Читать книгу Dorpamarsch Forever - Wulf Köhn - Страница 13
Die Post wird zugestellt
ОглавлениеAlles in Dorpamarsch war jetzt historisch. Man hatte die Zeit einfach angehalten, wo sie sich gerade befand. Das klang etwas merkwürdig, aber Dorpamarsch war schon vor der Umwandlung in ein Museum nicht gerade auf dem neuesten Stand. Die Kirche und das Gasthaus zum Roten Hahn sahen vor 150 Jahren schon genauso aus, ebenso wie der Tante-Emma-Laden, der seit 80 Jahren als Weltkulturerbe unter Denkmalschutz stand. Das Gewölbe unter dem Keller stammte aus dem Jahre 1885 und die Fundamente waren schon Jahrhunderte alt. Das Freiluftmuseum verkörperte also eine lange Geschichte.
Das galt natürlich auch für die Einwohner, welche weiterhin ihrer gewohnten Arbeit nachgingen, jetzt jedoch als Bestandteil des Museums. Der Bürgermeister Rochus Hilsenkamp war zwar nicht mehr Ortsbürgermeister in der Kommune Pamphusen, dafür aber Geschäftsführer des Museums. Für die Dörfler blieb er der Bürgermeister.
Der Gastwirt betrieb den Roten Hahn, die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr trafen sich noch immer dort, die Bauern bestellten ihre Felder mit Geräten aus den letzten zwei Jahrhunderten, der Förster wachte weiterhin über das Wohl der Wölfe, und der Gärtner pflegte weiterhin das Kriegerdenkmal von 1870/71.
Nur mit der Kirche gab es anfangs einige Probleme. Die beiden Pfarrer der evangelischen und katholischen Kirche saßen zwar immer noch gemeinsam am Stammtisch im Roten Hahn oder diskutierten bei einem Glas Rotwein über Gott und die Welt, doch die Kirchenverwaltungen konnten sich zunächst nicht damit abfinden, ihre Kirche an ein Museum abzugeben. Musste die Kirche dazu sogar entweiht werden? Dies ist immer notwendig, wenn die kirchliche Nutzung eines Kirchengebäudes beendet wird, etwa wegen Abriss oder Umnutzung. Sie ist somit das Gegenstück zur Kirchweihe.
War die Kirche im Museumsdorf eine Form der Umnutzung?
Keiner der Dörfler und schon gar nicht die Geistlichen wollten eine entweihte Kirche. Diese sollte weiterhin das religiöse Leben des Dorfes bestimmen. Da waren sich alle einig.
Schließlich fand man für die Stiftung eine Rechtsform, nach der die Kirche im Eigentum der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Landeskirche bleiben durfte. Sie wurde sozusagen eine Enklave innerhalb des Museums. Damit konnten alle leben.
Eine andere Sache war die Postzustellung. Die Deutsche Post war da fast bürokratischer als alle anderen Behörden. Die Ortschaft „Dorpamarsch“ gab es nicht mehr, also wurde sie auch aus dem postalischen Ortsverzeichnis herausgenommen.
Rechtlich gesehen gab es jetzt nur noch eine einzige Anschrift, und das war das „Museumsdorf Dorpamarsch – Forever“. Jeden Tag kam der Zusteller aus Pamphusen mit dem Postwagen vorgefahren und lieferte im Rathaus die Post für das ganze Dorf ab. Da standen dann die Postsäcke in der Postverteilerstelle und warteten auf Abholung, oder besser auf Verteilung. Das kam dem Museumsgedanken aber durchaus entgegen, denn zu einem alten Dorf gehörte auch ein „Briefträger“. Diese Berufsbezeichnung gab es im modernen Postsystem gar nicht mehr, denn es wurden ja nicht nur Briefe getragen, sondern auch sonst noch allerhand.
In Dorpamarsch übernahm diese Funktion der bisherige Zusteller Willi Weiland, der seinen schlecht bezahlten Job bei der Deutschen Post aufgab und Dorfbriefträger wurde. Er bekam eine ehrwürdige Uniform mit Schirmmütze, wie man sie vor hundert Jahren trug und ein Fahrrad mit einer großen ledernen Packtasche. Damit zog er täglich von Haus zu Haus und stand sich auch finanziell gar nicht so schlecht damit. Er hatte immer ein paar Minütchen Zeit für einen kleinen Plausch und gab die neuesten Nachrichten weiter. Natürlich unterlag er auch nicht dem Trinkgeldverbot der Deutschen Post, was diesen Posten durchaus lukrativ machte.
