Читать книгу Dorpamarsch Forever - Wulf Köhn - Страница 8

Fritz

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Einen Tag später entdeckte Jennifer in der Schublade ihres Zeichentisches zwei seltsame olivenförmige Gebilde. Eines war undurchsichtig schwarz, das andere durchsichtig mit einem eingegossenen elektronischen Bauteil. Wie kamen diese denn dorthin?

Erstaunt nahm sie beide in die Hand, als sie eine Stimme hörte, die direkt aus ihrem Kopf zu kommen schien.

„Hallo Jennifer“, sagte die Stimme. „Nenn mich einfach Fritz! Ich habe eine Aufgabe für dich! Du musst die Welt retten!“

Jennifer schnappte nach Luft und setzte sich erst einmal hin. Das war doch Raupe! Seine Stimme kannte sie! Aber wo kam sie her? Sie schaute sich in ihrem Arbeitszimmer nach versteckten Lautsprechern oder Ähnlichem um, sah aber nichts. Nachdenklich betrachtete sie die beiden Oliven und ging dann hinüber zum alten Hansen, dem Chef der Hansen Werft.

„Chef, war Raupe hier?“, fragte sie sofort, nachdem sie, ohne anzuklopfen, in sein Büro gestürmt war.

Der Reeder erhob sich und reichte ihr die Hand. „Zunächst einmal meinen Glückwunsch zu Ihrem gelungenen Experiment. Das wird unsere Zukunft!“, betonte er. „Vielleicht nicht mehr meine, denn ich werde mich aus dem Geschäft zurückziehen, aber für Sie beginnt eine Zeit mit noch mehr Verantwortung. Ich werde Sie bei der nächsten Sitzung als meine Nachfolgerin und Geschäftsführerin vorstellen. Das hätte Raupe auch so gewollt.“

„Wieso ‚hätte‘“, fragte Jennifer zurück.

„Er lebt nicht mehr!“, gab Hansen traurig zu. „Sein Herz machte nicht mehr mit – gerade als Sie mit Ihrem Experiment beschäftigt waren. Ich wollte Sie dabei nicht unterbrechen. Aber er war wirklich noch hier und hat sich in Ihrem Arbeitszimmer umgesehen. Er hatte eine Menge Fragen über Ihre Projekte, die ich ihm auch nicht beantworten konnte. Ich muss zugeben, ich kann Ihnen nicht mehr folgen. Es wird Zeit, dass ich abtrete.“

Jennifer hörte gar nicht mehr richtig zu. Alles rauschte in ihrem Kopf. Wie war das nur möglich? Ihr Freund und Förderer Friedrich Rupp war tot? Aber sie hatte doch gerade noch seine Stimme gehört!

Wie in Trance ging sie in ihr Zimmer zurück und ließ Hansen kopfschüttelnd zurück. Von seinen Plänen bezüglich der Geschäftsführung hatte sie nichts verinnerlicht.

Sie zog erneut die Schublade ihres Zeichentisches auf und nahm die beiden Oliven heraus. Sie waren bestimmt dort von Raupe deponiert worden. Aber welchen Zweck hatten sie?

„Hallo Jennifer!“, hörte sie Raupes Stimme erneut.

„Wo bist du?“, fragte sie laut und schaute sich erneut um.

„Ich bin Fritz und stecke in der durchsichtigen Olive, aber in Wirklichkeit bin ich in dir.“

„In mir?“ Jennifer hörte in sich hinein. Es stimmte. Die Stimme klang wie Raupe, doch sie schien überall zu sein. „Wie soll ich das verstehen?“, fragte sie laut.

„Du musst nicht sprechen“, sagte Raupe, „es reicht, wenn du denkst. Wir sind ab sofort gedanklich miteinander verbunden. Das ist ganz praktisch, damit andere nicht denken, du führst Selbstgespräche.“

„Aber ich verstehe nicht …“, begann Jennifer erneut.

„Dann werde ich es dir erklären! Setz dich hin, wir werden etwas Zeit brauchen.“

Jenny wollte sich setzen. „Muss ich etwas vorbereiten oder bereithalten?“, fragte sie. Sie war es gewohnt, praktisch zu handeln.

„Mach’s dir gemütlich, hol dir ein Getränk … oder soll ich das für dich machen?“

„Ja gerne“, dachte Jenny. Sie war gespannt, wie er das machen wollte.

Interessiert sah sie, wie der Kaffeespender plötzlich aktiv wurde, einen Becher auslöste und begann, ihn zu füllen: Kaffee mit Milch, ohne Zucker.

„Bitte schön!“, sagte Raupe. „Pass auf, er ist heiß!“

„Na gut, du hast mich überzeugt, was du alles kannst. Aber jetzt will ich endlich wissen, was hier vorgeht. Ich höre an deiner Stimme, dass du Raupe bist, und ich nenn dich seit Jahren so. Warum soll ich dich jetzt ‚Fritz‘ nennen?“

„Weil du mich so programmiert hast“, antwortete Fritz … oder Raupe … oder Friedrich Rupp, genannt Raupe … Jennifer war ganz durcheinander.

