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Ein Erbe mit Folgen
ОглавлениеFriedrich Rupp war noch immer Schiffsingenieur auf dem Senioren-Kreuzfahrtschiff. An Bord wurde er nur „Raupe“ gerufen, aber das war nichts anderes als die hochdeutsche Bezeichnung „Raupe“ für den plattdeutschen Namen „Rupp“. Aus Rupp wurde Raupe, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn „Friedrich Raupe“ zu nennen. Deshalb wussten viele aus der Mannschaft auch gar nicht, wie er wirklich hieß.
Vor einigen Jahren, als Emma Heldenreich noch auf dem Schiff lebte, hatte der Reeder Dr. Henning Hansen auf ihren Wunsch auf dem Schiff einen Tante-Emma-Laden einrichten lassen, sozusagen als Treffpunkt der Seniorinnen zum Klönen und Kaffeetrinken. Der Verkauf von Kleinzeug aller Art war eher als Ambiente gedacht. Der Profit spielte eine untergeordnete Rolle. Im Grunde war der ganze Laden nur ein Geschenk an Emma. Damals hatte Rupp so leichthin gesagt, einen solchen Laden wünsche er sich auch, um ihn mit seiner Rieke zu betreiben. Dann wäre er immer mit ihr zusammen, statt nur in den kurzen Phasen seines Landurlaubs. Manchmal war er wochenlang auf See. Andererseits fühlte er sich wohl in seinem Beruf und auf dem Schiff. Er war nun einmal Seemann aus vollem Herzen.
Und nun hatte Emma in ihrem Testament seinen unbedacht ausgesprochen Wunsch erfüllt: Dr. Rasputin als Nachlassverwalter hatte ihm einen Tante-Emma-Laden verschafft. Und was für einen! Nicht nur irgend so ein Geschäft an Land, nein, sogar den echten ursprünglichen Tante-Emma-Laden, sozusagen die Urmutter aller Tante-Emma-Läden in Dorpamarsch. Was für eine Ehre!
Er zögerte aber, seinen Job an Bord sofort aufzugeben und nahm zunächst einmal unbefristet Landurlaub, um Rieke bei ihrem Start zu helfen. Sie hatte nämlich durchaus keine Ahnung davon, wie man einen Laden betreibt. Sie war von dem Testament ebenso überrascht worden wie ihr Mann. Genau genommen hatten beide keine Lust auf den Tante-Emma-Laden. Was sollten sie aber tun?
Das Testament war eindeutig: Die Hälfte des Vermögens – und das war nicht gerade wenig – ging an Friedrich und Rieke Rupp zum Erwerb und Betrieb eines Tante-Emma-Ladens. Mit anderen Worten: kein Laden, kein Geld!
Es wäre wirklich dumm gewesen, darauf zu verzichten. Also stürzte sich Raupe in die Arbeit und machte das Beste draus.
Schon bei der Überschreibung der Immobilie gab es aber die ersten Schwierigkeiten. Das Haus stand unter Denkmalschutz und durfte nicht wesentlich verändert werden. Das war kein Problem. Der Laden jedoch musste als Weltkulturerbe erhalten bleiben.
Die Grundbucheintragungen mit den entsprechenden Vermerken waren bereits erfolgt und der Notar leitete die Kaufunterlagen automatisch an die zuständigen Behörden weiter.
Die beiden Damen, welche den Laden zuletzt ehrenamtlich geführt hatten, waren Gold wert. Sie hatten – im Gegensatz zu Rieke – den vollen Überblick. Ohne die beiden wäre Rieke recht hilflos gewesen.
Bei dem folgenden Besuch eines vermeintlichen Kunden hätten sie allerdings auch nicht weiterhelfen können. Als Rieke gerade ein paar Kartons mit Ware auspackte, betrat ein unscheinbar aussehender Mann mit auffälliger Hornbrille den Laden und schaute sich um. Rieke ließ ihn zunächst in Ruhe. Man wusste nie, ob ein Kunde etwas kaufen oder nur den Laden ansehen wollte. Schließlich war er ja als Weltkulturerbe eingetragen. Das brachte auch so manchen Käufer von außerhalb in den Laden. Rieke war in der ersten Zeit von den Dörflern mit etwas Misstrauen angesehen worden. Schließlich war sie ja eine „Zugereiste“ ohne Wurzeln in Dorpamarsch. Doch nachdem die Dorffrauen gemerkt hatten, dass ihnen ihr geliebter Tante-Emma-Laden auch weiterhin erhalten blieb, akzeptierten sie auch Rieke. Raupe machte sich auch schnell bei den Männern beliebt, denn, obwohl er nicht Mitglied in der Freiwilligen Feuerwehr wurde, stand er gern mit seinen technischen Kenntnissen beratend oder praktisch zur Verfügung. Der Rest wurde ab und zu durch ein Bier im Roten Hahn gefestigt. So waren Raupe und Rieke inzwischen in die Dorfgemeinschaft integriert und kannten die meisten Bewohner persönlich. Dorpamarsch war immer noch sehr übersichtlich.
