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Strukturverlust und Durchschlagskraft
ОглавлениеEin Minderheitsanliegen zu vertreten macht keinen Terroristen. Wohl aber kann jemand, der sich für ein Minderheitsanliegen engagiert, den Terroristen besser verstehen. Er weiß, was es bedeutet, sich in einer Position als Außenseiter zu fühlen und zu empfinden, dass eine gleichgültige, selbstzufriedene Mehrheit nicht im Geringsten von dem angerührt wird, was ihm auf den Nägeln brennt.
Terroristen sind im Grunde nicht schwer zu verstehen. Die Unverständlichkeitsbeteuerungen (denen wir auch bei den Amoktätern begegnen und die auch dort unglaubwürdig sind, vgl. S. 98) hängen damit zusammen, dass «normale» Personen einige Anstrengung darauf verwenden müssen, ihre Größenvorstellungen zu zähmen. Sich zu sehr in einen Terroristen (oder auch in einen Verbrecher) einzufühlen gefährdet die eigene Abwehr, verwischt die Grenze zwischen Maß und Übermaß. Wem es gelungen ist, seine Grandiosität zu reflektieren und zu zähmen, der kann gelassen von «Bruder Hitler» sprechen, wie Thomas Mann, oder nachdenklich gestehen, auch er sei zu jedem Verbrechen fähig, wie Goethe.
Was einen Terroristen von Menschen mit radikalen oder extremen Überzeugungen unterscheidet, ist seine Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und auch Menschen zu verletzen, ja zu töten, die nicht unmittelbar für die von ihm für unerträglich gehaltene Situation verantwortlich sind.
Subjektiv erlebt der Terrorist seine Bereitschaft, mit der Waffe in der Faust und unter Einsatz seines Lebens für seine Ideale zu kämpfen, als Progression, nicht als Regression. Er geht weiter, er ist stärker, radikaler, überzeugender als andere Vertreter seiner politischen oder religiösen Überzeugung.
Ein sehr wesentlicher Schritt zum Verständnis des Terrorismus ist dann vollzogen, wenn deutlich geworden ist, dass es sich um eine Pseudoprogression handelt, die eine Regression verbirgt. Gewalt ist deshalb so faszinierend, weil sie so schnell, einfach und «wirksam» ist. Im Lauf der kulturellen Entwicklung ist jedoch klar geworden, dass die menschlichen Gewaltpotenziale nicht gut sind. Sie müssen überwacht werden. Die Übel des menschlichen Zusammenlebens, die sich aus unserer Gewaltneigung ergeben, können am besten durch einen sozialen Prozess gezügelt werden, den wir die Gewaltenteilung nennen.
Wer Gewalt anwenden will, darf es nicht spontan aus seiner Wut heraus tun, sondern er muss sich an Regeln halten. Eine der ältesten Regeln ist das Gesetz «Ein Auge für ein Auge, ein Zahn für einen Zahn». Es schreibt vor, den Gegner nicht radikaler zu beschädigen, als er mich beschädigt hat – ihm also nicht das Leben zu nehmen, weil er mir einen Zahn ausgeschlagen hat, sondern ihm nur einen Zahn auszuschlagen.
Der Terrorist gibt diese Differenzierungen auf. Er orientiert sich an einem Racherecht, das unsere Welt in ein Chaos verwandeln würde, wenn sich alle an ihm orientierten. Insofern ist der Terrorist kein Altruist, sondern das Opfer einer narzisstischen Regression mit einem altruistischen Selbstmissverständnis.
Die narzisstische Regression ist eine Gefährdung unserer seelischen Struktur, von der wahrscheinlich kein Mensch verschont bleibt, wenn seine Lebensumstände belastend genug werden. In dieser Regression werden schrittweise höhere menschliche Fähigkeiten, wie die Bereitschaft, sich in andere Positionen einzufühlen und sie potenziell als gleichwertig zu erkennen, durch primitivere Haltungen ersetzt, die darauf hinauslaufen, alle Wahrheit bereits zu besitzen und dank dieser grandiosen Überlegenheit auch das Recht zu haben, sich rücksichtslos über die Bedürfnisse anderer Menschen und die Gesetze des Zusammenlebens in einer entwickelten Gesellschaft hinwegzusetzen. Der Terrorist ist Richter und Henker, Ankläger und Geschworener in Personalunion.
Wer narzisstisch regrediert ist, hat viele normale Hemmungen verloren. Er kann beträchtliche Überzeugungskraft entfalten, weil allen Personen in seiner Umgebung schnell klar wird, dass sie es mit einem Menschen zu tun haben, der im Konfliktfall aufs äußerste gehen muss. Er kann gar nicht anders. Er ist so. Er wird die Beziehung abbrechen und sich mit allen ihm verfügbaren Mitteln rächen, wenn sein Größenanspruch nicht erfüllt wird. Das macht ihn, wenn er einigermaßen begabt ist, zu einem charismatischen Führer, zur Zuflucht für unsichere, ängstliche, in der Sehnsucht nach einer starken Elterngestalt lebende Menschen. Diese wünschen sich, in der Identifizierung mit ihm ebenso stark zu werden, wie er ihnen erscheint.
Ohne die Hintergründe dieser sozialen Dynamik zu erkennen, hat sie ein deutscher Psychiater doch beschrieben, der während des «Dritten Reichs» in einer Vorlesung über Psychopathen sagte: «In ruhigen Zeiten diagnostizieren wir sie; in unruhigen regieren sie uns!»
1 Alex P. Schmid, Janny de Graaf: Violence as Communication. Insurgent Terrorism and the Western News Media, London [Sage] 1982
2 George Woodcock (Hg.): The Anarchist Reader, Glasgow [Fontana], S. 43f.
3 Menachem Begin: The Revolt: Story of the Irgun. Jerusalem [Steimatzky] 1977
4 Michael J. Cohen: Palestine and the Great Powers, 1945–1948. Princeton [University Press] 1982, S. 259
5 Alex P. Schmid et al.: Political Terrorism: A New Guide. New Brunswick [Transaction Books] 1988, S. 5. Vgl. a. Bruce Hoffmann: Terrorismus – Der unerklärte Krieg. Frankfurt [S. Fischer] 2001
6 B. M. Jenkins: International Terrorism: A New Mode of Conflict. In: David Carlton und Carlo Schaerf (Hg.): International Terrorism and World Security. London [Croom Helm] 1975, S. 16
7 W. Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Reinbek [Rowohlt] 1977, 1997. Ders.: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe. Reinbek [Rowohlt] 1983, 1996
8 C. Marighela, Pensamiento Critico, Nr. 37, Feb. 1970
9 Bruce Hoffmann: Terrorismus – Der unerklärte Krieg. Frankfurt [S. Fischer] 2001. Der Autor verrät wenig Kenntnis von Kriminellen, wenn er behauptet, dass diese ihre «unehrenhaften oder vollkommen selbstsüchtigen Gewaltaktivitäten» problemlos zugeben können.
10 G. Brockhaus: Schauder und Idylle. München [Kunstmann] 1998
11 Bruce Hoffmann: Terrorismus – Der unerklärte Krieg. Frankfurt [S. Fischer], S. 55