„Ich hab dich doch nicht programmiert!“, widersprach sie.

„Nun lass mich doch mal in Ruhe erklären und unterbrich mich nicht immer!“, sagte Fritz.

Jennifer lehnte sich mit dem Kaffeebecher in der Hand in ihrem Sessel zurück und hörte geduldig zu.

„Lass mich erklären. Wir einigen uns darauf, dass ich Fritz bin. Was ich dir zu sagen habe, verstehe ich auch nicht so genau, denn du bist mir inzwischen weit voraus. Ob du es glaubst oder nicht, das was hier mit uns beiden geschieht, ist von dir selbst entworfen, konstruiert und auch hergestellt. Schau dir die beiden Module an, die du in der Hand hältst. Wir haben sie immer als ‚Oliven‘ bezeichnet. Beide hast du selbst gebaut. Ich wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Die durchsichtige stellt die Kommunikation zwischen uns her. Solange du sie bei dir trägst, können wir beide miteinander sprechen. Die undurchsichtige ist eine Zeitmaschine.“

„Eine Zeitmaschine?“, unterbrach Jennifer jetzt aber doch.

„Ja, ganz recht – eine Zeitmaschine, mit der du in die Vergangenheit reisen kannst. Aber vorsichtig: Das klappt nur in eine Richtung! Ohne Rückfahrkarte! Doch lass mich weitererklären. Wenn ich fertig bin, wirst du alles verstehen.

Du hast richtig erkannt, dass ich eigentlich Friedrich Rupp, der Erfinder des Rupp-Generators bin. Du hast mich ja bei der öffentlichen Vorstellung meines Erlkönigs im Bettkasten begleitet. Ich freue mich, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe, als ich beschloss, dir etwas auf die Sprünge zu helfen. Ich bin richtig stolz auf dich! Damals ahnte ich aber noch nicht, dass der Rupp-Generator eigentlich von dir erfunden wurde.“

Jenny wollte schon wieder protestieren, doch Fritz wehrte sofort ab: „Glaub mir, ich habe das nie richtig begriffen, aber ich will dir die Geschichte aus meiner Sicht erzählen. Wie du weißt, hat mir Frau Emma Heldenreich, die damals älteste Frau Deutschlands, nach ihrem Tode die Hälfte ihres nicht unerheblichen Vermögens vererbt, in Verbindung mit dem Tante-Emma-Laden in Dorpamarsch, wo ich bis zu meinem Tode lebte. Ich gehe mal davon aus, dass ich inzwischen verstorben bin. Die beiden Oliven sind mein Vermächtnis an dich. Niemand sonst weiß etwas davon.

Doch kehren wir zu meinem Leben zurück. Ich lebte mit meiner Frau Rieke recht zufrieden mit dem Tante-Emma-Laden, der allerdings hauptsächlich von ihr betrieben wurde. Ich pflegte dagegen meine technischen Interessen. Durch einen merkwürdigen Glücksumstand fand ich die fertigen Konstruktionspläne für ein neuartiges Motorrad, das dann bei der Firma Public Mobile Group gebaut wurde. Ich habe nie herausbekommen, wer die Maschine eigentlich konstruiert hat. Die Pläne waren einfach da. Ich habe mit meinem Beratervertrag eine Menge Geld verdient.

Dann passierte etwas Merkwürdiges: Rieke hatte eine Geistererscheinung in unserem Gewölbekeller. Ein alter Mann machte sie auf einen vergrabenen Schatz aufmerksam. Das schlug mächtig hohe Wellen, denn an der angegebenen Stelle fanden wir wirklich drei Goldstücke aus dem Eigentum der drei Heldenreich-Schwestern Emma, Berta und Dora. Sogar eine Urkunde des Kaisers war dabei, so dass die Goldstücke dem Erbe der Emma Heldenreich zugeordnet werden konnten. Sie befinden sich noch immer in dem Tante-Emma-Laden in Dorpamarsch, der ja inzwischen als Weltkulturerbe eingetragen ist.

Was die Öffentlichkeit aber nicht erfuhr: Ich konnte anschließend noch eine uralte Metallkassette bergen, in dem sich unter anderem die beiden Oliven befanden. Diese waren sozusagen aus der Vergangenheit zu mir geschickt worden, doch es waren Relikte aus der Zukunft, was in sich eigentlich ein Widerspruch ist. Die durchsichtige Olive stellte sich als gewaltiger Datenspeicher heraus, der unter anderem das Kommunikationsprogramm mit ‚Fritz‘ enthielt. Von da an stand er mir jederzeit mit Rat zur Verfügung. Aber er wusste nicht alles, zum Beispiel auch nicht, wer ihn erschaffen hatte. Das blieb mir Jahrzehntelang ein Rätsel.

In dem Datenspeicher befanden sich aber auch die Baupläne für einen sensationellen Generator, der die Energietechnik komplett auf den Kopf stellte. Er wurde nach mir – dem vermeintlichen Erfinder – Rupp-Generator genannt. Die weitere Entwicklung kennst du. Du warst ja von Anfang an dabei. Wenn auch zunächst nur im Bettkasten.

