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30. März 1991

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Im Radio wird Schewardnadses warnende Empfehlung berichtet, »die beiden sowjetischen Führer« müssten sich arrangieren, weil es sonst keinen Weg gebe. Von wegen Zivilgesellschaft! Da sind zwei Führer wie Naturtatsachen, um sie herum muss das Land sich bauen. Zufällig übersetze ich gerade § 75 aus dem zweiten der Gefängnishefte. Einen Artikel Robert Michels’ lesend, der sich auf Max Weber stützt, beschäftigt sich Gramsci dort mit charismatischen Führern und jenem Typ von Parteiung, der um sie herum aufgebaut wird. Nach Gramscis Einsicht »fällt das sogenannte ›Charisma‹ im Sinne von Michels in der modernen Welt immer mit einer primitiven Phase der Massenparteien zusammen, mit der Phase, in der die Doktrin sich den Massen als etwas Nebulöses und Inkohärentes darstellt«. Gramsci schreibt das Nebulöse mit Blick auf die faschistische Partei der Tatsache zu, dass hier eine absterbende Klasse sich mit vergangenem Ruhm bewusstlos gegen die Zukunft abschirmen will. Gorbatschow führt die rationale Programmpartei, Jelzin verschafft jenem glühenden Nebel Ausdruck, der den Bürgerkrieg birgt. Launisch, wechselnd, intensiv und unklar folgt er dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Unzufriedenheit, um deren desartikulierenden Strahl just immer dorthin zu bündeln, wo Gorbatschow an der Rahmenkonstruktion der Zivilgesellschaft und eines ihr dienenden Staates arbeitet.

In der Wochenendbeilage der FAZ ein hintergründiger Erlebnisbericht von Sonja Margolina über eine riesige Demonstration gegen Gorbatschow und für Jelzin. Sonderbare Perspektive, die den Phänomenen mit einem Ja begegnet, in dem sie sich fangen und verlieren wie in einer Falle. Und sonderbare Kategorien. So die des Ästhetischen: »Gorbatschow […] hat die Ästhetik des letzten Schritts der Rettung des Imperiums und dem Machterhalt geopfert, nun verliert er wohl beides.« Die Demonstration schildert die Margolina als einen Karneval, den vor allem die 50 bis 55-Jährigen betreiben und dem vor dem orgiastischen Höhepunkt die Luft ausgeht. Sie schildert sie als zum Absterben verurteilte Klasse, die bewusstlos am eigenen Untergang arbeitet: »Die Menschen sind überwiegend gut gekleidet: in Pelz, Lamm-Mänteln und schicken Mützen. Es sind keineswegs arme Leute, die ungeachtet der Wirtschaftskrise über ihre Verhältnisse leben. Sie sagen ›nein‹, aber ahnen nicht, was auf sie zukommt. Sie haben das Wort ›Abwicklung‹ noch nicht gehört und können sich kaum vorstellen, dass ihre tollen Pelze vielleicht die letzte Pracht in ihrem Leben bleiben werden. In Moskau, der Residenzstadt, ist die Hälfte der Berufstätigen einfach überflüssig – ein offenes Geheimnis. Doch man kann es sich kaum vorstellen. Würden sie hierherkommen, wenn sie durchschauen würden, welches Schicksal ihnen Jelzins Programm der Privatisierung bereiten wird? ›Freiheit‹ – rufen sie. Freiheit von der Arbeit, vom gewohnten sozialen Status, Freiheit für die anderen – die Jungen, Arroganten, Schlauen, die an ihre Stelle treten werden.«

Die Jungen schildert sie als konformistisch, darauf bedacht, für sich etwas aus der Gesellschaft herauszuschlagen. »Von kleinen Randgruppen abgesehen, ist die heutige Jugend politisch indifferent und infantil.«

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