Читать книгу Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens - Wolfram Lutterer - Страница 15
Die Summe der Teile (Aristoteles)
ОглавлениеDie antike Philosophengeschichte lässt sich aus unserer heutigen Perspektive auch als eine Abfolge von Lehrer-Schüler-Beziehungen lesen. In Platons Dialogen zählt Sokrates gleich eine ganze Reihe von Lehrerinnen und Lehrern auf, die ihn beeinflusst haben: Mit Aspasia und Diotima befinden sich in der damaligen feudalistischen und eigentlich noch prä-demokratischen Zeit sogar zwei Frauen darunter, der Bezug zu Xenophanes und Protagoras wurde bereits erwähnt. Platon wiederum steht in direkter »Schülerschaft« zu Sokrates, allerdings nicht als Einziger. Bis heute (wenn auch eher als Karikatur) bekannt ist beispielsweise Diogenes von Sinope (»Das ist der mit der Tonne«), Begründer der damals einflussreichen Schule der Kyniker.
Unter Platons Schülern wiederum sticht insbesondere Aristoteles (384–322 v. Chr.) hervor. Ihn als bloßen Platonschüler zu etikettieren würde allerdings deutlich zu kurz greifen, begründete Aristoteles doch mit seiner Unterscheidung theoretischen, praktischen und poetischen Wissens letztendlich das moderne Bild der Wissenschaften. Zudem ist ihm, wenn auch in etwas verklausulierter Form, eine wesentliche Erkenntnis zur Idee des Systems selbst zu verdanken.
Aristoteles erkundete im Zusammenhang mit Fragen der Metaphysik Fragen des Wesens: Was ist das Wesen eines Hauses, was das Wesen eines Menschen? Dieses Wesen wurde von ihm als eine ganz besondere Form der Ursache angesehen, also etwa, was einen Menschen zum Menschen macht. Hierzu aber brauchte es eine ganz andere Art und Weise der Erforschung, denn:
»Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, dass das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente.«21
Somit, im Kurzen: Das Ganze ist nicht die bloße Summe seiner Teile, sondern etwas anderes. So wie etwa die Silbe »eins« zwar aus vier Buchstaben besteht, aber inhaltlich rein gar nichts mit dieser »Vierheit« zu tun hat. Die von Aristototeles hier vermittelte Erkenntnis ist in der Folge häufig zu einem »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« kondensiert worden. Doch ebendieses »mehr« beinhaltet eine gewisse Unschärfe. Kommt da einfach noch etwas mit dazu? Es wäre sicherlich besser, stattdessen darauf hinzuweisen, dass das Ganze »etwas anderes« ist als die Summe seiner Teile (Metzger 1975, S. 6).22 In dieser Weise entkommt man zudem einem dümmlichen Reduktionismus, der aus dem »mehr« allenfalls wieder seine besondere Elemente zu extrahieren sucht.
Dieses von Aristoteles bereits erkannte Phänomen wird über 2000 Jahre später unter anderem als »Emergenz« bezeichnet – und es wird in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen als eine wesentliche Eigenschaft komplexer Phänomene erkannt werden. Aristoteles selbst ist im Übrigen sogar jenseits der Philosophie zu Bekanntheit gelangt; war er doch Lehrer des größten Erobereres, den die altgriechische Welt hervorgebracht hat: von Alexander dem Großen.