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ОглавлениеSchon während der Fahrt nach Hause dachte Verena, beseelt von der kraftvollen Musik Wagners, die ihr noch im Ohr nachklang, an die vielen schönen Abende, die sie gemeinsam mit Paul in der Oper verbracht hatte. So hielt die Vergangenheit sie, auch als sie schon im Bett lag, lange in Spannung. Unruhig warf sie sich hin und her und konnte nicht einschlafen. Bilder und Gedanken durchfluteten ihr Hirn. Fragmente liebevoller Gedichte, die Paul ihr immer wieder geschrieben hatte, brannten sich ein:
„Wie gerne hätt´ ich deinen Schlaf bewacht,
wäre Hüter deines Traumes dir gewesen.“
Gerade diese beiden Zeilen spukten ihr immer wieder im Kopf herum und ließen sie nicht los.
Am nächsten Morgen wachte Verena, obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, bereits vor sechs auf. Sie fühlte sich wie gerädert und wusste genau, woran es lag. Es war die Erinnerung, die sie wieder einmal während der Nacht nicht hatte abstreifen können. Auch damals, wenn Paul und sie gelegentlich aus beruflichen Gründen getrennt waren, hatte sie sich oft einsam gefühlt. Aber das war eine mit Hoffnung gepaarte Einsamkeit, die den Stempel vorübergehend trug und deshalb gut zu ertragen war. Wenn er dann wieder zurück kam aus irgendeiner fremden Stadt, zurück zu ihr, dann hatte er meistens eine kleine weiße Rose für sie und manchmal auch ein zärtliches Gedicht. Zwei Zeichen seiner Liebe. Warum es immer eine weiße Rose war, danach hatte sie nie gefragt. Sie ließ ihm dieses Geheimnis, glaubte aber, den wahren Grund zu kennen. Seine Achtung vor Menschen, die sich für andere ohne Rücksicht auf sich selbst einsetzten. Sein besonderer Respekt galt Sophie Scholl, ihrer Unerbittlichkeit im Widerstand gegen die Unmenschlichkeit. So symbolisierte die Farbe Weiß für Paul nicht nur die Unschuld, sondern auch die Liebe zu den Menschen. Mit Sophie Scholl fühlte er sich innerlich verbunden. Ihr ganzes Handeln entsprach seiner sich selbst auferlegten journalistischen Maxime: Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Der Wahrheit zum Sieg verhelfen. Bedingungslos. Schonungslos.
„Lag hierin die eigentliche Ursache für seinen Tod?“, fragte sie sich selbst. „Ist er zu dicht an die Hebel der Macht geraten? Hat jemand den Schalter umgelegt, bevor Paul mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit gehen konnte?“ Wie oft schon hatte sie sich mit solchen oder ähnlichen Fragen herumgeplagt? Unzählige Male.
Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie auf dem Hocker an ihrem kleinen Bistro-Tisch in der Küche saß, einen starken Kaffee trank und den 'Puls' las. Es klingelte.
Schon so spät, schoss es Verena durch den Kopf. Ein Blick auf die Küchenuhr räumte jeden Zweifel aus. Es war fünf nach zehn. Sie erhob sich und öffnete Heinz die Wohnungstür.
„Morgen, Püll. Irgendwie komme ich heute nicht richtig in die Gänge. Obwohl ich früh wach war, hab ich die Zeit vertrödelt.“
„Was ist denn mit dir los, du siehst ja schrecklich aus!“
„Vielen Dank, du hast wirklich eine beneidenswerte Gabe, Komplimente zu machen“, lachte sie und es klang eher amüsiert.
„Pardon, aber du weißt genau, wie ich das meine. Mal im Ernst: War´s mit Kirsten ein längerer Abend als geplant? Oder hieß Kirsten gar nicht Kirsten?“
„Gleich werde ich sauer, Püll.“ Jetzt klang Verena leicht gereizt. „Du weißt genau, dass da im Moment nichts läuft. Das ist alles noch zu frisch, als dass ich bereit wäre für eine neue Beziehung. Nicht umsonst will ich mit deiner Hilfe die mysteriöse Geschichte um Pauls Tod aufklären, und zwar bis zum bitteren Ende.“
„War nicht so gemeint. Sollte dich etwas aufmuntern. Aber ich sehe, das war wohl wieder eines dieser Fettnäpfchen, in die ich so gerne trete. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Ja, schon gut, vielleicht war ich auch ein bisschen heftig, aber meine Nacht war wirklich, entschuldige den Ausdruck, beschissen. Erst konnte ich nicht einschlafen und dann verfolgten mich die Gedanken an Paul im Traum. Bin so im Unterbewusstsein herumgeschwommen wie in einem See ohne Ufer. Sigmund Freud lässt grüßen. Vielleicht sollte ich mal meine alte Schulfreundin Manuela in Wuppertal besuchen. Hab gehört, dass sie mittlerweile promovierte Psychologin ist. Wenn das mit meinen Schlafstörungen so weiter geht, gehöre ich wirklich bald auf die Couch.“
„Das kannst du dir ja immer noch überlegen, wenn wir Pauls Tod aufgeklärt haben. Ich bin sicher, gemeinsam schaffen wir das“, brachte Püll Verena wieder auf Kurs.
