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31. März 1991
ОглавлениеAggressive Naivität. – Schirrmachers Leichtigkeit kommt mir vor wie die Folge einer Gewissenlosigkeit, seine schnelle Intelligenz wie die Folge einer Abwendung. Sein Artikel über Andrej Sacharows Memoiren (in der Literaturbeilage der FAZ vom 25.3.) geradezu »amerikanisch« in seiner aggressiven Naivität. Selbstverständlicher Standpunkt der Sieger als der Guten. Die Macht im eigenen Rücken unsichtbar haltend, zeigt er die böse Macht stets beim Andern (hier Sowjetrusslands). Schönreden der »Dissidenz« von einem, dem sie nie in den Sinn kommt. Die Macht, der er dient, ist nicht besser, nur besser funktionierend. Mir scheint fast, er glaubt an das Reich des Bösen. Sollte er das tun, wäre er böse.
In derselben Literaturbeilage feiert Rüdiger Bubner den »intellektuellen Patriotismus« Manfred Riedels und macht den »Verfassungspatriotismus« madig, weil dieser die Nation verfehle. Daneben beweihräuchert Mattenklott Enzensbergers manieristische Absagelyrik.
Das Erstaunlichste ein langer und aufwendig geschriebener Artikel von Gustav Seibt über den Historiker Ernst Kantorowicz und dessen zwei Leben, da er nach der Auswanderung 1933 sich eine neue Wissenschaftlerkarriere in den USA aufgebaut hat. Seibt beschreibt mit beflissener Lust dessen georgeschen Hymnus auf den Staufenkaiser Friedrich II. (ein Buch von 1927, das Hitler mehrfach gelesen haben soll und das Goebbels Mussolini geschenkt hat). Es ist hochgradig fiktional in seiner Beseitigung aller Kontingenz (der Held ist stets und in jedem Detail wesentlich) oder etwa in seiner imaginären homoerotischen Wunscherfüllung einer »bis ins Alter knabenhaften«, aber desto männlicheren Körperlichkeit. Rudolf Borchardt hat das 1930 als »Umfälschung der Weltgeschichte auf Georges Posen« verspottet, die zeigen wolle, »wie George als Hannibal die Schlacht bei Cannae schlägt, während George als Scipio bei Zama den Punier abtut und dann als Cäsar ostwärts und als Ariovist westwärts den Rhein überschreitet« usw. Dreißig Jahre später dann geradezu das Gegenbuch, das just das Fiktionale in der Geschichte behandelt: Die zwei Körper des Königs. Seibts Lob unecht, weil das Lobenwollen durchlugt. Kantorowicz ist eben Jude. Hat zudem den Deutschen das Allerheiligste bereitet, den Kyffhäuser, danach sogar noch amerikanische Ehren auf sich gehäuft. So einer muss heimgeholt werden. Hier kann man studieren, wie das Pantheon erneuert wird.