Читать книгу Dorpamarsch Forever - Wulf Köhn - Страница 7
Flying City
ОглавлениеDer Sturm baute sich genau so auf, wie die Meteorologen es vorausgesagt hatten. Gespannt beobachtete Jennifer das Geschehen aus ihrem geschützten Unterstand heraus. Orkanartige Böen peitschten in die Deutsche Bucht hinein und ließen das Wasser immer höher steigen. Das war leider keine Ausnahme mehr, sondern schon längst zur Regel geworden. Die traditionellen Küstenortschaften wurden jedes Mal routinemäßig evakuiert. Nur die größten Hafenstädte schützten sich mit gewaltigen Hochwassermauern und schlossen die Fluttore. Die Mittlere Hochwassermarke an der Nordsee war seit Beginn der Polkappenabschmelzung um mehr als zwei Meter gestiegen. Durch das damit verbundene Zurückweichen der Küstenlinie gingen enorme Landflächen verloren. Und ein Ende war nicht abzusehen. Die globale Klimaerwärmung hatte inzwischen eine Steigerung von 2,8°C erreicht, würde sich aber nach den neuesten Hochrechnungen bis zum Jahre 2100 auf 8° steigern. Das klang schön mollig, doch die klimatischen Begleitumstände würden katastrophal werden.
Gleichzeitig war die Weltbevölkerung bereits auf 9,7 Milliarden Menschen angestiegen, im Vergleich zu 6 Milliarden am Anfang des Jahrhunderts. Die Menschen drängelten sich auf immer weniger zur Verfügung stehender Siedlungsfläche auf den beiden Polkappen. Im Süden begann man die Antarktis zu besiedeln, im Norden reichte der fruchtbare Streifen in Europa bis zu den Alpen. Beiderseits des Äquators gab es nur ausgedörrte Trockenbereiche. Die Menschen aus diesen Ländern drängten nach Europa.
Europa nahm durch den Golfstrom eine Sonderstellung ein. Noch bewegte dieser sich als große Klimapumpe durch den Atlantik. Doch spätestens im nächsten Jahrhundert würde er versiegen. Was dann passierte, war kaum auszudenken.
Die meisten Klimamodelle rechneten mit einer globalen Eiszeit und mit dem Ende der Menschheit. Bis auf einen Rest vielleicht, dem es gelang, eine Nische zum Überleben zu finden.
Doch das war nicht Jennifers augenblickliches Problem. Sie begrüßte den verheerenden Orkan fast euphorisch, denn er konnte endlich den praktischen Beweis ihrer Berechnungen bringen.
Die Holländer hatten schon vor Jahren begonnen, schwimmende Städte auf riesigen Pontons anzulegen. Die Häuser stiegen mit den Gezeiten und waren keiner Überflutungsgefahr mehr ausgesetzt. Das hatte sich bewährt, zumal große Teile der Niederlande unterhalb des Meeresspiegelniveaus lagen.
Doch eine neue Gefahr drohte. Die Stürme in der Nordsee nahmen an Gewalt zu, und türmten bis zu 30 Meter hohe Wellen auf. Die Pontons wurden aus ihren Halterungen ausgehoben und förmlich zerfetzt. Viele der schwimmenden Siedlungen waren schon Wind und Wellen zum Opfer gefallen. Auf Dauer musste eine andere Lösung gefunden werden.
Daran arbeitete Jennifer.
Sie beobachtete die beiden Testanlagen aus sicherer Entfernung. Beide Pontons sahen äußerlich identisch aus. Der eine war nach holländischem Vorbild gebaut und dort unter dem Namen „Schwimmender Holländer“ bekannt. Jennifers Team hatte ihn „Meisje“ benannt, im Gegensatz zu „Jenny“. Das war der zweite Ponton nach den Plänen Jennifers. Wie würde er sich bewähren?
