Überleben vor. Da ist die Utopie in sich selbst zurückgefesselt, vom Guten Leben aufs Leben schlechthin. Der Konsumismus wie eine Katastrophe, die man den Vielen doppelt vorhält: ihr Verlangen nach Gütern wird ihnen als Treibsatz der Katastrophe erklärt, und ihr Verlangen nach Mitbestimmung als das, was die Rettung blockiert. »Eine Hauptursache fand ich in der Schwierigkeit, unter demokratischen Bedingungen in bestehende Besitzstände einzugreifen.«

Solche Diskurse sprechen zumal durch ihr Schweigen. Dieser verlangt stillschweigend undemokratische Bedingungen, um auf eine nachhaltigere Wirtschaftsweise umsteigen zu können. Dabei war es doch gerade eine Blockierung realer Demokratie, die in der Geschichte der BRD wie in anderen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften überschüssige Energien in den quantitativen Verteilungskampf umlenkte.

Die enorme Dynamik entsteht aus der Überlagerung zweier Dynamiken: der des kapitalistischen, über den Weltmarkt vermittelten Mechanismus und der politischen der Konsensbeschaffung durch Klassenkompromisse, wobei bis 1989 der Kompromissdruck auf die Kapitalseite durch die Systemkonkurrenz verstärkt wurde.

Das schwarze Loch in Biedenkopfs Diskurs ist der Kapitalismus, der gegenwärtig, auf hochtechnologischem Produktivkräfteniveau, die Organisationsform des transnationalen Kapitalismus angenommen hat. »Weltmarkt« hat unter diesen Bedingungen eine neue Stellung bekommen. Er ist nicht mehr nur gleichsam der Zwischenraum nationaler Volkswirtschaften, sondern diese sind zu bedrängten Nischen in ihm herabgesunken. In diesem Prozess hat u.a. auch die DDR ihre ökonomische Basis in Gestalt ihrer Akkumulationsfähigkeit verloren, lange vor dem Verlust ihrer staatlichen Existenz.

Biedenkopf kennt nur mehr soziale Marktwirtschaft, deren staatlich vermittelten Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital er im Sinne der Sozialbindung des Eigentums als »normative Durchdringung des Ganzen« fasst. »Das unterscheidet die Marktwirtschaft vom Kapitalismus«. Sie beruhe darauf, »dass eine Koordination der gesellschaftlichen Subjekte untereinander im Rahmen bestimmter Spielregeln wesentlich leistungsfähiger ist als die Planung weniger für viele«.

Wo Biedenkopf diese Leistungsfähigkeit konkretisiert, spricht er auf einmal doch von Kapitalismus, und sagt, in diesem würden »wie im Sozialismus« die Bedürfnisse als »grenzenlos« definiert, und im Ziel gebe es »zwischen den beiden Systemen keinen Unterschied«: »Die Steigerung selbst ist das Ziel.« In der Steigerung aber, der Akkumulation, erwies der Kapitalismus sich als leistungsfähiger.

Das scheint im Resultat zu stimmen, und doch kann man die Erklärung so nicht stehen lassen, denn die »Akkumulation um der Akkumulation willen« (Marx) ist die systemische Bewegungsform des Kapitalismus; in jeder Spielart von Sozialismus würde sie als Widersinn wirken. Von Kapitalismus ist also nur dort die Rede, wo seine Überlegenheit behauptet wird.

Infolge dieser Diskursstrategie werden die unleugbaren Effekte der Grundmechanismen des Kapitalismus nie anders als geistig hergeleitet. Und Biedenkopf sieht diese Effekte! Das verselbständigte exponentielle Wachstum des westlichen Akkumulationstyps zerstört jedes Gleichgewicht, sagt er. Er spricht sogar die – für west-ideologische Ohren – Ungeheuerlichkeit aus, dass in der gegebenen Weltwirtschaftsordnung »die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden«, dass das hegemoniale Muster dieser Ordnung »nicht verallgemeinerungsfähig« ist und folglich die Menschenrechte im Verhältnis der Akkumulationszentren zu ihren Armutsperipherien ad absurdum führt (1046f).

