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Verena stellte ihren Wagen wie üblich im Parkhaus an der Oper ab. Da sie noch reich­lich Zeit hatte, nahm sie Kurs auf die Schildergasse, um sich in der Mayer´schen Buch­handlung am Neumarkt noch ein wenig umzusehen. Eigentlich hielt sie sich viel lieber in kleinen Buchläden auf als in solchen durchgestylten Fabriken mit etlichen Kassen ne­beneinander. Sie kam sich immer vor wie im Supermarkt: Bestseller auf Wühltischen. Konsalik en gros: Literatur aus dem Reagenzglas. Nichts mehr von all dem Charme, den sie in den kleinen Läden Berliner Vororte während ihres Praktikums beim 'Wirt­schaftsforum‘ kennengelernt hatte. Aber dieses mehrgeschossige Monstrum einer Buch­handlung hatte natürlich, vor allem, wenn man die Systematik einmal begriffen hatte, un­schlagbare Vorteile: Zu finden war nahezu alles, was das Herz begehrt. Obwohl sie in­zwischen auch viel bei Amazon über das Internet bestellte, zog sie es letztlich doch vor, in der Buchhandlung herumzustöbern. Was ihr - und das musste sie sich trotz ihrer kriti­schen Einstellung eingestehen - besonders gefiel, war die Möglichkeit, sich auf eine be­queme Couch zu setzen und zu lesen. Immer wieder erstaunte sie die Ruhe, die hier herrschte, trotz der vielen Menschen, die wie ein Heer von Ameisen herumwuselten.

Sie hatte keine bestimmte Vorstellung von dem, was sie lesen wollte. Nichts Schweres sollte es sein. Vielleicht ein Krimi? Würde ganz gut passen, bei dem, was ich in den nächsten Wochen vor mir habe, dachte sie, als sie nach einem Mankell griff, der sich in letzter Zeit offensichtlich wie warme Semmeln verkaufte. 'Die weiße Löwin‘ und 'Die fünf­te Frau‘ hatten ihr gut gefallen, 'Hunde von Riga‘ dagegen fand sie verwirrend und schwermütig. So legte sie den neuesten Mankell wieder zurück ins Regal und dachte an die kürzlich im ZDF gesehene Literatursendung von Elke Heidenreich. Aber es fiel ihr nicht ein einziger Titel der von ihr empfohlenen Bücher ein, obwohl sie sich während der Sendung zwei Titel notiert hatte. So wandte Verena sich den Büchern von Elke Heiden­reich selbst zu und kaufte schließlich - vielleicht gerade weil sie die 'Hunde von Riga‘ so düster in Erinnerung hatte - den Erzählband 'Rudernde Hunde‘. Da klang der Titel schon lustig und das Cover mit den beiden im Boot aufrecht sitzenden Hunden rundete noch den humorigen Eindruck ab. Bestärkt wurde sie in ihrer Wahl auch dadurch, dass ihr einfiel, kürzlich eine sehr positive Rezension über das Buch 'Mutter und Sohn‘ des Co-Autors Bernd Schroeder gelesen zu haben.

Nachdem sie mit der Rolltreppe wieder ins Erdgeschoss gelangt war, verließ sie die Buchhandlung nach links in Richtung Schildergasse, kaufte bei Douglas noch schnell ei­nen Eyeliner und einen Lippenstift.

Verena betrat das 'Eigel' bereits um zwanzig Minuten nach vier. Trotzdem war Kirsten schon da. Sie hatte sich wie üblich ganz nach hinten unter das Plexiglas-Dach gesetzt, wo es immer ein wenig heller war als im mittleren Teil des Cafés. Sie saß direkt unter ei­nem quadratischen Bild, auf dem ein mit schwarzen und gelben Öltupfern gestalteter Kreis zu sehen war, der nach außen immer stärker verblasste. Offensichtlich hatte man nach Verenas letztem Besuch vor etwa drei Wochen einen neuen Künstler ausgestellt, wie sie mit einem Blick auf die gleichartigen anderen Bilder feststellte.

Kirsten hatte sich in ein Buch vertieft. Sie las mit Vorliebe Romane von Rosamunde Pil­cher. In puncto Literatur waren die beiden Freundinnen ebenso gegensätzlich wie in ihrem Äußeren. Kirsten war ein sehr fraulicher, romantischer Typ mit einer die Blicke der Männer anziehenden Figur. Ihr Gesicht wurde von einem sinnlichen, großen Mund do­miniert und von halblangem, schwarzem Lockenhaar gerahmt. Ihre dunkelbraunen Au­gen schauten immer ein wenig hilflos und verstärkten so ihre Wirkung auf die Männer­welt.