Doch der Mann mit der Hornbrille war nicht von hier. Das sah Rieke sofort. Er bereitete ihr etwas Unbehagen. Die Hornbrille war so dominierend, dass es aussah, als wäre der ganze Mann nur Beiwerk zu der Brille. Er schaute sich aufmerksam in dem Laden um.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, sprach Rieke ihn schließlich an.
„Darf ich mich hinsetzen und einen Kaffee trinken?“, fragte die Hornbrille und zeigte auf die Sitzecke.
„Selbstverständlich! Ich brühe einen frisch auf“, erwiderte Rieke und wollte sich hinter die Theke zurückziehen.
„Nein danke! Nicht nötig!“, dankte der Mann, nahm eine Thermoskanne aus seiner Aktentasche und stellte sie auf den Tisch. Rieke sah sprachlos, wie der Mann bedächtig den Becher abschraubte, den Verschluss aufdrehte und sich heißen Kaffee eingoss. „Ich nehme grundsätzlich keine Geschenke an! Auch keine Getränke!“, betonte er mit erhobenem Zeigefinger.
„Wieso Geschenke?“, fragte Rieke irritiert. „Bei uns zahlen die Gäste gewöhnlich.“
„Mein Spesenkonto ist sehr dürftig. Da habe ich mir angewöhnt, meinen Kaffee selber mitzubringen.“
Rieke wollte sich nicht mit ihm anlegen, und die Witwe Schattenbein tippte sich an den Kopf. Der schien verrückt zu sein.
Skeptisch schauten die beiden zu, wie der Brillenträger einen Aktenordner aus der Tasche holte und auf den Tisch legte. Er zog einige Fotos heraus und verglich sie offensichtlich mit der Einrichtung. Helma Schattenbein schlich sich unauffällig heran und schaute ihm über die Schultern. „Es sind alles Fotos von unserem Laden“, flüsterte sie Rieke zu. Dieser platzte jetzt endgültig der Kragen.
„Darf man fragen, was Sie da machen?“, wollte sie wissen.
„Oh, Verzeihung! Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich ziehe es vor, mir erst einmal einen eigenem Eindruck zu verschaffen, bevor …“
„Bevor was?“, unterbrach Rieke ihn.
„Bevor ich zur Prüfung übergehe“, setzte der Mann unbeirrt fort. „Mein Name ist Hornglas. Das ist leicht zu merken!“, fügte er hinzu und tippte an seine Brille. „Ich vertrete das Landesamt für Denkmalschutz, genauer gesagt überprüfe ich den Zustand der Objekte, die als Weltkulturerbe bei der UNESCO eingetragen sind.“ Er überreichte Rieke seine Visitenkarte.
Diplomverwaltungswirt Amtsoberinspektor Roland Hornglas, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalschutz, stand dort.
Hornglas blätterte in seinen Unterlagen. „Nach der Eintragung im Grundbuch ist das Objekt an Herrn Friedrich und Frau Rieke Rupp übertragen worden. Deshalb ist es erforderlich, eine erneute Bestandsaufnahme vorzunehmen.“
„Das bin ich“, bestätigte Rieke. „Ich bin Rieke Rupp. Mein Mann ist gerade auf dem Schiff.“
Der Amtsoberinspektor nickte. „Dann sind Sie also meine Ansprechperson“, meinte er mit einem Blick auf Helma Schattenbein, die mit gespitzten Ohren hinter der Theke stand.
„Frau Schattenbein hat den Laden bisher ehrenamtlich geführt und wird es auch weiterhin tun“, erklärte Rieke. Die Witwe gab sich keine Mühe mehr, unauffällig dreinzuschauen.
„Ja“, nahm Hornglas zur Kenntnis, „aber Sie sind verantwortlich!“
Rieke bestätigte. Ihr wurde langsam unheimlich. Was kam da auf sie zu? Sie wünschte sich jetzt sehnlichst ihren Mann herbei.