„Sorry, hab dich gar nicht gefragt, ob du auch einen Kaffee möchtest?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, holte sie schon einen großen Becher aus dem Schrank, goss ihn voll und ging voraus ins Wohnzimmer, wo sie sich nebeneinander an den Esstisch setzten.
Verena hatte im Laufe der vergangenen Woche nochmals ihre umfangreichen Notizen in ihrem Laptop gesichtet, aus allen ein Exposé erstellt und daraus resultierende Fragen zusammengetragen. Am gestrigen Nachmittag hatte sie dann sämtliche Unterlagen zurechtgelegt, wie es ihrer peniblen Art entsprach. Fein säuberlich sortiert lagen drei verschiedenfarbige, beschriftete Klemmmappen auf dem Tisch: Eigene Recherchen, Fremdrecherchen und externe Informationen, Zeitungsartikel. In der Tischmitte lagen das Exposé und ein einseitiger nach sechs Komplexen unterteilter Computerausdruck:
Welche Feststellungen haben die eingesetzte Sonderkommission und die Staatsanwaltschaft in Bezug auf Pauls Tod getroffen?
Haben sich auf Pauls Rechner oder auf seinem Laptop Anhaltspunkte für bisher nicht bekannte Recherchen finden lassen?
Welche Ergebnisse haben die Auswertungen der Listen über Pauls vom Festnetz in der Redaktion, zu Hause oder mit seinem Handy geführten Telefonate gebracht?
Konnte festgestellt werden, an welchen Orten Paul vor seinem Tod recherchiert bzw. welche Institutionen er ggf. aufgesucht hat?
Wurden Ermittlungen gegen andere Personen eingeleitet? Wenn ja, sind diese inzwischen abgeschlossen worden? Mit welchem Ergebnis?
Hat er sich Dritten gegenüber (Heinz, Manfred, Kirsten, sonstige Freunde, Kollegen oder Familienangehörige) in irgendeiner Weise offenbart?
Nach einem kräftigen Schluck Kaffee meinte Heinz mit Blick auf die Unterlagen: „Na, da warst du ja wieder ganz schön fleißig, Biene Maja. Kompliment! Wird wohl am besten sein, wir gehen die Fragen der Reihe nach durch und ich informiere dich über den neuesten Stand. Aber das Wichtigste vorweg: Inzwischen wurden alle Ermittlungen, und ich meine damit wirklich alle, eingestellt. Das heißt, wir müssen ein ganz großes Rad drehen, wenn wir die Maschinerie wieder in Gang setzen wollen. Die Bereitschaft der Staatsanwaltschaft hierfür geht gegen Null. Du kennst meine sehr private Meinung über unseren Leitenden Herrn Oberstaatsanwalt, dessen stetige Senkung seines Golf-Handicaps in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur permanenten Steigerung der Anzahl seiner erfolglos geschlossenen Ermittlungsverfahren steht.“
„Gut gebrüllt, Löwe! Du machst wirklich keinen Hehl daraus, dass du Magnus Schläfer nicht leiden kannst.“
„Nicht leiden ist das falsche Wort. Ich halte ihn für ein Großmaul, der die Klaviatur des Presserummels ausgezeichnet zu spielen und für sich nutzbringend einzusetzen versteht. Im Übrigen sage ich: Name ist Programm. Damit meine ich im Gegensatz zu seiner Sicht seinen Nachnamen und nicht, worauf er so gerne anspielt, seinen Vornamen.“
„Du bist und bleibst eine alte Lästerzunge. Aber im Ernst: Ich finde seine Presseauftritte auch auf gut Deutsch zum Kotzen. Wenn es einen Erfolg zu vermelden gibt, erscheinen seine Hochwohlgeboren persönlich, bei sich hinschleppenden Verfahren oder wenn es gilt, Misserfolge einzugestehen, darf 'Kollege Stellvertreter‘ antanzen. Ganz schlechter Stil. Und wenn er, wie so oft, betont, er stehe hinter seinen Mitarbeitern, dann glaube ich ihm das sogar“, meinte Verena und ergänzte nach kurzer Pause: „Da kann er sich nämlich besser verstecken.“
