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Dorpamarsch

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Auf den ersten Blick hatte sich Dorpamarsch seit Emmas Geburt vor 115 Jahren kaum verändert. Die Kirche stand immer noch inmitten des Dorfes, doch sie war inzwischen ein Beispiel ökumenischer Zweisam­keit geworden. In ihr waren sowohl die evangelische als auch die katho­lische Gemeinde untergebracht. Der evangelisch-lutherische Pastor Grummel und der katholische Pfarrer Sixtus verstanden sich prächtig, was besonders am Stammtisch deutlich wurde. Die Gottesdienste waren allerdings immer noch getrennt, außer zu Weihnachten. Da es nur die eine Kirche gab, hatten beide Gemeinden auch nur einen Küster. Er musste aber nicht mehr wöchentlich in den Turm klettern, um die Uhr aufzuziehen. Das geschah jetzt mittels eines Elektromotors, der den schweren Stein wieder nach oben zog, wenn er weit genug unten ange­kommen war. Zusätzlich kam eine Wartungsfirma, die einmal jährlich den Zustand überprüfte.

Das Gasthaus hieß immer noch „Zum Roten Hahn“ und war Treffpunkt der Freiwilligen Feuerwehr, allerdings wurden bei Ausbruch eines Feu­ers nicht mehr die Turmglocken geläutet, sondern die Signalempfänger der Feuerwehrmitglieder ausgelöst.

Eine Dorfschule gab es nicht mehr – die Grundschulklassen hatte man in die Kreisstadt Pamphusen verlegt. Die Kinder wurden mit dem Schulbus in die Stadt und zurückgekarrt, obwohl das genau genommen der normale Linienbus war, den man dafür eingesetzt hatte. So profitier­ten die Erwachsenen auch davon. Ohne diese Schultransporte wäre der Bus auch nicht gefahren, was zum Beispiel in den Schulferien geschah. Dann wurde der Betrieb „mangels Fahrgastaufkommen“ eingestellt.

Den Unterschied zwischen 1900 und heute sah man am besten an den Menschen. Während man sich vor hundert Jahren bei einer Begegnung auf der Straße noch begrüßte und zu einem kleinen Schwätzchen stehen blieb, rannte man heute mit einem Handy am Ohr und leerem Blick an­einander vorbei.

Auch im Roten Hahn machte sich das bemerkbar. Anfang des 20. Jahr­hunderts gab es noch die Polizeistunde um Mitternacht. Heute verzogen sich die Gäste freiwillig vor Beginn des Abendprogramms, um zu Hau­se auf den großformatigen Flachbildfernsehschirmen die von Werbung unterbrochenen Wiederholungen alter Sendungen zu sehen.

Die vielen Werbeunterbrechungen boten allerdings die Möglichkeit, den Getränkenachschub zu organisieren. Es bestand durchaus ein Nach­holbedarf nach dem Gasthofbesuch, weil dort der Alkoholkonsum aus Sorge um den Führerschein erheblich eingeschränkt war.

Eine Oase der Ruhe, in der die Zeit stehen geblieben schien, gab es aber doch. Das war der ehemalige Tante-Emma-Laden gegenüber dem Ro­ten Hahn, der seit den siebziger Jahren zum Weltkulturerbe gehörte. Seitdem war der jeweilige Besitzer verpflichtet, den Charakter eines „Tante-Emma-Ladens“ zu erhalten. Das hatten zunächst die drei Schwestern getan, danach – mehr oder weniger halbherzig – der neue Besitzer Arno Pototzki, der den Laden mit seinen Verpflichtungen ger­ne wieder losgeworden wäre. Inzwischen war das Geschäft in die Posu­ma-Märkte eingegliedert worden, allerdings weiterhin als Tante-Emma-Laden. Wie es die drei Heldenreich-Schwestern schon gehalten hatten, diente der Laden auch heute noch als gemütlicher Treffpunkt zum Klönen, oder „Tratschen“, wie die Männer gerne sagten, denn er wurde hauptsächlich von den Damen besucht. Die Männer gingen lie­ber in den Roten Hahn. Das Warensortiment war nicht zu vergleichen mit dem eines Supermarktes, aber man bekam alles, was man so an Kleinigkeiten benötigte. Das Wichtigste aber war die Kaffee-Ecke, wo es noch ganz normalen Kaffee gab, aufgebrüht in der Kanne aus selbst gemahlenen Kaffeebohnen, mit Kaffeesatz oder „Sumpf“, wie die Dörf­ler sagten. Auf Wunsch gab es auch noch einen Schuss „Pamphusener Goldperle“ hinein, doch das war eigentlich verboten. Dafür hatte der Laden keine Ausschankerlaubnis. Aber wen kümmerte es schon?

Zurzeit wurde der Tante-Emma-Laden von der Witwe Helma Schatten­bein mit ihrer noch unverheirateten Tochter Luise geführt. Das geschah im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit zum Erhalt des Weltkultur­erbes. Als Aufwandsentschädigung gestatteten ihnen die Eigentümer, die Wohnung hinter dem Laden kostenlos zu nutzen.

Für Pototzkis Nachkommen war das Haus nur noch ein Klotz am ge­schäftlichen Bein. Es brachte keinen Gewinn. Aber darauf baute der Vi­zedirektor der Nordelbischen Lotteriegesellschaft und designierter Geschäftsführer der Emma Heldenreich Stiftung auf.

Bevor Josef Pototzkis Sekretärin das Telefongespräch durchstellte, teil­te sie ihm mit, dass ein gewisser Herr Kömmel von der Nordelbischen Lotteriegesellschaft am Apparat sei.

