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Jennifer
ОглавлениеJennifer Kristensen war wie vor den Kopf geschlagen. Das war nicht zu verstehen. Sie war jetzt 44 Jahre alt und kannte Friedrich Rupp, genannt Raupe, seit 25 Jahren. Damals war sie 19 und hatte sich im Auftrag von Colossus in Raupes Wohnwagen geschlichen, um seine Erfindung des Rupp-Generators auszuspionieren. Rupp hatte sie im Bettkasten entdeckt und über ihre Beweggründe ausgefragt. Als er erfuhr, dass Colossus sie mit einem Ausbildungsplatz geködert hatte, beschaffte er ihr eine Ausbildungsstelle bei Hansen in Form eines Dualen Studiums „Maschinenbau im Praxisverband“ an der Hochschule Osnabrück. Diese Chance hatte sie genutzt. Nach einem glänzenden Abschluss als Bachelor of Science übernahm Hansen sie als Ingenieurin für die Entwicklungsabteilung seiner Werft, wo sie sich in wenigen Jahren bis zur Abteilungsleiterin hocharbeitete. Sie verblüffte Hansen und ihre Kollegen mit immer wieder neuen Ideen und Erfindungen. Heute galt sie international als Koryphäe der Elektromaschinentechnik. Sie hatte von Anfang an die praktische Entwicklung des Rupp-Generators vorangetrieben. Manchmal hatte sie den Eindruck gehabt, als hätte sie inzwischen mehr Ahnung von dem Generator als sein Erfinder. Raupe hatte oft nur ausweichend geantwortet, wenn sie mit einer konkreten Frage kam.
Sie hatte keine Kinder und war nicht verheiratet. Ihr ganzes Denken und Handeln galt der Technik. Von gelegentlichen kleinen Abenteuern mit dem einen oder anderen Mann abgesehen, war Raupe der einzige, dem sie sich auf Dauer freundschaftlich verbunden fühlte. Doch er war eher wie ein Vater für sie.
Als ihr Chef, der Reeder Dr. Henning Hansen, in ihr Arbeitszimmer trat, saß Jennifer in ihrem Sessel und schaute mit leeren Augen vor sich hin. Erst als er sich räusperte, drehte sie den Kopf zu ihm und schaute ihn an, als wäre sie gerade aus tiefem Schlaf erwacht.
„Na, das war wohl eine bisschen viel in der letzten Zeit!“, sprach er sein Mitgefühl aus.
Jennifer hob entschlossen den Kopf. „Oh, nein!“, meinte sie. „Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“
„Ich möchte Ihnen noch mein Beileid aussprechen“, sagte Hansen. „Ich weiß, dass er Ihnen sehr viel bedeutet hat.“
„Was meinen Sie damit?“, wollte Jennifer wissen.
„Ich meine den Tod unseres Freundes Friedrich Rupp.“
„Für mich lebt er weiter!“, sagte sie gedankenverloren.
„Ja, so wird es wohl sein“, bestätigte Hansen. „Wir werden ihn alle nicht so schnell vergessen.“
Das nachfolgende Schweigen nutzte Hansen, um sich ebenfalls zu setzen und fragte dann: „Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht?“
„Was für einen Vorschlag?“, fragte Jenny zurück. Sie konnte sich an nichts erinnern.
„Ich möchte mich aus der Werftleitung zurückziehen und Sie als Geschäftsführerin einsetzen. Haben Sie das nicht verstanden?“
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Jennifer betrübt. „Der Tod Raupes hat mich so geschockt, dass ich alles andere nicht mehr gehört habe.“ Sie machte eine kleine Pause. „Haben Sie das wirklich vor?“, fragte sie ungläubig.
„Ich kenne niemanden, der geeigneter erscheint“, betonte Hansen.
Jennifer schien noch nicht überzeugt. „Das wäre eine große Ehre für mich – aber … Ich fürchte, ich komm dann nicht mehr zum Arbeiten!“
„Sie werden mehr als genug zu arbeiten haben! Sie werden sich wundern, was da alles an Verantwortung auf Sie zukommt.“
„Ich denke an meine ‚eigentliche‘ Arbeit“, gab Jennifer zu bedenken. „Ich möchte praktisch arbeiten, ich möchte erfinden, konstruieren, entwickeln. Am liebsten würde ich die ganze Welt retten!“, rutschte es ihr hinaus.
„Nun mal sachte, Mädchen“, lächelte Hansen. „Die Welt muss auch mal ohne dich auskommen. Vorerst brauche ich dich hier!“ Unversehens war er in das vertraulichere Du abgerutscht. Auch er fühlte sich als so etwas wie ein Vater.
Jennifer schwieg. Das Gespräch mit Fritz ging ihr nicht aus dem Kopf. Könnte sie alles gemeinsam schaffen? Mit der Werftleitung würde sie die Verantwortung für viele andere Menschen übernehmen müssen, deren Existenz und Lebensgrundlage mit der Werft verknüpft war. Sie fühlte sich plötzlich so klein und hilflos. Bisher hatte sie nur für die Technik gelebt. Sie hatte das Glück gehabt, ihre Interessen und ihren Job miteinander verbinden zu können. Ihr Beruf war ihr Hobby. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, etwas anderes zu machen. War das nicht über alle Maßen selbstsüchtig?
„Überlegen Sie sich das mal!“, fing Hansen wieder an und stand auf. Das Gespräch lief anders als erwartet. Er hatte mit mehr Begeisterung gerechnet, doch Jenny schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. „Aber lassen Sie sich nicht so lange Zeit!“, drängte er und verließ das Zimmer.
„Fritz, bist du da?“, dachte sie.
„Ich bin immer da!“, antwortete Fritz.
„Was soll ich nur tun?“
„Das musst du schon selbst entscheiden. Aber denke daran, was auf dem Spiel steht!“