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Das Dynamit und die Rotationspresse

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Im späten 19. Jahrhundert machten sich zwei neue soziale Phänomene bemerkbar: die Massenpresse und der aufrührerische Terrorismus. Beide verdankten einen großen Teil ihrer Existenz jüngsten technischen Entwicklungen: dem Dynamit, das 1866 erfunden worden war, und der Rotationspresse, die 1848 eingeführt und 1881 vervollkommnet wurde. Beide Erfindungen traten bald in Wechselwirkung. «Wahrheit kostet zwei Cent die Kopie, Dynamit vierzig Cent das Pfund. Kaufe beide, lies die eine, nutze das andere!» So erklärte das Anarchistenblatt «Wahrheit» (Truth) in San Francisco.1

Terrorismus ist «Propaganda der Tat», ein Begriff, der dem italienischen Revolutionär und Kämpfer gegen die Bourbonenherrschaft, Carlo Pisacane zugeschrieben wird. «Die Propaganda der Idee ist ein Gespenst», behauptete der Garibaldi-Vorläufer. «Ideen gehen aus Taten hervor und nicht umgekehrt, das Volk wird nicht frei durch Bildung, sondern gebildet in der Freiheit.»2

Auch beim politischen Terrorismus aus dem Untergrund, der das Bild unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Thema prägt, macht sich die Spirale der Gewalt bemerkbar. Die wohl erste wichtige Organisation, welche die Propaganda der Tat umsetzte, war der «Volkswille», Narodnaya Wolya, eine 1878 in Russland gegründete Gruppe, die vom Zaren eine Verfassung verlangte und angesichts der Apathie ihrer Zeitgenossen und der Macht despotischer Traditionen schließlich die Aufmerksamkeit durch Gewalttaten von jenem Typus herausforderte, die man später «anarchistisch» nannte. Damals machten sich die Täter noch Skrupel, die angesichts der gegenwärtigen Selbstmordattentate altmodisch wirken, brachen beispielsweise das vorbereitete Attentat ab, sobald sie sahen, dass ihr Ziel von seinen Kindern begleitet war. Der größte Erfolg der Narodnaya Wolya – der Mord an Zar Alexander am 1. März 1881 – durch vier voneinander unabhängig arbeitende, zum Äußersten entschlossene Täter führte auch zum Untergang der Gruppe: Ein Täter überlebte und verriet die Organisation an den Staatsapparat. Das Attentat selbst brachte, wie es bis heute gelungene Attentate tun, den anarchistischen Gruppen großen Zulauf; sie versuchten, in London eine Art Internationale zu gründen, die freilich mehr auf Willensbekundungen beruhte und keine straffe Organisation aufwies – das hätte auch zum Konzept des Anarchismus nicht gepasst, machte ihn aber für die autoritären Polizeiapparate umso bedrohlicher und schwerer zu fassen.

Die nächsten prominenten Opfer waren Kaiserin Elisabeth von Österreich und der amerikanische Präsident William McKinley, der 1901 von dem Anarchisten Leon Czolgosz getötet wurde. Diese Tat an der Schwelle zum 20. Jahrhundert beleuchtet besonders nachdrücklich die intellektuelle und narzisstische Qualität des Terrors. Der Aufstieg des Präsidenten wurde durch die Entwicklung der modernen Massenpresse gefördert; während des Wahlkampfs druckten zwei Zeitungen – herausgegeben von Pulitzer und Hearst – zum ersten Mal Auflagen in Millionenhöhe.

Das bedeutete eine dramatische Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten und dessen, was wir heute Informationslandschaft nennen. Bei Aristoteles ist die Größe eines (Stadt-)Staates durch die Reichweite der menschlichen Stimme bestimmt, die bei günstiger Anordnung des Publikums (etwa in einem Amphitheater) höchstens von zwanzigtausend Personen gehört werden kann. Diese Reichweite der einzelnen Stimme wird durch die Rotationspresse auf das Mehrhundertfache gesteigert, durch die elektronischen Medien auf das Mehrtausendfache – die stürzenden Türme des World Trade Center haben sicher mehr als zwei Milliarden Menschen gesehen.

Parallel dazu werden aber immer mehr Menschen von der Möglichkeit ausgeschlossen, die Hürde zu überspringen, welche den Zugang zu dieser enorm gesteigerten Multiplikation des Ego abriegelt. Pressefreiheit im Kapitalismus gilt nur für einen: für den Besitzer der Zeitung. Während die Redefreiheit für alle galt, half die Pressefreiheit vor allem dem Unternehmer, der ein Massenblatt gründete, und denen, die an seiner Macht und seinem Reichtum auf verschiedene Weise teilhaben konnten. Die Macht, Aufmerksamkeit, Geltung, Bedeutung und Prestige zu verteilen, kann nicht ausgeübt werden, ohne Hass und Neid zu erregen. Je mehr diese Macht wächst, desto stärker werden auch diese Affekte. Der Terrorismus ist ein wichtiges Mittel, sie auszudrücken.

Leon Czolgosz, der 1901 den amerikanischen Präsidenten William McKinley tötete, erklärte seine Tat so: «Ein Mann sollte nicht so viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, während andere keine erhalten!» Im Anarchismus berühren sich die Extreme: «Keine Macht für niemand!» weckt als Schatten «Alle Macht für mich!». Luchini, der Mann, der die österreichische Kaiserin Elisabeth 1898 erdolchte, sammelte Zeitungsausschnitte und wollte jemand töten, der wichtig war, um endlich die Aufmerksamkeit zu haben, auf die er nicht verzichten konnte.

Der Mensch als Bombe

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