Der Mann nahm wieder die Fotos zur Hand und zeigte sie Rieke. „Wie man erkennen kann, ist die gesamte Einrichtung gegen eine modernere Version ausgetauscht worden. Das gilt übrigens auch für das Ladenschild über der Tür. Damit wurde der Charakter des Objekts wesentlich verändert. Das ist nicht gestattet.“
„Und das bedeutet?“, fragte Rieke beklommen.
„Dass der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden muss. Gemäß Kaufvertrag haben Sie sich bereit erklärt, alle Verpflichtungen zum Erhalt des Weltkulturerbes zu erfüllen.“
„Und wenn ich das nicht kann?“
„Schlimmstenfalls wird der Status des Weltkulturerbes wieder aberkannt. Doch das wird teuer. Sie müssten die ganzen Verfahrenskosten, die Kosten für die Löschung weltweit und so weiter und so weiter tragen. Das würde ich nicht empfehlen.“
„Wie sollen wir das denn machen?“, lamentierte Rieke. „Ich weiß ja noch nicht einmal, was aus der Einrichtung geworden ist.“
„Die wurde vor ein paar Jahren auf das Schiff gebracht“, mischte sich jetzt Schattenbein ein. Mehr wusste sie aber auch nicht.
Rieke bekam eine Frist von drei Monaten, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Hornglas packte seine Thermoskanne und die Akten wieder ein und bedankte sich. Wofür eigentlich, fragte sich Rieke, er hatte doch gar keine „Geschenke“ bekommen – noch nicht einmal einen Kaffee.
Die Einrichtung befand sich tatsächlich seit einigen Jahren an Bord des Seniorenschiffes, wo der Reeder einen ganz persönlichen Tante-Emma-Laden mit der kompletten Originaleinrichtung aus Dorpamarsch für Emma eingerichtet hatte. Dass man dadurch gegen die Bestimmungen zum Erhalt des Weltkulturerbes verstoßen hatte, war niemandem bewusst geworden.
Emma war bis zu ihrem Tode im Alter von 114 Jahren auch die Seele des Ladens an Bord gewesen. Mit ihrem Ableben verlor er aber seine Bedeutung. Jetzt wurde die Einrichtung in Dorpamarsch benötigt. Also beschlossen Reeder und Kapitän, den Bordladen aufzulösen und die Einrichtung wieder nach Dorpamarsch zu schaffen. All das organisierte Raupe, und alle waren damit zufrieden.
Rasputin hatte ihn gewähren lassen. Da er noch keinen Geschäftsführer hatte, war er froh, dass Raupe ihm das alles abnahm. Raupe war ohnehin ein Universalpraktiker. Trotz seiner Bescheidenheit war er zu allem bereit, und vor allem – er konnte auch alles. Rasputin hatte vollstes Vertrauen zu ihm. Eigentlich, dachte er sich, wäre Raupe auch der ideale Geschäftsführer, denn seit dem Verschwinden Kömmels brauchte er jemanden, dem er auch vertrauen konnte.
Raupe zögerte auch nicht lange und nahm das Angebot an.
Einen großen Teil seiner Arbeit leistete Raupe an Bord im Büro des Geschäftsführers, es gab aber auch Dinge an Land zu erledigen. Dazu hatte ihm die Reederei ein Büro in Bremen zur Verfügung gestellt. Wenn er dann noch die Heimfahrten nach Dorpamarsch dazurechnete, war er viel unterwegs. Er benötigte dringend einen fahrbaren Untersatz.
Sein Vorgänger Kömmel war noch immer spurlos verschwunden. Raupe räumte seinen Schreibtisch leer und bewahrte Kömmels persönliche Unterlagen in einem Karton auf.
Einige Wochen später bemerkte Rupp einen großen Umschlag in einem der Schubladen. Wie kam der dort hin? Raupe war sich sicher, alles ausgeräumt zu haben.
Er öffnete den Umschlag. Zahlreiche Pläne kamen zum Vorschein, die Rupp zunächst nicht zuordnen konnte. Je länger er sich aber damit beschäftigte, desto rätselhafter wurde das Ganze. Was hatte Kömmel – und nur von diesem konnte das stammen – da aufgetan?
Nach einer Nacht voller Arbeit wurde Raupe bewusst, was er hier in der Hand hielt.