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3. Grundsatz der Bewertungsvorsicht (Vorsichtsprinzip im engeren Sinne)

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Das Konzept einer vorsichtigen Gewinnermittlung kommt in erster Linie in dem Nebeneinander von Realisations- und Imparitätsprinzip zum Ausdruck. Ergänzend zu diesen speziellen Unterformen des Vorsichtsprinzips ist der Grundsatz der Bewertungsvorsicht als allgemeine Fassung des Vorsichtsprinzips zu beachten (Vorsichtsprinzip ieS).

Der Grundsatz der Bewertungsvorsicht bezieht sich insbesondere auf die Behandlung unsicherer Sachverhalte. Er besagt, dass in den Fällen, in denen die für die Bilanzierung und Bewertung benötigten Informationen nicht vollständig vorliegen, der Bilanzierende bei der Aufstellung seines Jahresabschlusses eher von einer pessimistischen Grundeinstellung ausgehen soll. Aus einer Bandbreite subjektiver Alternativvorstellungen sind tendenziell eher die ungünstigeren Entwicklungen heranzuziehen. Dies bedeutet, dass Aktiva eher niedriger anzusetzen und Passiva eher höher zu bewerten sind.

Beispiel:

Kurz vor dem Abschlussstichtag wird über das Vermögen eines Kunden das Insolvenzverfahren eröffnet. Informationen über die zu erwartende Insolvenzquote sind noch nicht verfügbar. Da in der weit überwiegenden Zahl der Insolvenzen die Quote für nicht bevorrechtigte Gläubiger nahezu null beträgt, entspricht es dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht, die Forderung als uneinbringlich anzusehen und vollständig auszubuchen.

Der Grundsatz der Bewertungsvorsicht findet seine Grenze darin, dass kaum wahrscheinliche Extremsituationen nicht unterstellt werden dürfen. Eine derartige „Übervorsicht“ verstößt gegen den Grundsatz der Richtigkeit. Auch bei einer stärkeren Betonung der negativen Aspekte muss die intersubjektive Nachprüfbarkeit gewährleistet sein und eine bewusste („willkürliche“) Unterbewertung von Aktiva bzw Überbewertung von Passiva unterbleiben.

Beispiele:

Beim Betrieb eines Kernkraftwerks kann trotz aller Sicherheitsmaßnahmen eine unkontrollierte Kettenreaktion nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die Anhaltspunkte dafür, dass in nächster Zeit mit einem GAU zu rechnen ist, sind jedoch – hoffentlich – zu gering, um damit für die in diesem Fall entstehenden Schadensersatzverpflichtungen die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten zu begründen.

Für die Verpflichtung eines Herstellers zum Ausgleich der Schäden, die aus der Nutzung seiner Produkte entstehen, kann nur dann eine Rückstellung gebildet werden, wenn spezifiziert werden kann, in welchen Fällen mit einer Inanspruchnahme aus der Produkthaftung zu rechnen ist und welche Schäden voraussichtlich auszugleichen sind. Denkbare, aber nicht anhand von nachprüfbaren Argumenten zu konkretisierende Schäden dürfen nicht berücksichtigt werden.

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Die hinter dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht stehenden Überlegungen lassen sich anhand eines theoretischen Idealfalls verdeutlichen: Bei der Bestimmung der Rückstellungshöhe für ein bestimmtes Einzelrisiko (zB Schadensersatzverpflichtung), bei dem für die verschiedenen möglicherweise eintretenden Belastungen jeweils Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, ist ein Wert zwischen dem Erwartungswert und dem maximalen gerade noch, wenn auch mit minimaler Wahrscheinlichkeit, denkbaren Betrag zu wählen. Als angemessen gilt der Wert, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird. In Abhängigkeit von der subjektiven Einstellung der einzelnen Autoren werden in der Literatur Grenzwerte zwischen 80 und 95% genannt.[1] In den praktisch bedeutsamen Fällen kann aber regelmäßig keine Wahrscheinlichkeitsverteilung angegeben werden. Nach dem Grundsatz der Bewertungsvorsicht gilt ein Wert dann als angemessen, wenn – abgesehen vom Eintreten ungewöhnlicher Umstände – angenommen werden kann, dass keine höhere Belastung des Jahresergebnisses eintritt. In Verbindung mit dem Grundsatz der Richtigkeit erfordert der Grundsatz der Bewertungsvorsicht vom Bilanzierenden, dass er die von ihm getroffene Entscheidung plausibel begründet, dh er muss für die Höhe der entstandenen Wertminderungen bzw möglicherweise entstehenden Belastungen nachprüfbare Argumente nennen können. Der Bilanzierende muss alle wertbeeinflussenden Tatbestände in seine Betrachtung einbeziehen. Möglicherweise eingetretene Minderungen des Reinvermögens, für die keine nachprüfbaren Begründungen angegeben werden können, dürfen nicht berücksichtigt werden. Durch das Zusammenwirken des Vorsichtsprinzips mit dem Objektivierungsgedanken soll eine willkürliche Unterbewertung von Aktiva bzw eine nicht begründbare Überbewertung von Passiva vermieden werden.

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Das Nebeneinander des Grundsatzes der Bewertungsvorsicht sowie des Grundsatzes einer objektivierten Gewinnermittlung führt dazu, dass bei der Bewertung von mehreren gleichartigen Sachverhalten eine Annäherung an den Erwartungswert vorgenommen werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass eine Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt werden kann und dass ein statistischer Risikoausgleich möglich ist. Das typische Beispiel für eine Bewertung zum Erwartungswert bilden Pensionsrückstellungen für Versorgungszusagen.

Beim Grundsatz der Bewertungsvorsicht tritt also ein Zielkonflikt zwischen dem Grundsatz der Richtigkeit und dem Vorsichtsprinzip auf. Aufgrund des Grundsatzes der Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit sind für die steuerliche Gewinnermittlung an den Nachweis strengere Anforderungen zu stellen als in der Handelsbilanz. Der Objektivierungsgedanke führt im Vergleich zur Handelsbilanz zu einer stärkeren Betonung des Grundsatzes der Richtigkeit und damit gleichzeitig zu einem Zurückdrängen des Grundsatzes der Bewertungsvorsicht.

Besteuerung von Unternehmen II

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