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Terrorismus, Pathologie und Kriminalität
ОглавлениеAlex P. Schmid und seine Mitarbeiter haben in einer öfter zitierten Liste die bestimmenden Elemente aus 101 Terrorismus-Definitionen gesammelt und aufgelistet. Am häufigsten (85,7 Prozent) werden Gewalt und Zwang genannt, gefolgt von «politisch» (65 Prozent). «Furcht und Schrecken» (51 Prozent), «Drohung» (47,9 Prozent), Regelverletzung und Rücksichtslosigkeit (30 Prozent) und Publizitätsaspekten (21,5 Prozent).5
Wenn wir versuchen, über solche Aufzählungen hinaus einen grundlegenden Mechanismus aufzufinden, müssen wir den Terrorismus mit einer Regression verknüpfen. Regression ist die Rückkehr zu Entwicklungsstadien, die an sich bereits überholt sind.
Wenn ein Mensch den Eindruck hat, dass ihm Unrecht geschieht und andere, die sich weniger bemühen, ihm vorgezogen werden, dann werden Wut- und Racheimpulse in ihm geweckt. Ob er sie in seinem Erleben zulässt, ob und wie er sie ausdrückt, hängt davon ab, wie seine Struktur beschaffen ist und ob er regrediert. Kain hat in dieser Situation seinen Bruder Abel erschlagen. Diese Reaktion ist uns einfühlbar – Gott zog Abel vor, Kain sühnte diese Kränkung. Die Szene bildet ein Urmodell des Terrorismus ab: Das Ziel der Tat ist Gott, ihr Opfer Abel, sie enthält eine Botschaft (du darfst mein Opfer nicht ablehnen und das eines anderen vorziehen), sie setzt sich rechthaberisch über kulturelle Normen der Geschwisterliebe und der Schonung des Lebens eines Mitmenschen hinweg.
Jede terroristische Aktion im engeren Sinn ist insofern regressiv, als sie einen bereits erreichten Stand der Auseinandersetzung wieder auflöst und die eigene Rechthaberei über die Struktur des Rechtsstaates setzt. Die Mitglieder der terroristischen Vereinigung sind im typischen Fall Parasiten in einem System, das sie brauchen und ausbeuten, ohne es zu respektieren. Sie orientieren sich am Motto vom Zweck, der die Mittel heiligt. Ohne dieses grundlegende Merkmal ist es nicht sinnvoll, von Terrorismus zu sprechen. Er ist regressiv legitimierte Gewalt, intellektuelle Gewalt, inszenierte Gewalt, «Theater», wie es Brian M. Jenkins in seiner berühmt gewordenen Arbeit 1974 formuliert hat.6 Angesichts der enormen sozialen Unterschiede zwischen fanatischem Einzeltäter und in einer Gruppe agierendem Spezialisten, zwischen Mitläufer und politischem Kopf, zwischen abenteuerlustigem Jugendlichen und fanatisiertem Politiker ist es unmöglich, eine «Terroristenpersönlichkeit» zu finden. Daher neigen die Terrorismusforscher dazu, die psychische Disposition eher zu ignorieren und Terrorismus als eine Art Beruf anzusprechen. Doch wird durch diesen Einwand nicht nur die konventionelle psychologische Perspektive abgewiesen. Er ignoriert auch die Beobachtungen, dass «Beruf» keine rationale, sondern eine unbewusst motivierte Kategorie ist. Berufswahl und berufliche Karriere können durchaus zum Forschungsgegenstand der Psychologie werden. Dabei sind die von den Berufstätigen selbst angegebenen Motive zu hinterfragen. Sie klammern alle Aspekte aus, welche die Legitimität oder Geltung des Berufs infrage stellen könnten. Hinter diesen rechtfertigend vorgetragenen Motiven finden sich andere, die für ein Verständnis der Situation wesentlicher sind.
