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Dorpamarsch – Forever
ОглавлениеErinnern wir uns an Dorpamarsch, das kleine Dorf am „Arsch der Welt“, wie die Bewohner manchmal sagten. Inzwischen hatte die Kreisstadt Pamphusen es eingemeindet, doch den Dörflern war es gelungen, sich eine gewisse Eigenständigkeit zu bewahren. Sie hatten in den vergangenen Jahrzehnten ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, das nicht so leicht abzuschütteln war. Die Zeit war hier stehen geblieben, oder zumindest etwas langsamer verlaufen. Die große Welt veränderte sich schneller als die Denkweise der Dörfler.
Vielleicht lag das ja auch an dem Tante-Emma-Laden, der immer noch ein beliebter Treffpunkt zum Klönen und Tratschen war. Nach Rieke Rupps Tod, die den Laden von Emma Heldenreich geerbt hatte, waren die Buruti-Frauen Serena und Lakona eingesprungen, und die Anwälte der Kanzlei Reinicke & Reinicke ließen es dabei, denn die beiden Frauen hatten sich bewährt und wurden von den Dörflern anerkannt. Sie waren inzwischen Einwanderer der zweiten Generation und in Dorpamarsch geboren und aufgewachsen.
Trotzdem standen die Anwälte und Nachlassverwalter nun vor dem Problem, das Testament Raupes umzusetzen, also eine Stiftung einzurichten.
Der Juniorpartner Alexander Reinicke hatte die gute Idee, die Dorfgemeinschaft einzubinden, und lud die Dörfler zu einer „Stiftungsversammlung“ ein.
Das Interesse war erstaunlich groß, und fast alle erwachsenen Dörfler drängelten sich in der Rathaushalle. Die meisten fühlten sich mit Raupe oder sogar mit Emma Heldenreich verbunden. Die Ältesten hatten sie noch persönlich gekannt.
Als dann der Senior Maximilian Reinicke den Inhalt des Testaments bekanntgab, fühlten sich alle, als wären sie eine große Erbengemeinschaft. Doch so einfach war das nicht. Das Erbe war ja an die Stiftung gebunden und durfte nicht nur verteilt werden. Also baten die beiden Anwälte um Vorschläge.
Und die kamen reichlich!
Jeder wollte sich in irgendeiner Weise beteiligen. Die Stiftungsidee fiel auf sehr fruchtbaren Boden. Hatte Raupe das vorausgeahnt?
Maximilian bemühte sich, die Übersicht über die vielen Stimmenmeldungen zu behalten, und Alexander schrieb fleißig jeden Vorschlag auf.
Nach und nach schälte sich ein Grundgedanke heraus. Die Dorpamarscher hatten es satt, immer stärker von der Gemeinde Pamphusen, dem Land Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union regiert zu werden. Dass jetzt auch noch das Türkische Großreich immer stärker in die Weltregierung eingriff, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Dörfler wollten endlich wieder nach ihren eigenen Regeln leben. Letzten Ausschlag gab schließlich das geplante „Gesetz zur Besiedlungs- und Verkehrswegevereinheitlichung“, allgemein nur noch als „Vereinheitlichungsgesetz“ bezeichnet oder abgekürzt „VG“.
Dieses Gesetz hatte bereits in der Planungsphase viel Staub aufgewirbelt. Es regelte auf Bundesebene die Vereinheitlichung der Besiedlung zum Zwecke der Übersichtlichkeit. Alle vorhandenen Ortschaften sollten nach und nach abgerissen und durch einheitliche Besiedlungstypen ersetzt werden. Diese gab es in verschiedenen Größen vom Dorf bis zur Großstadt. Alle basierten auf einem rechteckigen Grundriss mit einheitlichen Häusern, die an rechtwinklig zueinander stehenden Straßen standen.
Die Vorteile lagen auf der Hand: Da jede Ortschaft absolut wie die andere aussehen würde und alle Anschriften nur nach numerischen Grundsätzen erfolgten, konnte sich jeder überall sofort zurechtfinden. Die Mittelachse eines jeden Ortes sollte eine breite Durchfahrtsstraße sein. Alle öffentlichen Einrichtungen, wie zum Beispiel Rathaus, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Schwimmbäder lagen an der gleichen Stelle und waren identisch eingerichtet. Das galt auch für die Wohnhäuser, welche stets voll möbliert ausgestattet waren. Das kam der Mobilität der Arbeiter zugute, denn bei einem Arbeitswechsel zu einem anderen Wohnort reichten ein paar Koffer für die allerpersönlichste Habe aus.
Eigentlich hatte Raupe mit seinem Rupp-Generator diese Entwicklung herbeigeführt, denn um den Sonnenstrom besser nutzen zu können, mussten alle Straßen durchgehend mit dem Rupp-Pflaster versehen sein. Das waren einheitliche Bauelemente, welche zu Straßen zusammengesteckt werden konnten. Sie dienten nicht nur der Energiegewinnung, sondern auch dem Energietransport. In Zukunft gab es keine Hochspannungsleitungen, keine Kraftwerke und noch nicht einmal Tankstellen. Jedes Auto, das auf der Straße fuhr, nahm die Energie aus dem Pflaster auf. Jedes Haus, jede Fabrik oder Industrieanlage bezog seine Energie allein über den Straßenbelag. Das führte zur Vereinheitlichung des gesamten Straßensystems. Alles andere hätte zu heillosem Durcheinander geführt.
