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Missklänge (Friedrich Nietzsche)

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Dieser kurze Rundgang durch die Neuzeit endet mit Friedrich Nietzsche (1844–1900). Nach ihm beginnt – Zufall oder nicht – die Moderne. Geboren wurde Nietzsche etwa 70 Jahre nach Hegel, in Röcken in Sachsen-Anhalt. Er lehrte zunächst Philosophie in Basel, erkrankte dann aber psychisch schwer, litt unter Wahnvorstellungen und starb schließlich im Kreis seiner Familie in Weimar.

Eine der großen Ideen, die Nietzsche entwickelte, besteht in der »Umwertung aller Werte«. Gehört er damit ebenfalls zum Kreis der frühen Konstruktivisten? Auf den ersten Blick zumindest könnte man das meinen. Ein gewisser Differenzierungsschritt erscheint an dieser Stelle jedoch angebracht: Im Sinne einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ist natürlich jeder Mensch – und somit jeder Denker – ein Konstruktivist, indem er denkt, handelt und Weltwahrnehmungen aufbaut. Für Konstruktivisten jedweder Richtung stellen Theorien jeglicher Art notwendigerweise einen Akt der Konstruktion dar. Sie sind damit weder »gottgegeben« noch »wahr« (selbst wenn sie das in Anspruch nehmen sollten), noch stellen sie ein exaktes Abbild der Natur (oder wovon auch immer) dar.

Die Frage wäre somit etwas genauer zu formulieren: Beinhaltet Nietzsches Denken Merkmale einer konstruktivistischen Grundhaltung? Dann aber fällt die Antwort etwas schwerer. Bei Nietzsche finden sich nämlich durchaus Anfänge eines konstruktivistischen Weltverständnisses, insbesondere wenn er althergebrachte Weisen der Wirklichkeitskonstruktion infrage stellt. Allerdings: Letztendlich beharrt und verharrt er trotz wiederholt großer Geste in einem reichlich konventionell anmutenden Anspruch eines »Besserwissens«. Im leider ironiefreien O-Ton von Nietzsche lautet dies beispielsweise so: »Warum ich so weise bin«.47

Mit seiner Idee einer »Umwertung aller Werte« betreibt Nietzsche jedoch zunächst einmal ein durchaus vielversprechendes Unternehmen. Eine Reflexion auf Werte und Wertvorstellungen, das macht natürlich neugierig. Doch was meint er genauer? Nietzsche setzt hierbei interessanterweise bei einem ganz ähnlichen Punkt ein, den wir schon bei Hegel kennengelernt haben, nämlich erneut beim Verhältnis von Herrn und Knecht. Nur heißt dies bei Nietzsche dann – und das durchaus programmatisch: Herr und Sklave.

Die von ihm dabei formulierte Erkenntnis ist zunächst einmal die folgende: Der Gegensatz von »gut« und »schlecht« habe ursprünglich gar keine moralische Bedeutung gehabt, sondern sei vielmehr Ausdruck davon gewesen, dass sich die Mächtigen bzw. die »Höhergestellten« als die »Guten« bezeichneten, während sie all die »Niedrigen, Niedriggesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften« als »schlecht« bezeichneten.48 So weit, so gut. Gegen diese herabwürdigende Setzung der Stärkeren hätten laut Nietzsche in der Folge die Schwachen eine besondere Waffe entwickelt, und sie bestand in der Erfindung der Moral. Die »Sklaven« stellten sich mit derlei heimtückischen Vorstellungen wie »schlechtes Gewissen« und »Schuld« gegen die Macht der Stärkeren und unterminieren in dieser Weise deren auf Macht und durch Gewalt fundamentierten Herrschaftsanspruch. Die Schwachen strebten somit danach, den Begriff des »Guten« neu zu besetzen. Für Nietzsche haben sich die Starken jedoch darüber hinwegzusetzen. Anstelle der Dialektik – die für Nietzsche ein Ausdruck des Verfalls, der décadence, darstellt – geraten wir hier in einen unversöhnlichen Kampf zwischen Stark und Schwach. Es geht um Leben und Tod, und es sind die Stärkeren, die hier den Krieg erklären.

Was aber versteht Nietzsche selbst in diesem Zusammenhang als »gut«? Gut sei »alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht«49. Die Schwachen hingegen mögen zugrunde gehen. Nietzsche wünscht sich die »Züchtung« eines neuen Menschen, und er wünscht sich für diesen ausdrücklich nicht »Zufriedenheit«, sondern »Macht«; nicht »Friede«, sondern »Krieg«; nicht »Tugend, sondern »Tüchtigkeit«. Nietzsche: Prophet oder gar Wegbereiter des Nationalsozialismus? Eine vielerorts wiederholt kontrovers diskutierte Frage.