„Sehr schönes Bild, doch das war nicht minder lästerhaft. Okay, lassen wir den Schläfer Schläfer sein und stürzen uns in die Arbeit. Wir haben ja ein ganz schönes Päckchen zu stemmen. Das mit der Einstellung der Ermittlungen wollte ich dir auch nur vorweg sagen, damit du nicht gleich euphorisch wirst, wenn wir vielleicht ein klitzekleines, in den Rahmen passendes Mosaiksteinchen finden sollten.“
„Schon gut, Püll. Ich weiß, dass unsere Aussichten nicht so prickelnd sind. Aber wie hat der letzte deutschsprachige Philosoph immer gesagt: Schau´n mer mal!“
Mit Elan machten sich beide an die Arbeit. Püll war Verena eine große Hilfe. Er hatte etliche Seiten aus den Ermittlungsakten der Kollegen kopiert und mitgebracht. Ob Püll sämtliches Material trotz seiner Leitungsfunktion überhaupt besitzen durfte? Darüber war Verena durchaus im Zweifel, denn schließlich hatte sein Kommissariat nichts mit Mord und Totschlag zu tun, sondern war ausschließlich für Raubdelikte zuständig. Bei der Beschaffung der Unterlagen, dachte Verena, ist ihm ganz sicher seine Beliebtheit bei den Kollegen zugute gekommen.
Dass er dann auch noch die gesamte Akte in allen Details mit Verena durchging und ihr geduldig mit seinen speziellen Kenntnissen als Kriminalist zur Seite stand, wertete sie als weiteren Beweis seiner langjährigen Freundschaft zu Paul und zu ihr. Dabei war ihr bewusst, dass er ein großes persönliches Risiko auf sich nahm. Und das nur wenige Monate vor seiner Pensionierung.
Erstaunt war Verena auch darüber, dass Püll sich offensichtlich, viel intensiver als sie bisher annahm, mit den einzelnen Facetten des Falles auseinandergesetzt hatte. So ergänzte er ihren Fragenkatalog auch noch um die Punkte:
Wo könnte Paul ein möglicherweise von ihm gefertigtes Dossier versteckt haben?
Welche Anhaltspunkte sprechen für, welche gegen das angeblich von Paul verfasste Schuldeingeständnis?
Die letzte Frage, gestand Verena sich ein, hatte sie extra nicht in ihre Liste aufgenommen. Natürlich war auch dieser Punkt, wie sie Püll gegenüber jetzt freimütig einräumte, aufzuklären. Auch die Indizien, die gegen Paul sprachen, mussten aufs Tapet.
Am Abend war Verena erschöpft, aber glücklich, alle Unterlagen nochmals gesichtet, sämtliche Fragen mit Püll erörtert und danach ein Arbeitskonzept für die kommenden zwei Wochen erstellt zu haben. Die Uhr zeigte bereits zwanzig nach neun, als beide beschlossen, es für heute genug sein zu lassen. Unterbrochen hatten sie ihre Arbeit lediglich am frühen Nachmittag, als der Pizzadienst für Verena eine 'Tonno‘ und für Püll eine 'Funghi‘ brachte. Nicht mal ein Glas Wein hatten sie dazu getrunken und die nur wenige Minuten dauernde Essenspause eher als Störung denn als willkommene Unterbrechung empfunden.
Verena begleitete Püll zur Tür. „Mach´s gut. Spätestens Ende der Woche melde ich mich oder früher, wenn ich etwas Wichtiges entdecken sollte.“
„Dann hoffe ich, dass du dich ganz schnell meldest. Wäre prima. Ich drücke dir die Daumen. Also bis dann. Schlaf gut und träume nicht wieder so ein wirres Zeug.“
Sie verabschiedeten sich mit einem flüchtigen Wangenkuss. Verena verschloss wie üblich die Wohnungstür und legte die Kette vor. Heinz trat aus dem Haus, atmete tief ein und ließ die frische Luft in seine Lungen strömen. Er öffnete die Tür seines alten Volvos, der ihn all die Jahre nie im Stich gelassen hatte, und fuhr in nördlicher Richtung nach Weidenpesch, wo er auch nach dem Tod seiner Frau wohnen geblieben war.