Dazu kamen noch die immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen, wie Stürme bis zur Orkanstärke, Tornados, die regelmäßig ganze Ortschaften zerstörten, Hochwasser, Kälteperioden, wie man sie früher nur aus Sibirien kannte, und vieles mehr. Die traditionell gebauten Häuser hielten diesen Ausbrüchen nicht mehr stand und mussten erneuert werden. Da entschlossen sich die Politiker zu einer einheitlichen Bauweise fast unzerstörbarer Häuser mit enormer Energieeffizienz, welche in Serie auch billig produziert werden konnten.
In dieser Umbruchphase hatte Raupe nun mit seinem Testament die Idee von dem Tante-Emma-Laden ins Dorf getragen. Doch in der zukünftigen Ortsplanung war für ein solches Projekt kein Platz vorgesehen.
Es gab aber eine im Gesetz vorgesehene Ausnahme: ein Freiluftmuseum. Solche gab es schon seit dem letzten Jahrhundert überall. Meist waren es historische Häuser, alte Bauernhäuser, Scheunen und Ställe, die abgerissen und in einer Museumsanlage wieder aufgebaut wurden. Schließlich wollte man ja wissen, wie die Vorfahren gelebt hatten. Diese Freiluftmuseen waren ausdrücklich von der neuen Siedlungsform befreit. Es waren ja eigentlich auch keine Siedlungen, weil sie nicht bewohnt wurden.
Diese Idee griffen die Dorpamarscher zunächst vorsichtig auf.
„Wir können doch aus dem Tante-Emma-Laden ein Freiluftmuseum machen!“, schlug Bürgermeister Rochus Hilsenkamp vor.
„Warum nicht gleich das ganze Dorf?“, brüllte ein Bauer dazwischen.
Das war die Lösung! Alle Anwesenden stimmten begeistert zu.
Die Herren Maximilian und Alexander Reinicke gingen etwas nüchterner an diese Idee heran. Zunächst musste jeder Bürger, der in Dorpamarsch Grund und Boden, Immobilien oder sonstiges Eigentum besaß, dafür stimmen. Die Kanzlei verschickte Fragebögen an jeden einzelnen Einwohner. Zu ihrem großen Erstaunen, kamen alle mit positivem Entscheid wieder zurück. Es gab sogar weitere Bewerber außerhalb Dorpamarschs, welche sich um die Aufnahme in die Dorfgemeinschaft bemühten. Das waren insbesondere die Bauern der Umgebung. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit, die Ausdehnung eines solchen Museumsdorfes festzulegen.
Der Bürgermeister übernahm die Leitung einer Arbeitsgruppe, welche die Gesamtorganisation übernahm. Man einigte sich auf eine Fläche, welche nicht nur den Dorfkern, sondern auch die umliegenden Gehöfte mit allen Feldern umfasste. Davon betroffen war auch das „Gasthaus zur Drohne“ mit dem Flugzeug, das immer noch auf dem Feld stand, und die Scheune, in der Raupe seine ersten Experimente durchgeführt hatte. Dort sollte ein spezielles „Rupp-Museum“ eingerichtet werden.
Ein weiteres Problem war das Siedlungsverbot außerhalb geschlossener Siedlungsanlagen. Theoretisch durfte niemand dauerhaft in dem Museumsdorf wohnen. Die pfiffigen Dörfler fanden auch dafür eine Lösung. Sie stellten die Einwohner Dorpamarschs kurzerhand als Teil des Museums, sozusagen als Exponate dieser Ausstellung, dar.
Die Anwälte waren von der Kreativität der Dorfbewohner überrascht, bemühten sich aber, alle Ideen in kompliziertes Behördendeutsch zu übersetzen.
Als Letztes mussten das Museumsdorf und die Stiftung auch noch einen offiziellen Namen bekommen. Da taten sich die Dörfler etwas schwerer, denn auf den Namen „Dorpamarsch“ wollte keiner verzichten. Einige schlugen vor, das Museum „Dorp am Arsch“ zu nennen, doch die meisten Frauen waren dagegen. Das ging ihnen doch wirklich zu weit.
Die Anwälte machten darauf aufmerksam, dass Dorpamarsch im Falle der Umwandlung seine politische Eigenständigkeit als Ortsteil von Pamphusen verlieren würde. Man könnte es dann in keinem Ortsverzeichnis, keinem Telefonbuch oder Postleitzahlensystem mehr finden. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes von der Landkarte verschwunden. Das Museum würde nur noch als touristisch interessante Einrichtung, ähnlich einem Vergnügungspark oder einem alten Schloss auf der Karte auftauchen.
Das gab den Ausschlag, und man einigte sich auf den Namen „Dorpamarsch – Forever“. Das „Forever“ hatte man aus Trotz hinzugefügt. Sollte doch das Dorf länger Bestand haben als alle anderen Dörfer zusammen.
Die Stadtväter von Pamphusen (Es saßen natürlich auch einige Frauen im Stadtrat, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, sie „Stadtmütter“ zu nennen) waren auf den Antrag der Dorpamarscher bereits vorbereitet. Das Projekt hatte sich schon herumgesprochen. Sie stimmten mit großer Mehrheit zu. Ein Museumsdorf brachte für die Stadt eine Menge Vorteile, und außerdem wurden sie auf diese Weise die oft etwas aufmüpfigen Dorfbewohner los. Sie hatten dann keine Stimme mehr im Stadtrat.
Auch die Landessiedlungsbehörde und die Bundessiedlungsaufsichtsbehörde stimmten zu. Ein Museumsdorf konnte nicht schaden, zumal damit auch der Charakter des unter Denkmalschutz stehenden Weltkulturerbes „Tante-Emma-Laden“ integriert werden konnte.
Der Rest war dann nur noch eine Frage der Organisation.
Das Freiluftmuseum „Dorpamarsch – Forever“ unter der gleichnamigen Stiftung war geboren.