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3.
ОглавлениеVerena zeigte ihren Presseausweis, obwohl der Pförtner sie gut kannte, und bat ihn, sie bei Herrn Sander anzumelden, bei dem sie einen Termin habe. Nach dem kurzen Telefonat wandte der Pförtner sich an Verena: „Sie können passieren. Er erwartet Sie. Den Weg kennen Sie ja.“
Mit dem Fahrstuhl fuhr sie in die dritte Etage, ging links den Gang hinunter und klopfte an die Tür, neben der in Sichthöhe auf einem schon leicht vergilbten Schild‚ 'Sander, Hauptkommissar, KK 14, Raubdelikte‘ zu lesen war.
„Herein“, drang seine Stimme deutlich hörbar durch die Tür, „herein, wenn´s kein Schneider ist.“
Typischer Fall von Sippenhaft, dachte Verena bei sich, was kann das arme Schneiderlein für die Neugier seines Weibes? Immer wieder wurde sie bei Pülls häufig verwendeter Floskel an die Kölner Heinzelmännchen erinnert. Mit diesem Gedanken trat sie ein.
Wie so häufig hatte er auch heute einen Pullunder an. Gelbe und blaue Rauten auf dunklem Untergrund. Dazu trug er ein verwaschenes blassblaues Leinenhemd mit langen Ärmeln und eine schon etwas abgewetzte anthrazitfarbene Stoffhose. Seit dem Tod seiner Frau sagte ihm niemand mehr, wann es Zeit war, sich nach einer neuen Hose umzusehen. Als Verena eintrat, stand er gerade an seinem Stehpult, das er sich vor zwei Jahren nach seiner Bandscheibenoperation nach langem Hickhack mit der Verwaltung ins Büro hatte stellen lassen. Vor ihm lag eine dicke, rote Akte, in der er offensichtlich gerade las. Auf der abgegriffenen Oberfläche prangte deutlich sichtbar der Aufdruck Staatsanwaltschaft Köln. Er blickte über die Ränder seiner Lesebrille, ging auf Verena zu und umarmte sie herzlich.
„Na, da bist du ja endlich. Hat doch ein bisschen länger gedauert“, meinte er mit Blick auf die Uhr. „Jetzt sollten wir uns aber sputen, sonst bekommen wir nichts Gescheites mehr auf die Gabel und müssen auf Kaffee und Kuchen ausweichen.“
Er nahm seine Schlüssel, sein Portemonnaie und verließ mit Verena das Zimmer. Sie fuhren ins Erdgeschoss, wo sich die Kantine unmittelbar rechts neben der Eingangshalle befand.
Mit ihren Tabletts und Bestecken bewaffnet gingen sie zur Essensausgabe. Er entschied sich für eines der beiden Stammessen, Schweinshaxe mit Kraut. Sie wählte für sich aus dem Freeflowbereich einen gebackenen Camembert mit Preiselbeeren und frischem Salat.
Sonst war es zur Mittagszeit viel voller in der Kantine. So kurz vor Toresschluss aber waren sogar schon wieder einige Fensterplätze frei. Verena wählte einen kleinen Vierer-Tisch in der Ecke, von wo aus man die ganze Kantine überblicken konnte, die sich nach und nach fast völlig leerte. Heinz, der an der Essensausgabe noch hatte warten müssen, folgte ihr wenig später und nahm ihr gegenüber Platz.
Müde sieht er aus, dachte Verena, als sie ihn betrachtete, während er Teller, Dessertschälchen, Wasserglas, Serviette und Besteck auf dem Tablett sortierte, wie es seinem Ordnungssinn entsprach. Sein freundliches Gesicht mit den wachen, blauen Augen und der etwas zu groß geratenen Nase, war immer noch umkränzt von inzwischen leicht ergrauten, längeren Strähnen, die über die inzwischen sehr ausgeprägte Glatze gelegt waren. Zu der Kurzhaarfrisur, zu der sie ihm schon mehrfach geraten hatte, konnte er sich noch immer nicht entschließen.
„Was schaust du so gedankenverloren?“, meinte er, als er Verenas Blick auf sich ruhen sah.