Gelegentlich hatte Verena - sich ihres eigenen eher etwas burschikosen Typs bewusst - bedauert, nichts von Kirstens weiblichen Vorzügen zu haben. Aber dieser Anflug von Neid verflog dann immer schnell, wenn wieder einmal eine der vielen, meist nur wenige Wochen oder Monate andauernden Beziehungen Kirstens in die Brüche gegangen war. So wie zuletzt die Sache mit Karsten.

Begonnen hatte die Geschichte, als seien die beiden wie für einander geschaffen. Nicht nur der Gleichklang der Namen war auffällig, auch die Seelenverwandtschaft. Zwei er­folgreiche Singles hatten sich gefunden. Sie langjährig in einem in Köln ansässigen gro­ßen Versicherungskonzern als Vorstandssekretärin tätig, er Flugkapitän bei einer deut­schen Fluggesellschaft. Nichts konnte sie trennen. Bis diese scheinbar unantastbare Liebe wie eine große schillernde Seifenblase zerplatzte.

Karsten bewohnte eine prachtvoll eingerichtete 3-Zimmer-Maisonette-Wohnung in Ro­denkirchen mit Blick auf den Rhein, die er vorübergehend von seinem Freund und Kolle­gen, Martin Pfeiffer, übernommen hatte, der sich für ein Jahr hatte beurlauben lassen, um Australien mit einem Jeep zu durchqueren. Schon nach knapp einem Monat war Kirsten zu Karsten gezogen und suchte ihre eigene Wohnung fast nur noch auf, um ge­legentlich nach dem Rechten zu sehen. Sie verbrachten in dem für sie beide neuen Do­mizil romantische Abende im Kerzenlicht mit nicht enden wollenden durchliebten Näch­ten. Sie feierten ein stilles Weihnachtsfest und in Abendgarderobe einen stilvollen Sil­vesterabend mit Champagner und Kaviar. Sie nannten sich zum Jahreswechsel ge­genseitig ihre guten Vorsätze für das neue Jahr, beteuerten einander ihre tief empfunde­ne Liebe und behielten - damit sie auch in Erfüllung gehen konnten - ihre geheimen Wünsche für sich. Dabei hoffte Kirsten inständig, dass auch Karstens Wünsche um eine gemeinsame Zukunft, vielleicht sogar mit einer prachtvollen Hochzeit im kommenden Jahr, kreisten. Doch es kam anders.

Als Martin Pfeiffer Mitte Februar verfrüht zurückkehrte und zu seiner Überraschung in der seinem Freund überlassenen Wohnung Kirsten vorfand, kam die Wahrheit unge­schminkt ans Licht: Karsten war seit Jahren kinderlos aber glücklich in München verhei­ratet. Er bewohnte dort mit seiner Ehefrau ein Einfamilienhaus in Bogenhausen und führte ein klassisches Doppelleben, das ihm durch seine überwiegend im Langstrecken­bereich erfolgten Einsätze als Flugkapitän möglich war.

Trotz ihrer unermesslichen Wut beendete Kirsten die Beziehung nach einer durchwein­ten Nacht mit Stil. Karsten wollte am nächsten Tag zurück sein. Sie deckte einen kleinen Tisch in Martins Wohnung wie zu einer Geburtstagsfeier mit Kuchen und Kerze, legte alle seine Geschenke darauf, einschließlich der letzten inzwischen verwelkten Rosen, und hinterließ einen kleinen Zettel, auf dem stand: „Das war´s! Lass Dich nie wieder bli­cken!“

Obwohl die Sache mit Karsten erst seit wenigen Wochen zu Ende war, sah Kirsten wie­der aus wie das blühende Leben. Sie blickte hoch, als hätte sie Verenas Blicke gespürt, und legte ihr Buch beiseite.

„Hallo, meine Süße, da bist du ja schon.“

„Hi Kirsten. Wieso konntest du heute so früh weg? Vor sechs kommst du doch sonst nie aus dem Laden. Bist du schon lange hier?“

„Ja, etwa eine halbe Stunde. Mein Chef ist in Berlin beim Gesamtverband und da hat meine Vertreterin sich angeboten, heute länger zu bleiben. Nun mach´s nicht so span­nend, ich platze vor Neugier!“

„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Aber wollen wir nicht erst mal Kaffee bestel­len? Du nimmst doch auch noch einen, oder?“

„Ja, einen Cappuccino. Und du?“

„Latte Macchiato und ein Stück Kuchen. Willst du auch eins?“

„Nein danke, ich hab schon. Ich hatte so einen Hunger, weil ich heute Mittag nichts ge­gessen habe.“

„Okay. Dann suche ich mir an der Theke was aus und du kannst ja für mich mitbestel­len“, sagte Verena und ging zum Kuchenbuffet.

