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Einleitung: Die Spitze des Eisbergs

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Da Eis nur ein wenig leichter ist als Wasser, sehen wir neun Zehntel eines Eisberges nicht. Die Spitze des Eisbergs ist ein Bild für die erdrückende Übermacht des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren. Sie ist ein Hinweis auf die trügerischen Gewissheiten unserer Wahrnehmung, auf die Illusion, wir hätten mit unserem Blick auf das treibende weiße Gebilde das Wesentliche bereits erfasst und könnten nun darangehen, ihm auszuweichen. Die Spitze des Eisbergs ist auch ein Bild für unsere Psyche: Nur ein Bruchteil dessen, was sich in ihr abspielt, wird uns bewusst. Wir wissen wenig, ahnen so manches, müssen uns öfter, als es uns lieb ist, mit dem Wissen um unser Nichtwissen zufrieden geben, das uns seit Sokrates mehr befriedigt als die fromme Illusion.

Die Ereignisse am 11. September 2001 sind für mich nach und nach ebenfalls zur Spitze einer viel umfassenderen und auch bedrohlicheren Erscheinung geworden. Ich nenne sie den explosiven Narzissmus. Unter Bedingungen, die sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen, kann der Mensch explodieren. Er verliert jede Struktur, wird unberechenbar, vernichtet andere oder sich selbst. Erfindungen, die in den letzten Jahrhunderten unser Leben mehr und mehr bestimmen, treten mit unserer Psyche in eine verhängnisvolle Wechselwirkung. Wir haben Explosionsmotoren konstruiert, die Wissens-, Kosten- oder Bevölkerungsexplosion zur Metapher unserer Krise gemacht.

So geht es darum, wachsamer zu werden für die seelischen Veränderungen, welche die Dinge anrichten, die uns umgeben. Sie sind nicht nur außen, sondern formen auch unsere innere, seelische Struktur. Die dem Menschen durch die Technik geschenkten Möglichkeiten, durch kleine Bewegungen immense Wirkungen zu erzielen, haben wir in ihrem Gefährdungspotenzial noch kaum erkannt. Es beginnt mit der faszinierenden Macht über die Bilder, welche jedem Kind der Konsumgesellschaft durch die TV-Fernsteuerung geschenkt wird, führt zur Macht über Leben und Tod, die jeder hat, der «am Drücker» einer Waffe ist, steigert sich noch in der Möglichkeit, selbst zur Bombe zu werden. Meine Hypothese ist, dass diese technischen Qualitäten in die Strukturen unseres Selbstgefühls eingebettet werden und auf diesem Weg Gefahren entstehen, welche sich die Lobredner der Machtsteigerung durch unsere explosiven und regressionsfördernden Technologien nicht träumen lassen. Wer von der Konsumgesellschaft so sehr sozialisiert ist, dass sie auch seine geistigen Strukturen prägt, der wird jetzt schnell sagen: Aha, wieder ein Autor, der uns in die Steinzeit zurückzappen will!

Ernster gesagt: Die heute so beliebte Neigung, dem Kritiker entgegenzuhalten, er müsse entweder eine bessere Welt bieten oder den Mund halten, ist ein Kind jener Knopfdruck-Lösungen, in der wir sogleich ein neues Programm brauchen, wenn das alte nicht mehr befriedigt. Es ist leicht, einen Menschen – und damit eine Welt – durch einen explosiven Akt zu vernichten, jedoch unendlich schwer, einen Menschen zu erziehen, ihn zu bilden, ihn – wenn er krank ist – zu heilen. Wenn mir also jemand vorwirft, ich hätte keine schnell wirksame Lösung, dann sage ich aufatmend: Genau so soll es auch sein.

Der explosive Narzissmus bedroht unser Selbstgefühl. Die unmittelbaren Gefahren durch einen Amoklauf oder ein Selbstmordattentat sind geringer als die Gefahren, welche dadurch heraufbeschworen werden, dass wir ihn nicht verstehen, sondern blindlings bekämpfen. Damit werden Prozesse in Gang gesetzt, welche die Übel erzeugen, die sie heilen sollen. Beispielsweise wurde nach dem Amoklauf von Erfurt die Szene der Counter-Strike-Spieler ganz ähnlich dämonisiert wie nach dem Attentat vom 11. September die islamische Kultur. Ginge es um den rationalen Kampf gegen eine äußere Gefahr, müssten wir zunächst untersuchen, welchen Platz von Mordphantasien geprägte Schüler in der Kultur der Computerspieler haben und welchen Platz die Fanatiker des Terrors im Islam. Erst durch die Einsicht in die Abwehrqualität der politischen Reaktionen auf solche Ereignisse wird deutlich, dass wir uns weniger vor äußeren als vor inneren Gefahren schützen wollen. Der Kampf gegen die Disposition zur eigenen Entgleisung in unserem Inneren schreit nach Zeichen, die uns salvieren und andere verdächtigen. Daher entlastet es die Menschen, wenn Computerspiele dämonisiert werden oder eine große, komplexe Glaubensgemeinschaft in Verdacht gerät. Kampf und Flucht, die menschlichen Ur-Affekte, stehen den Primitivreaktionen zum Schutz des Selbstgefühls nahe. Wie ängstliche Spaziergänger, die einen Platz im Inneren der Gruppe suchen, wenn von außen ein bellender Hund herbeiläuft, entlasten wir uns, indem wir möglichst viele andere zwischen den Angreifer und uns selbst bringen. Wir sind keine Counter-Strike-Spieler, wir sind Christen, wir sind sicher vor solchen Entgleisungen, viele andere sind viel näher dran.

Eine vernünftige und forschende Haltung wird die Kulturen, aus denen die entgleisten Täter kommen oder zu kommen scheinen, nicht dämonisieren, sondern befragen. Sie wird versuchen, herauszufinden, ob diese nicht von sich aus wirkungsvolle Maßnahmen gegen solche Extreme in den eigenen Reihen kennen. Denn wenn sofort eine ganze Gruppe für die Tat eines Mitglieds dämonisiert wird, berauben wir uns einer zentralen Möglichkeit, solchen Taten vorzubeugen.

Die Gruppe wird sich als ganze entwertet, verachtet und nicht verstanden fühlen. Sie wird daher keinerlei Interesse mehr aufbringen, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, um eine Wiederholung zu verhindern. Auf diese Weise können die Täter in der sich defensiv schließenden Gruppe untertauchen, während die Entwertung der Kultur, aus der sie gekommen sind und deren Werte sie missbrauchen, sie scheinbar ins Recht setzt.

Der Mensch als Bombe

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