Erste Schritte in dieser Richtung liegen speziell für die helfenden Berufe vor.7 Insgesamt scheint das Bedürfnis der Täter und Organisatoren, den von ihnen ausgeübten Terrorismus zu verleugnen, im Lauf der Zeit gewachsen zu sein. Es hängt mit der Notwendigkeit zur Selbstdarstellung in den Medien als zentralem Aspekt der terroristischen «Arbeit» zusammen. Robespierre sah in seinem Terrorregime einen Ausdruck seines entschiedenen Kampfes für die Tugend; die Anarchisten der Narodnaya Wolya hatten keine Hemmungen, sich selbst als Terroristen zu beschreiben. Die so genannte «Sternbande» (Lehi = Lohamei Herut Yisrael, gegründet von Abraham Stern), die in den 1940er-Jahren neben der Irgun gegen das britische Protektorat kämpfte, ist die letzte Gruppe gewesen, deren Mitglieder sich selbst als Terroristen und nicht als Freiheitskämpfer oder Gotteskrieger bezeichnet haben. Seither ist «Terrorist» eine feindselige Zuschreibung von außen geworden, während sich die Gruppen nicht nach ihren Methoden, sondern nach ihren (selbstverständlich erhabenen) Zielen benennen. Carlos Marighela, dessen Handbuch der Stadtguerilla (Minihandbuch) diese Entwicklung zusammenfasst, befürwortet terroristische Aktionen, schreibt aber alles Ehrenrührige an dieser Bezeichnung dem Gegner zu – «In Brasilien als Aggressor oder Terrorist bezeichnet zu werden bedeutet heute für jeden Bürger eine Ehre, denn es heißt, dass er mit der Waffe in der Hand gegen die Ungeheuerlichkeit der gegenwärtigen Diktatur und die Leiden, die sie verursacht, kämpft.»8
Bruce Hoffmann hat in seiner historischen Übersicht9 behauptet, dass Terroristen – anders als revolutionäre Politiker oder Kriminelle – besonders viel Anstrengung darauf verwenden, sich selbst zu verleugnen und als schuldlose Opfer darzustellen, die durch äußere Gewalt gezwungen wurden, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Aber wer die Verteidigungsreden von Straftätern, Gewalttätern und dissozialen Persönlichkeitsstörungen ein wenig kennt, wird darin nichts Besonderes mehr erkennen. Fast alle (Gewalt-)Verbrecher stellen sich selbst als Opfer dar, die nur deshalb bis zum Äußersten gehen, weil ihnen ein übermächtiger Gegner keine andere Wahl lässt. In ihren Analysen der Nazi-Rhetorik hat Gudrun Brockhaus nachgewiesen, wie stark das Opfer-Pathos und die Selbstdarstellung als Verfolgte von den Sprechern der Hitler-Partei selbst nach ihrem Sieg und der «Gleichschaltung» aller Gegner gepflegt wurde. Längst im Besitz einer unangefochtenen Machtfülle, liebten es Hitler und seine Paladine nach wie vor, sich selbst als Opfer von Verfolgung darzustellen, die notgedrungen zum Gewaltexzess greifen.10
In ihrer Neigung zur beschönigenden Rhetorik und zur Rechtfertigung des eigenen Gesetzesbruchs mit dem erlittenen fremden unterscheiden sich Terroristen kaum von Politikern, Kriminellen, kurz: von anderen Menschen, die etwas Auffälliges tun und unbedingt wollen, dass ihre Umwelt diese Taten für gut und notwendig hält. Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit.
Die narzisstische Regression stellt immer einen geistigen Zustand her, in dem nur die eigenen Argumente zählen. Daher ist es oft unmöglich, mit Terroristen zu argumentieren. Sie haben immer Recht. Wenn im Koran steht, dass der Selbstmord verboten ist, dann ist es eben eine «heilige Sprengung», wenn ein Achtzehnjähriger von islamistischen Kadern zum Selbstmordattentat vorbereitet wird. Wenn ich überzeugt bin, dass in der Bibel steht, Abtreibungsärzte verdienten die Todesstrafe, dann ist jeder ein Teufel, der mir widerspricht. Narzisstische Störung und selektive Wahrnehmung sind zwei Seiten einer Sache.
Wer seine eigene Position absolut setzt, macht entscheidende historische Schritte wieder rückgängig. Seit den Diskussionen in der UNO nach dem Attentat während der Olympiade in München 1972 ist deutlich geworden, dass es über diese Frage keine «Weltmeinung» gibt.
Damals tötete der «Schwarze September», eine Organisation palästinensischer Terroristen, zwei israelische Athleten und nahm neun als Geiseln, um gefangene Terroristen (unter anderem der Baader-Meinhof-Gruppe) freizupressen. Während einer dilettantischen «Befreiungsaktion» durch die bayerische Polizei kamen alle weiteren Geiseln und fünf der acht Terroristen ums Leben.
Diese Aktion gilt vielfach als die Geburtsstunde des internationalen Terrorismus. Sie war ein ungeheurer publizistischer Erfolg. Die Terroristen erreichten keines ihrer taktischen Ziele, kein Gefangener kam frei. Aber die ganze Welt, die sich an den Spielen des Friedens hatte erfreuen wollen, wusste von der mörderischen Entschlossenheit der Palästinenser. Anderthalb Jahre später wurde Jassir Arafat eingeladen, vor der Vollversammlung der UN zu sprechen. In der UN-Debatte nach dem Anschlag war es nicht möglich, zu einer Resolution zu kommen, welche den Terrorismus verurteilte. Es blieb bei einer Vertiefung des Dilemmas, dass dem Sympathisanten ein Freiheitskämpfer ist, wer dem Gegner als Terrorist erscheint. Sobald Kurt Waldheim, der damalige Generalsekretär, die UNO aus der Rolle des «stummen Zuschauers» terroristischer Taten herausführen und praktische Schritte erarbeiten wollte, brachte eine Gruppe arabischer Staaten, unterstützt durch afrikanische und asiatische Länder, ein Minderheitenvotum vor, das Gewaltanwendung im Befreiungskampf unterdrückter Völker ganz klar befürwortete.
