Читать книгу Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens - Wolfram Lutterer - Страница 12
Vom Fließen (Heraklit)
ОглавлениеHeraklit (ca. 520–460 v. Chr.) ist ein weiterer der frühen, vorsokratischen griechischen Philosophen. Von ihm werden eine Reihe von auf den ersten Blick reichlich merkwürdig anmutender Sprüche überliefert.
Berühmt geworden ist seine Behauptung: »Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen.«8 Warum? Beim nächsten Mal ist der Fluss bereits ein anderer, es fließt anderes Wasser durch ein anderes Flussbett. Heraklit verdeutlicht damit, dass alles in Veränderung befindlich ist. Daraus aber, so könnten wir folgern, sind auch unsere Beobachtungen als zeitgebunden anzusehen und deshalb nicht als absolut zu setzen. Gelebt hat Heraklit in Ephesos, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen.
Heraklit belässt es jedoch nicht bei dieser bloßen und vielleicht sogar etwas banalen Beobachtung, dass sich unsere Umwelt in stetiger Veränderung befindet. Sein Argument geht einen wesentlichen Schritt weiter: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind, und wir sind nicht.« Für Heraklit ist somit das Werden, die Veränderung, eine ganz zentrale philosophische Frage.
Ein menschliches Sein im Sinne eines fixen inneren Zustands ist in dieser Perspektive eine Fiktion. Wir selbst befinden uns ebenfalls in stetiger Veränderung, sind uns niemals gleich. Es ist nicht nur der Fluss, der sich ständig verändert, wir selbst verändern uns ebenfalls.
Heinz von Foerster hat diese Aussage später übrigens nochmals weiter verdichtet: »Man kann nicht einmal einmal in denselben Fluss steigen.«9 Denn schon das Hineinsteigen selbst benötigt Zeit. Aber mehr noch, das Hineinsteigen verändert seinerseits sowohl den Fluss als auch uns selbst. So verändert sich die Temperatur unserer Haut im Kontakt mit dem Wasser, ebenso wie das Wasser rund um unsere Haut sich ein wenig erwärmt; vielleicht werden unsere Füße nass. Aber nicht zuletzt verändert sich unsere Perspektive von »außerhalb des Flusses« auf »im Fluss«, und es vergeht Zeit: Erfahrungszeit, Lebenszeit.
Doch mit Beobachtungen wie diesen wären wir bereits inmitten dessen, was später durch von Foerster als »Kybernetik zweiter Ordnung« bezeichnet wird, und somit in Diskussionen, die erst rund 2500 Jahre später erfolgen … und mittendrin im systemischen Denken.