Das bundesdeutsche Strafrecht spiegelt im Übrigen bis heute die während des Nationalsozialismus initiierte und durch Nietzsches Denken durchaus mit inspirierte Unterscheidung von Mord und Totschlag aus dem Jahre 1941: Es ist der körperlich Starke, der bei vollzogenem Totschlag bis heute weniger streng bestraft wird als der Schwache, der »heimtückisch«50 »mordet«.

Aus heutiger Perspektive ist Nietzsche mit seinem ausgesprochenen Antisemitismus sowie seinen Wendungen von »Herren-Rasse« und von »Ariern«51 bis hin zu seiner Begeisterung von »blonden Raubtiere«52 häufig nur schwer lesbar. Interessant bleibt jedoch der zunächst aufklärerisch anmutende Impuls: Woher kommen eigentlich unsere Vorstellungen von Gut und Schlecht – wenigstens bis hin zu jener Kippbewegung, die im Konzept des »Übermenschen« endet? Nietzsches Denken könnte durchaus lehrreich dafür sein, dass vielversprechend erscheinende Anfänge nicht unbedingt zu einem guten Ende führen müssen.

Damit ergibt sich ein weiterer Missklang in unserer kleinen Ahnenreihe: Die Dekonstruktion von Wertideen, wie Nietzsche sie entwickelt, könnte zunächst einmal eine wertvolle Facette in der Reflexion unserer Wertvorstellungen darstellen. Sie führt bei ihm jedoch zu einer autokratischen Vorstellungswelt, fernab jeglicher konstruktivistisch-reflexiver Anteile. Letztlich singt er bloß ein Lob der Stärke und bejubelt die Unterwerfung der Schwächeren durch die Stärkeren im Sinne von »Raubvogel« und »Lamm«.53 In diesem Zusammenhang steht auch seine Vorstellung des sogenannten »Übermenschen«.

Ironischerweise war Nietzsche selbst, der später psychisch schwer erkrankte, nahezu zeit seines Lebens kränklich gewesen. Es war der Schwache, der vom Starken träumte. Nietzsche steht mit seiner Philosophie am relativen Anfang und somit stellvertretend für eine ganze Reihe von Irritationen, die in der Folgezeit ausgelöst wurden.

Aus einer systemischen Perspektive liest sich Nietzsches Philosophie schlussendlich als entschiedener Gegenentwurf hierzu: Es geht um den Einzelnen gegen die anderen, die »Schwachen«. Es geht um Selbsterhöhung, nicht um Interaktion. Kooperation und wechselseitige Hilfe sind allenfalls ein Zeichen der Schwäche, wenn nicht gar der Heimtücke. Entwickelt Nietzsche damit wenigstens Ansätze einer konstruktivistischen Philosophie? Wohl eher nicht.

Damit endet dieser kurze Weg durch die Neuzeit. Nur fünf Autoren standen stellvertretend für viele. Sie stehen allerdings paradigmatisch für relevante, sich teilweise befruchtende, teilweise sich widersprechende Strömungen unserer Geistesgeschichte. Wenn man so will, so setzt sich hier nur jener Streit fort, der bereits in der Antike anhob: Was ist Wahrheit? Gibt es überhaupt Wahrheit? Was ist Erkenntnis? Es zeigt sich aber auch, dass konstruktivistische und systemische Denkweisen so langsam an Fahrt aufnehmen. Die Neuzeit bereitet zudem den intellektuellen Boden für eine grundlegende Revision wissenschaftlichen Denkens, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt.

*Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 13 ff. Besonders anschaulich beschreibt Gregory Bateson diese Form des Kategorienfehlers. Solche Denk- oder Sprechweisen entsprächen derjenigen, »die Speisekarte anstelle der Mahlzeit zu essen« (Ökologie des Geistes, S. 363).

*Soweit Manfred Geier, Eine Revolution der Denkart, in: Pörksen: Schlüsselwerke des Konstruktivismus, S. 31. Geier referiert hierbei nicht nur ausführlich Kant als Konstruktivisten, sondern reflektiert insbesondere dessen Verhältnis zu Vico. (Man beachte im Übrigen die teils divergierende »Ahnenreihe« in Pörksens Schlüsselwerken.)

*Hierzu später ausführlicher bei Gregory Batesons Theorie der Kommunikation.

Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

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