„Also was gibt´s Neues?“, fragte Kirsten, noch bevor Verena sich wieder gesetzt hatte, voller Ungeduld.

„Den Knaller vorweg: Ich bin beurlaubt!“

„Wie beurlaubt? Das warst du doch gerade? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Hat Mannomann dich etwa gefeuert?“

„Quatsch! Nein, wir haben miteinander gesprochen. Zuerst war es so eine Art Manöver­kritik, weil meine Reportagen in letzter Zeit wirklich nicht das Gelbe vom Ei waren. Als ich ihm dann aber verständlich machen konnte, dass ich an Pauls angeblichen Suizid immer noch nicht glauben kann und die ganze Wahrheit wissen will, um irgendwann den Kopf mal wieder frei zu bekommen, hat er eingewilligt, mir noch mal unbezahlten Urlaub zu geben, und zwar für drei Monate. Erst wollte er sogar mein Grundgehalt weiterlaufen lassen. Aber das habe ich abgelehnt.“

„Schön doof! Das hätte ich garantiert nicht getan. Für drei Gehälter muss eine alte Frau ganz schön lange stricken“, meinte Kirsten mit verschmitztem Grinsen, fuhr dann aber einlenkend fort: „Doch, ist schon okay, wenn ich mir´s so recht überlege. Dein Boss hat sich ja vorher schon sehr großzügig gezeigt.“

„Das war für mich auch der Hauptgrund. Außerdem will ich nicht, dass die Kollegen in der Redaktion anfangen zu tratschen. Du weißt ja, wie so etwas passiert. Da wird dann ganz schnell was zusammengebastelt. Dafür habe ich im Moment wirklich nicht den richtigen Nerv.“

„Das heißt also, du willst jetzt wieder Detektiv spielen. Wahrscheinlich mit Pülls Hilfe, oder?“

„Natürlich. Allein könnte ich da wohl gar nichts ausrichten, aber zusammen mit ihm ver­spreche ich mir doch wenigstens Klarheit. Verstehst du das?“, fragte Verena Zustim­mung heischend.

„Sicher, das kann ich nachempfinden. Wenn mir einmal so ein wirkliches Glück mit ei­nem Mann widerfahren wäre wie dir mit Paul“, meinte sie mit leicht sarkastischem Unter­ton auf ihre meist nur kurzen Affären anspielend, „dann hätte ich auch sämtliche Register gezogen, um Klarheit zu gewinnen.“ Ergänzend fügte sie leicht resigniert hinzu: „Bei meinem letzten Abenteuer wurde mir die Wahrheit ja ziemlich massiv und plötzlich präsentiert.“

Obwohl ihnen beiden nicht danach zumute war, mussten sie laut losprusten, sodass zwei ältere Damen am Nebentisch sich demonstrativ nach ihnen umdrehten und ein vor­wurfsvolles Gesicht aufsetzten. Das amüsierte Verena und Kirsten noch mehr, was zu einem weiteren Gelächter führte, das ihnen ein sichtliches Kopfschütteln einbrachte.

Sie tauschten sich noch über die neuesten Begebenheiten im zum Teil gemeinsamen Freundeskreis aus. Dabei kam auch das jüngste Gerücht über eine bevorstehende Trennung einer erst vor zwei Jahren mit großem Brimborium im Golfclub in Ratingen ge­feierten Hochzeit des Düsseldorfer Geldadels zur Sprache.

Verena übernahm die Rechnung. Gemeinsam verließen sie das Café und verabschiede­ten sich schließlich an der Ecke zur Hohen Straße, da Kirsten sich noch eine Karte für die Philharmonie im Ticket-Center besorgen wollte.

„Also dann bis Freitag in der Oper. Also sagen wir kurz nach sieben im Vorraum hinter dem Haupteingang. Sei pünktlich! Die Ouvertüre ist das Beste“, meinte Kirsten in An­spielung auf eine lang zurückliegende Geschichte.

Und prompt sprang Verena darauf an: „Dass du immer noch darauf herumreiten musst. Du weißt doch, dass mir das damals eine Lehre war.“

„Weiß ich, aber es klappt immer wieder, dich damit aufzuziehen.“

„Du bist gemein! Das zahl ich dir irgendwann heim“, konterte Verena, aber es war ihr anzumerken, dass sie das nicht ganz ernst meinte.

„Also Ciao, meine Süße, bis Freitag.“

„Ciao, schöne Woche“, sagte Verena und bog rechts ab in die Hohe Straße, während Kirsten nach links in Richtung Bahnhof ging.

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