„Ich finde, du siehst müde aus“, sagte sie frei heraus. „Freust du dich auf deinen Ruhestand?“
„Also, dass ich müde aussehe, hängt mit dem gestrigen Abend zusammen. Zuerst habe ich den neuesten Grisham zu Ende gelesen und dann gab´s da im Fernsehen noch spät eine Wiederholung von einem wundervollen Reisebericht über Neuseeland. Einmalige Bilder von der Südinsel, den Fjorden, den Gletschern und vor allem vom Mount Cook, die mich tief in die Erinnerung meiner letzten gemeinsamen Reise mit Uschi haben eintauchen lassen. Dabei ist dann eben eine ganze Flasche Masi Bardolino draufgegangen und in meinem Alter bleibt das nicht so einfach in den Klamotten hängen“, meinte Heinz mit einem schelmischen Grinsen und überspielte damit seine traurigen Gedanken an den Krebstod seiner im Sommer vorletzten Jahres verstorbenen Frau.
„Was meine Pensionierung zum Jahresende betrifft“, griff er dann die Frage von Ve-rena wieder auf, „kann ich nur sagen, ich freue mich riesig auf den Ruhestand, wenn ich daran denke, wie viele Reisen ich noch vor mir habe.“
„Dann wird das wohl eher ein Unruhestand. Spann lieber erst einmal aus, wenn´s soweit ist“, erwiderte Verena.
„Aber du bist ja sicherlich nicht gekommen, um mit mir über meine Pensionierung zu reden, oder?“, brachte Heinz dann, während er zu essen begann, das Gespräch wieder auf den Punkt.
„Richtig, ich hab dir ja schon vorhin gesagt, dass ich mich noch mal habe beurlauben lassen, um mit mir ins Reine zu kommen. Um es klar zu sagen, ich will die Sache mit Paul zu Ende bringen, das heißt, ich möchte dein Angebot annehmen und mit deiner Unterstützung weiter recherchieren. Dein Angebot gilt doch nach wie vor, oder?“
„Das ist wohl hoffentlich nur eine rhetorische Frage, denn es geht mir wie dir. Auch ich bin von Pauls Unschuld überzeugt. Wenn wir das beweisen können, wird sich sein angeblicher Suizid als ein Mordkomplott herausstellen. Das eine hängt ganz eng mit dem anderen zusammen. Darauf verwette ich meinen Hintern!“
Verena musste lächeln, weil dieser Ausdruck so gar nicht zu Pülls sonstigem Vokabular passte. Aber sie wusste, dass er damit ihr gegenüber nur deutlich machen wollte, wie fest er an ihre These glaubte und wie sehr sie sich würde auf ihn verlassen können.
„Wie sollen wir weiter vorgehen?“, fragte Verena und war sich ganz sicher, dass er sich schon vor ihrem Treffen einen Plan zurechtgelegt hatte. „Hast du dir schon ein paar Gedanken gemacht?“
„Ja. Alles, was wir bereits untersucht haben, auch das, was wir als irrelevant aussortiert haben, trage ich in den nächsten Tagen noch einmal zusammen und dann treffen wir uns. Sagen wir am kommenden Samstag bei dir? Morgens gegen zehn?“
„Das passt mir gut. Ich habe am Samstag nichts vor, bin aber Freitagabend eingeladen und das wird vielleicht ein bisschen später“, antwortete Verena und ergänzte dann, als sie Pülls fragenden Blick sah, „nein, nein, kein neuer Mann. Ich gehe mit Kirsten in die Oper. 'Der fliegende Holländer', die richtige Musik zum Wachrütteln.“
„Bei mir wird´s sicherlich auch spät, denn die Abende im Schachclub ziehen sich ja immer etwas in die Länge und ganz trocken sind die meistens auch nicht mehr. Früher als der Ehrgeiz noch groß war, es quasi um jeden Platz in der internen Rangliste ging, da haben wir fast alle nur Wasser getrunken, doch die Zeiten haben sich Gott sei Dank geändert. Keine harten Sachen, aber das eine oder andere Kölsch geht da schon über den Tisch.“
Schweigend aßen sie zu Ende. Beider Gedanken kreisten um den viel zu frühen Tod. Verena dachte an Paul, Heinz an seine Frau. Er brach als erster das Schweigen.
„Möchtest du noch einen Kaffee?“
„Nein, danke, ich bin gleich noch mit Kirsten im 'Eigel' verabredet.“
„Ist wohl auch besser so, ich habe heute Nachmittag eine wichtige Besprechung und will mich darauf vorbereiten.“ Er begleitete sie noch nach draußen. „Mach´s gut. Viel Spaß in der Oper. Also bis Samstag bei dir“, verabschiedete er sich von Verena und fügte noch lachend hinzu: „Vergiss nicht, Wagner von mir zu grüßen. Er soll mal ein bisschen leiser sein als sonst.“
„Ciao, bis Samstag, du Opern-Muffel! Nochmals vielen Dank für deine Hilfe.“