„Würgen Sie ihn ab!“, antwortete Pototzki und legte wieder auf, weil er das für einen lästigen Werbeversuch der zahlreichen Lotterievermitt­lungen hielt. Aber gleich darauf stand seine Sekretärin in der Tür und meinte, der Herr ließe sich nicht abwimmeln, er hätte ein sehr persönli­ches interessantes Angebot.

„Dann werde ich Ihnen mal zeigen, wie man das macht!“, knurrte Po­totzki und nahm den Hörer wieder ab. „Das Gespräch ist hiermit been­det, und wagen Sie es nicht, mich noch einmal zu belästigen!“, schrie er in den Hörer. Doch bevor er wieder auflegte, hörte er gerade noch den Einwand des Anrufers: „Es geht nicht um die Lotterie! Ich möchte den Laden kaufen!“

Pototzki wurde hellhörig. „Was für einen Laden?“, fragte er verblüfft.

Endlich kam Kömmel zu Wort. „Ich bin an dem Tante-Emma-Laden in Dorpamarsch interessiert und habe gehört, er steht zum Verkauf.“

Das stimmte zwar nicht, dachte Pototzki, wollte jetzt aber mehr wissen. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er.

„Gerüchte, Gerüchte“, antwortete Kömmel ausweichend. „Ich wollte einfach mal hören, ob das stimmt“.

„Nein, das ist Unsinn“, erwiderte Pototzki, überlegte aber gleichzeitig, ob das eine Gelegenheit wäre, das ganze unter Denkmalschutz stehende Haus mit dem Weltkulturerbe-Laden wieder loszuwerden. Notfalls hät­te er ihn sogar verschenkt, wenn er jemanden gefunden hätte, der in alle Auflagen und Verpflichtungen eingetreten wäre.

„Wozu wollen Sie denn den Laden haben?“, fragte er vorsichtig.

„Das kann ich Ihnen noch nicht sagen“, teilte Kömmel mit. „Ich bin nur befugt, für einen Kaufinteressenten erste Gespräche zu führen. Wenn der Laden aber nicht zum Verkauf steht, können wir das Gespräch jetzt wirklich wieder abbrechen“.

„Nein, nein, nicht so schnell!“, warf Pototzki schnell ein. „Die Frage kommt nur etwas überraschend. Wissen Sie, der Laden ist sozusagen ein Erbstück, das unserer Familie sehr viel bedeutet …“, jetzt nur nichts falsch machen, dachte er.

„Wie wäre es denn, wenn ich Sie mal aufsuche“, schlug Kömmel vor. Dann können wir uns in Ruhe besprechen, und Sie haben Zeit, sich das grundsätzlich einmal zu überlegen“.

Damit war Pototzki einverstanden, und man verabredete sich für den nächsten Donnerstag.

Bei diesem Treffen redete Kömmel erst gar nicht um den heißen Brei herum. Er fühlte sich ohnehin in der stärkeren Position, denn es war kein Geheimnis, dass Pototzkis Erben, die Geschwister Josef und Anka, die lästige Immobilie loswerden wollten. Kömmel teilte sein Interesse mit, den Laden samt Haus und allen Verpflichtungen für eine Stiftung zum Erhalt des Tante-Emma-Ladens zu erwerben. Das stimmte in der Form natürlich nicht, denn die Emma Heldenreich Stiftung hatte einen ganz anderen Zweck. Aber das war ohne Belang, da es sich zunächst nur um ein Vorgespräch handelte und die Nordelbische Lotteriegesellschaft die volle Bürgschaft übernehmen würde.

„Das klingt interessant“, überlegte Josef Pototzki.

„Vorausgesetzt, der Preis stimmt“, bremste Kömmel übertriebene Er­wartungen. „Was haben Sie sich denn vorgestellt?“

Als Josef einen Preis nannte, klappte Kömmel demonstrativ seinen Ak­tenkoffer zu und erhob sich zum Gehen. „Das ist doch nicht Ihr Ernst!?“

„Warten Sie doch ab!“, beschwichtigte Pototzki. „Wir können uns doch sicherlich einigen!“

Die „Einigung“ dauerte fast eine ganze Stunde und trieb Pototzki fast Tränen in die Augen, aber dann hatte man sich auf einen Preis geeinigt, der weit unter dem Verkehrswert lag. Und doch hatten beide anschlie­ßend das Gefühl, den anderen über den Tisch gezogen zu haben. Man legte die Eckpunkte in einem Vorvertrag nieder und verabschiedete sich in bestem Einvernehmen.

„Ich habe den idealen Tante-Emma-Laden“, meldete sich Kömmel an Bord zurück. Rasputin staunte, vor allem, nachdem er den Preis erfuhr. Das war ja weit weniger als gedacht.

Der Rest war nur noch Formsache. Kömmel war in seinem Element. Das Grundstück mit beiden Gebäuden, das ehemalige Heldenreich-Haus mit Laden und das Hibbel-Haus, wurden mit allen Verpflichtun­gen des Denkmalschutzes und als Weltkulturerbe übertragen. Witwe Schattenbein und Tochter durften in das Hibbel-Haus umziehen und weiterhin ehrenamtlich im Tante-Emma-Laden tätig sein. Für sie änder­te sich wenig, doch Friedrich Rupp und seine Frau Rieke bekamen end­lich ihren Tante-Emma-Laden, wie es sich Raupe einmal gewünscht hatte.

Beide ahnten nicht, dass Kömmel, dem sie unendlich dankbar waren, bereits die ersten Vorbereitungen traf, ihnen die Beine wegzuhauen.

Neues aus Dorpamarsch

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