Für mich war es lange Zeit unklar, wer denn den Generator wirklich erfunden hatte. Ich war es jedenfalls nicht.

Da bekam ich heraus, dass der alte Mann, der meiner Rieke im Keller erschienen war, ein Zeitreisender war. Als ich das einmal akzeptiert hatte, war die Erklärung plötzlich ganz einfach. Der Alte kam aus meiner Zukunft und hatte die Technik in die Vergangenheit befördert, damit ich sie zur rechten Zeit finden konnte. Damit ich sie auch wirklich fand, machte er Rieke darauf aufmerksam. Die Frage blieb aber: Wer war der alte Mann?

Auch das bekam ich heraus. Der Alte war ein gewisser Friedrich Torfstecher, der sich als Jude zwei Jahre lang in Emmas Gewölbe versteckt gehalten hat, gemeinsam mit drei Familien. Aber wie kam er in die Zukunft? Er war ja zu diesem Zeitpunkt seit vielen Jahren tot.

Jedenfalls war er noch gerade rechtzeitig zur Rettung der Welt gekommen. Das sind heroische Worte, doch es stimmt. Die Menschheit begann, sich langsam aber sicher auszurotten. Durch unsachgemäßen Umgang mit den Ressourcen der Erde begann eine globale Klimaveränderung. Die Erwärmung der Erdatmosphäre nahm gewaltig zu, die Polkappen begannen abzuschmelzen … aber das kennst du ja. Du bist gerade dabei, mit deinem Projekt ‚Flying City‘ einen Teil der Probleme zu bewältigen.

Der Rupp-Generator kam gerade noch rechtzeitig. Mit ihm ist es seitdem möglich, fast alle benötigte Energie der Menschheit unmittelbar aus der Sonne zu schöpfen. Der Umwandlungsprozess ist allerdings noch im Gange. Hoffen wir, dass uns die Zeit nicht davonläuft. Die Sache hat nur einen einzigen Schönheitsfehler: Sie muss erst stattfinden!“

„Wie soll ich das verstehen?“, überlegte Jennifer. „Das ist doch alles schon passiert!“

„Leider nein!“, fuhr Fritz fort. „Ich habe nämlich noch etwas ganz Entscheidendes herausgefunden. Ich weiß inzwischen, wer dieser Torfstecher ist. Torfstecher und ich sind dieselbe Person. Der Zeitreisende bin ich selbst. Ich bin als alter Mann in die Vergangenheit gereist und habe dort die Weichen für die Zukunft gestellt. Als ich Rieke erschien, hat sie mich nicht erkannt, weil ich inzwischen gealtert war. Eigentlich war ich bei dieser Begegnung nur auf der Durchreise in die tiefere Vergangenheit. Ich musste allerhand in die Wege leiten auf dem Weg dorthin. Ich habe genaue Pläne gemacht, in welcher Reihenfolge etwas zu erledigen war. Dabei durfte ich mich nicht irren, denn es gibt nur eine Richtung: in die Vergangenheit. Eine Umkehr ist nicht möglich. … Und nun erkennst du auch den Schönheitsfehler, den ich bereits andeutete. Ich lebe nicht mehr! Ich bin verstorben, bevor es mir möglich war, in die Vergangenheit zu reisen, um den Rupp-Generator in die Zukunft zu schicken. Und ohne diese Erfindung ist die Menschheit verloren. Noch innerhalb dieses Jahrhunderts wird sie sich ausgerottet haben.“

Jennifer hatte das Gefühl, dass Fritz am Ende seiner Erzählung war und wagte einen Einwand: „Aber wir wissen doch, dass es den Generator gibt. Er hat doch schon seine heilsame Wirkung gezeigt, auch wenn wir noch nicht alles überwunden haben.“

„Das ist auch für mich ein Rätsel“, fuhr Fritz fort. „Als ich feststellte, dass mein Herz nicht mehr in der Lage sein würde, die vielen Jahre in der Vergangenheit zu verbringen, die erforderlich gewesen wären, bereitete ich mich auf meinen Tod vor. Vielleicht hat Riekes Tod auch alles etwas beschleunigt … jedenfalls hätte ich es nicht mehr geschafft. Ich wusste nicht … ich weiß es immer noch nicht, was passiert, wenn der Generator gar nicht erfunden wird. Vielleicht fällt dann das ganze Zeitgefüge auf eine frühere Ebene zurück. Wer kann das wissen?

Aber andererseits hatte ich ja meine Erinnerungen. Die konnten doch nicht fiktiv sein! Also ging ich davon aus, dass der Generator doch erfunden wurde – von wem auch immer! Und da kommst du ins Spiel: Für mich bist du der einzige Mensch, der in der Lage ist, die Lösung zu finden. Deshalb bitte ich dich: Jennifer, rette die Welt! Für mich ist es zu spät!“

Dorpamarsch Forever

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