Der Sturm war als Jahrhundert-Sturm angekündigt worden. Doch was bedeutete das schon? Jeder Sturm übertraf den vorhergegangenen. Und der letzte war schon schlimm genug. Das Ausmaß der Zerstörungen war gewaltig gewesen.
Den jetzigen hatte man „Martha“ getauft. Welch ein Name: Martha, Martha, du entschwandest – und mit dir mein ganzes Glück! … oder auch mein Portmonee, sang der Volksmund. Mal sehen, was Martha diesmal alles verschwinden ließ.
Die Evakuierung hatte schon vor fünf Stunden begonnen. Die Bauern beobachteten die Aufbauarbeiten der Pontons mit Argwohn. Sie trauten der ganzen Angelegenheit nicht. Wer weiß, was passierte, wenn die Anlagen im Sturm zerfetzten. Aber man hatte versprochen, ihnen alle Schäden zu ersetzen. Sie trieben ihre Rinder auf höhergelegene Landflächen oder in die Ställe mit Fluttoren. Das war jedes Mal sehr aufwändig. Nur Bauer Krischan war diesmal schnell fertig und grinste verschmitzt. Ihn konnte so schnell nichts erschüttern.
Der Sturm rüttelte an den Gebäuden, die man auf den Plattformen befestigt hatte: ein Wohnhaus und ein Lagerschuppen, alles umgeben von einem kleinen Gärtchen mit Zaun. Es sollte alles so natürlich wie möglich aussehen.
Die aufgebauten Kameras erfassten jeweils eine Einheit. Die Filme konnte man später für einen Vergleich übereinander projizieren.
Meisje und Jenny stiegen mit der Flut immer höher. Meisje bewegte sich zwischen 30 Meter hohen Stahlpfählen, die man in den Schlick eingerammt hatte. Jenny war durch kürzere Pfähle gesichert, die jetzt kaum noch aus dem Wasser ragten. Einige Bauern, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollten, tippten sich an die Stirn. Wie sollte denn das halten?
Doch dann waren sie voll damit beschäftigt, sich selbst auf den Beinen zu halten. Der Sturm setzte mit erneuter Heftigkeit ein. Alles flüchtete sich hinter die Betonmauer. In diesem Moment hakte sich eine überhohe Welle – die Seeleute nennen so etwas „Kaventsmann“ – unter Meisje und riss sie samt einem der Pfähle aus dem Wasser. Die Plattform klappte nach oben, die Bauten zerfielen wie Kartenhäuser, und die ganze Anlage flog, sich mehrmals überschlagend, übers Land. Nach einem Kilometer schlug sie in die Krone des Binnendeichs ein und richtete dort schwere Verwüstungen an.
Ganz anders Jenny: Sie war von der Welle ebenfalls erfasst und nach oben gedrückt worden, doch sie dümpelte nur auf höherem Niveau ruhig vor sich hin. Sie flog, oder besser gesagt, sie schwebte, als würde es Sturm und Wellen gar nicht geben.
Plötzlich öffnete sich das Hallentor auf der Plattform. Jennifer hielt den Atem an. Was passierte jetzt? Zum Erstaunen aller Anwesenden quoll eine ganze Herde Kühe heraus und glotzte in die Gegend. Dahinter erschien der grinsende Bauer Krischan. Er hatte das Versprechen Jennifers, die Plattform wäre sicher, wörtlich genommen. Der sicherste Platz war auch der Beste für seine Milchkühe. Eindrucksvoller konnte man den Erfolg gar nicht beweisen.
Jennifers Team jubelte. Die Männer und Frauen fielen sich in die Arme. Das Experiment war geglückt! Jennifer nahm die Gratulationen entgegen. So mancher Kollege hatte an dem Erfolg gezweifelt, doch das war vorbei.
„Flying City“ würde sie die zukünftigen Siedlungen nennen, die überall entstehen könnten: im Wasser genauso wie auf dem Land. Das war die Siedlungsform der Zukunft.