Eines Tages fand Willi Weiland auch ein Paket in der Post, das auffällig mit Aufklebern verziert war. Einige rote Weingläser klebten darauf und weitere Labels mit den Aufschriften „Attention – Fragile!“ und „Glass – Handle with care!“ Das Paket kam aus England und war bereits vor drei Wochen in London aufgegeben. Durch den Ausstieg Großbritanniens aus der EU gehörte es auch nicht mehr zum europäischen Postverbund. Das dauerte deshalb auch etwas länger.
Interessanter war aber der Adressat. Dort stand „Mrs Wilhelmine Heldenreich, Dorpamarsch im Deutschen Reich“. Es war schon erstaunlich, dass die vollautomatischen Postverteileranlagen „Dorpamarsch“ ausfindig gemacht hatten, obwohl es das Dorf gar nicht mehr gab. Dafür gab es aber das „Museumsdorf Dorpamarsch – Forever“. Hier war es jetzt gelandet – ordnungsgemäß zugestellt. Den Rest musste Willi erledigen.
Das war schon etwas schwieriger, denn Willi kannte jeden Bewohner des Dorfes, aber eine Wilhelmine Heldenreich gab es nicht. Er konnte sich lediglich an die drei Schwestern Emma, Berta und Dora Heldenreich erinnern, die im letzten Jahrhundert den Tante-Emma-Laden betrieben hatten, der nach Emma Heldenreich benannt worden war. Wer aber war Wilhelmine?
Der Dorfbriefträger fragte den Bürgermeister und dieser fand im Archiv die Unterlagen über die Familie Heldenreich. Vater der drei Schwestern war August Heldenreich, Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant, verstorben 1924, und die Mutter hieß Wilhelmine und war 1929 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Das war die einzige Wilhelmine Heldenreich, die jemals in Dorpamarsch gelebt hatte.
Doch wer schickte ihr 130 Jahre nach ihrem Tod ein Paket? Das konnte nur ein Irrtum sein, und Willi Weiland bereitete die Rücksendung mit dem Vermerk „Adressat unbekannt“ vor.
Das gefiel Rochus Hilsenkamp gar nicht.
„Wenn wir das Paket schon mal haben, will ich auch wissen, was dahintersteckt“, sagte er. „Schließlich ist es ja an das Museum zugestellt worden. Also werden wir uns auch darum kümmern!“
Mit „kümmern“ war natürlich das Öffnen gemeint, und gemeinsam packten die beiden das Paket vorsichtig aus. In der Styroporverpackung lag eine leere Sektflasche und ein Begleitbrief in englischer Sprache, den Rochus sofort durch einen Mitarbeiter übersetzen ließ.
Als Absender war Sir Matthew Olmenburg in London angegeben. Er schrieb:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die beiliegende Flaschenpost ist an Frau Wilhelmine Heldenreich in Dorpamarsch adressiert. Sie wurde 1912 in Zusammenhang mit dem Untergang der „Titanic“ aufgefunden und befand sich seitdem im Archiv der Royal Admirality, wo sie in Vergessenheit geraten ist.
Da die Empfängerin mit Sicherheit nicht mehr lebt, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie eventuelle Nachkommen ausfindig machen können, um denen die Flaschenpost zuzustellen. Ich wäre dankbar, wenn Sie mich über Ihre Bemühungen unterrichten könnten, und bin bereit, Ihnen die Unterlagen über meine Nachforschungen zur Verfügung zu stellen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Sir Matthew Olmenburg
Archivar Geheimarchiv der Royal Admirality i. R.
Daneben befand sich noch das Originalschreiben aus der Flaschenpost in dem Brief, sorgfältig eingeschweißt in einer durchsichtigen Schutzfolie, doch leider von ihm nicht lesbar, weil er in einer veralteten Schrift verfasst war. Es war offensichtlich eine Kinderhandschrift.
Rochus schickte eine digitale Kopie an einen Sachverständigen für alte Schriften und erhielt umgehend die Übersetzung. Fassungslos las er das Schreiben von Emma und Berta an ihre Mutter Wilhelmine Heldenreich. Das war eine Sensation! Eine Flaschenpost, die nach 140 Jahren zugestellt werden konnte.
Für das Museum war das wie ein Schatzfund. Hilsenkamp setzte sich sofort mit der Anwaltskanzlei in Verbindung, um die Eigentumsverhältnisse zu klären. Die Anwälte bestätigten ihm, dass die Stiftung Rechtsnachfolger des Erbes von Emma Heldenreich sei. Somit durfte das Museum die Flaschenpost auch behalten und vermarkten, was auch umgehend geschah.
Der Bürgermeister lud Sir Matthew Olmenburg nach Dorpamarsch ein, wo er die Flaschenpost noch einmal offiziell persönlich in Gegenwart der Presse übergeben konnte.