Alle Unterdrücker würden Freiheitsbewegungen als Terroristen abstempeln; ein UNO-Votum würde nur die Macht der Starken über die Schwachen, der Etablierten über die Erniedrigten festschreiben. Die UNO, sagte etwa der stellvertretende Delegierte der Volksrepublik China, dürfe nicht den unterdrückten Völkern die einzig wirksame Waffe gegen «Imperialismus, Kolonialismus, Neokolonialismus, Rassismus und israelischen Zionismus» nehmen. Relevant sei nicht die Gewalt, sondern ihre Ursachen – die Erniedrigung, das Elend, die Enttäuschung, das Leid und die Verzweiflung der Unterdrückten.
Seither hat sich die Situation in zwei Richtungen entwickelt: Die offene Unterstützung von Terrorismus durch anerkannte Regierungen ist geschwunden. Solche offiziellen Stellungnahmen haben wir nach den Anschlägen des 11. September 2001 nicht mehr gehört. Auf der anderen Seite werden terroristische Aktionen häufiger und blutiger. Die Täter scheinen in Konkurrenz zu treten, wem denn nun der spektakulärste Anschlag gelingt. Während eine erschütterte Welt hofft, mit dem Einsturz der Twin Towers sei das Ärgste überstanden, legt die immense Reaktion auf diese selbstmörderische Tat den Keim zum nächsten, größeren Plan.
Terroristen lassen sich oft, ebenso wie «gewöhnliche» Kriminelle einerseits, persönlichkeitsgestörte Amokläufer andrerseits, durch die Analyse einer narzisstischen Regression verstehen. Aber es wird auch von der Führung einer terroristischen Organisation abhängen, inwieweit sie ihre Anziehungskraft für kriminelle und/oder persönlichkeitsgestörte Personen entfaltet. Und in jedem Fall wird jede solche Organisation größten Wert darauf legen, psychische Anomalien zu verschleiern und ihre Mitglieder vom Verdacht einer psychischen Störung freizusprechen. Die Medien folgen häufig dieser Linie. In der Vorphase ihrer eigenen Entwicklung zur Terroristin hat Ulrike Meinhof ausdrücklich festgestellt, dass eine Kaufhausbrandstiftung deshalb ein revolutionärer Akt sei, weil sie kriminell ist. Kriminelle waren in den Augen der deutschen Terroristen eine sich selbst verborgene Elite, die den bewaffneten Kampf gegen ein Unterdrückungssystem bereits führte, als linke Gruppen sich noch in sinnlosen Debatten erschöpften.
«Der Terrorist ist prinzipiell ein Altruist» – diese Aussage von Hoffmann11 muss differenziert werden. «Egoismus» und «Altruismus» sind Begriffe der Alltagssprache und in den meisten Fällen subjektive Zuschreibungen, die eine soziale Perspektive ausdrücken. «Ich hätte nie gedacht, dass du so egoistisch bist», sagt zum Beispiel der verlassene Liebhaber. Hier wird deutlich, dass das naive psychologische Modell von Egoismus und Altruismus nutzlos wird, wenn wir versuchen, extreme menschliche Reaktionen zu verstehen. Denn beide Begriffe erfassen die narzisstische Dimension nicht, in denen ein Mensch nicht ich-, sondern selbstbezogen handelt. Er ist mit etwas verschmolzen, das größer ist als sein Ego. Das bedeutet aber keineswegs, dass er sich einfühlend oder vernünftig auf ein Du bezieht, wie wir das von altruistischem Handeln erwarten.
Wer narzisstisch motiviert ist, kann größten Wert auf den Anschein legen, einer Sache oder einer anderen Person zu dienen, aber er trennt nicht zwischen dieser Sache oder dieser Person und sich selbst. Die narzisstisch gestörte, verzweifelte Mutter glaubt, sich auf das Schicksal ihrer Kinder zu beziehen, wenn sie diese in einem erweiterten Suizid mit in den Tod nimmt. Hier würde kaum jemand von einem «altruistischen» Motiv sprechen.
Der Terrorist hat in der Regel das Empfinden, einer guten Sache zu dienen und eine Gruppe zu repräsentieren, der er helfen will. Er möchte eine Position durchsetzen, die bisher nicht genügend respektiert wird. Er scheint sein eigenes Leben gering zu achten; seine Sache wird wichtiger als er. Aber da er von dieser Sache in seinem Erleben nicht getrennt ist, ist es auch falsch, ihn mit einem uneigennützigen Menschen gleichzusetzen. Er ist eher ein Mensch, auf den sich beide Kategorien – die des Egoismus und die des Altruismus – nicht sinnvoll anwenden lassen. Denn diese Kategorien funktionieren dann, wenn sich vernünftige Menschen in einem Rechtssystem bewegen, in dem sie ihre egoistischen Interessen durchsetzen oder aus Liebe zu einem Mitmenschen auf diese Durchsetzung verzichten können.
Der Terrorist hingegen kennt kein Rechtssystem im Sinne der modernen Auffassung, sondern nur von ihm selbst oder seinen Führern für absolut gesetzte Werte, die sich über alle anderen Gesetze hinwegsetzen und ihn ebenso total legitimieren, wie sie seine Feinde ihrer Menschenrechte berauben. Der Terrorist ist das in die Welt entlassene, in ihr agierende, in ihr explodierende Größenselbst.