So ist es nicht weniger als ein Untergangszenario, was er entwirft. Und wieder fällt seine Erklärung, mit Brecht zu reden, »nie unter ein geistiges Niveau hinunter«, weil er die herrschenden Interessen ungeschoren lässt. Die Katastrophe der Menschheit erfolge unterm »Einfluss von Aufklärung und Industrialisierung« (1038). Mit andern Worten: »Eine wesentliche Ursache für diesen scheinbaren Zwang zum exponentiellen Wachstum sehe ich im Zusammenwirken von technisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung, Säkularisation und modernem wissenschaftlichem Denken.« (1041) Keine Rede von der Jagd nach Profit und Extraprofit; auch nicht davon, dass den Profitjägern ihrerseits Krisengefahren und Untergangsdrohung im Nacken sitzen. Die kapitalistische Akkumulation ist grenzenlos; wo ihre Resultate, vor allem in Gestalt der Überproduktion von Kapital, ihr selbst zur Grenze werden, stürzt sie die Wirtschaft in die Krise. Militärkeynesianismus (mit und ohne Krieg) und andere Formen der Kapitalzerstörung bilden Standardauswege. Technologie und Wissenschaft sind Material solcher Prozesse, nicht das Maßgebende.

Biedenkopf scheint zu vergessen, dass die faktisch zur Geltung kommenden »Bedürfnisse« nicht Ausgangspunkt sind, sondern Resultat eines Prozesses von Versagungen und Kompensationen. Sieht er denn nicht die systembedingte Abdrängung des menschlichen Wesens ins Konsumtive, weg aus Kommunikation und sozialer Gestaltung, bei gleichzeitiger »Monetarisierung« der Bedürfnisbefriedigung und kulturbildender Macht der Warenästhetik? Was die vermeintliche Unheilsrolle der Erkenntnis betrifft, stößt Biedenkopf immerhin auf die »Frage der gesellschaftlichen Verwertung des Wissens«. Schreckt aber sofort zurück vor dem Unaussprechlichen, der kapitalistischen Produktionsweise, deren Mechanismen, Instanzenspiel und Kräfteverhältnisse den Ausschlag geben. Bemüht, sich wechselseitig den Schwarzen Peter der Arbeitslosigkeit und der Strukturkrise zuzuschieben, überstürzen die nationalen Regierungen unter dem Deckwort der Modernisierung die kapitalistische Binnen-Ökonomisierung, die eine ins Gigantische wachsende Außen-Verschwendung mit sich führt. Auf den Ruf, »die Japaner kommen«, reagieren sie mit dem Niederreißen kultureller Schranken. Biedenkopf weiß das und muss sich das Wissen zugleich verbieten.

Der vom wirklichen Kapital schweigt, beschwört metaphorisch das »ökologische ›Kapital‹, das die Erde angesammelt hat, vor allem das Energiekapital, und unsere Unfähigkeit, dem Verzehr dieses Kapitals zu widerstehen« (1044).

Wie die Marktwirtschaft funktioniert, müsse man ebenso wenig begreifen, wie die Funktionsweise eines Rechners oder Fernsehers. Es genüge zu wissen, dass sie funktionieren.

Vollends hübsch: »Wozu braucht man Eigentum? Das ist eine der kompliziertesten Fragen, die es gibt. […] Man weiß nicht, wie es funktioniert, aber man weiß, was man damit machen muss.« (1055).

Missionar, der kontrafaktisch von einem Wunder redet, das nicht eintritt. Dies ist die wirkliche Utopie, die er den DDR-Bewohnern gibt. Unerklärlichkeit der Marktwirtschaft, des Eigentums, Bewusstlosigkeit der darin Befangenen (Marx: »Sie tun es, aber sie wissen es nicht.«), Glaube an ihr Funktionieren.

Es bedarf einer Sprache, um das Schweigen zu brechen, auf dem dieser Diskurs beruht. Diese Sprache, die sich den Sachen selbst anmisst und in der sich die bis gestern Verstaatlichungsgeschädigten und nun Privatisierungsgeschädigten über eine Analyse der Verhältnisse und solidarische Alternativen verständigen können, wird künftigem kritischen Denken seinen Atem geben. Nostalgie wäre tödlich, Eschatologie verlöre den Boden unter den Füßen. Kritik und Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit, in der wir heute leben (dämmernd oder dahintaumelnd oder unseren Chancen der Selbstverwirklichung nachstrebend), die theoretischen Denkmittel neu aneignend und durch den Filter einer radikalen Kritik am befehlsadministrativen Regime treibend, legen den Boden frei für Solidarität und alternative Handlungsfähigkeit. Im Praktisch-Politischen schließt eine solche Kritik Berührungspunkte mit einer aufgeklärt konservativen Politik wie der eines Kurt Biedenkopfs nicht aus. Es gibt heute keine Alternative zu sozial-ökologischem Reformismus. Wie dieser aussehen kann, darum wird zu ringen sein. Verträgt sich Reformismus mit marxistischem Denken? Dies wird auszuprobieren sein. So viel scheint klar: Das Denken wird nichts wert sein, wo es keine Politik erhellt; und der Reformismus wird versacken im Filz, wo er den klaren Blick einbüßt, den nur eine im Ernst kritische Theorie dieser Gesellschaft scharfzuhalten erlaubt.

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