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2016 - Das Attentat

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Den ersten Schritt hatte er geschafft. Er war Geschäftsführer der Stif­tung und Rasputin völlig arglos. An einem der nächsten Tage benutzte Kömmel die Abwesenheit Rasputins, um dessen Büro zu durchsuchen. Vielleicht fand er belastendes Material. Schließlich war der Doktor Em­mas Vertrauter und Berater gewesen. Im Büro waren sämtliche Behält­nisse unverschlossen. Rasputin hatte keinerlei Argwohn ihm gegenüber.

In einem Wandschrank fand Kömmel einen abgeschabten Karton. Mög­lich, dass es einmal ein Schuhkarton gewesen war. Die waren meist sehr ergiebig, weil viele Menschen dort Krimskrams aller Art aufbewahrten, den sie nicht wegwerfen wollten.

Außer einigen Fotos und einer Vielzahl alter privater Rechnungen und Kaufbelege gab der Karton aber nicht viel her. Die Fotos waren aller­dings recht interessant, weil sie Emma und ihre Schwestern zu verschie­denen Gelegenheit zeigten. Meist gemeinsam, später nur noch zu zweit, dann Emma ganz alleine. Das war ganz logisch, denn schließlich hatte sie Berta und Dora um Jahre überlebt.

Doch dann fiel Kömmel etwas auf: Die Jüngste von allen – Dora – hatte immer einen etwas spöttischen Gesichtsausdruck. Ansonsten sahen alle fast gleich aus. Er verglich die Fotos mit den Jahreszahlen. Die drei Schwestern ähnelten sich desto mehr, je älter sie wurden. Die Ähnlich­keit war frappierend. Nur das spöttische Lächeln Doras brannte sich im­mer stärker in ihr Gesicht ein.

Dann gab es ein Foto, auf dem nur zwei Schwestern zu sehen waren: nach der Aufschrift „Emma und Berta zum 91. Geburtstag 1991“.

Wo aber war Dora? Sie war doch sicherlich auch auf der Feier.

Was jedoch noch merkwürdiger war: Auf diesem Foto zeigte Berta das merkwürdige Lächeln. Das schien aber Dora gewesen zu sein. Die Be­schriftung auf der Rückseite entsprach nicht den abgebildeten Personen.

Kömmel begann, innerlich zu triumphieren. Das passte genau zu seiner Theorie. Emma lebte zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr und hätte gar keine Rente mehr beziehen können. Die weiteren Fotos bestätigten sei­ne Vermutung. Zum Schluss war nur noch Dora abgebildet. Sie hatte die Lotteriegesellschaft hereingelegt und um Millionen betrogen. Aber wie sollte er das beweisen? Dora galt seit 2000 als verschollen. Wenn sie jedoch bis zu 2014 unter der Identität Emmas weitergelebt hatte, welche der Schwestern war dann verschwunden, und wo war ihr Leich­nam abgeblieben?

An einem der letzten Fotos, das angeblich Emma kurz vor ihrem Tode zeigte, war mit einer Büroklammer eine Rechnung aus der Schweiz ab­gebildet – für ein Holzkreuz mit der Aufschrift „Dora Heldenreich – 1900“. Das wurde immer seltsamer. 1900 war das Geburtsjahr Emma Heldenreichs. Dora Heldenreich kam erst 1914 auf die Welt. Kömmel steckte das Foto samt Rechnung ein. Wer weiß, ob er beides nicht noch gebrauchen konnte.

Ihm wurde plötzlich bewusst, dass es ihm vermutlich nie gelingen wür­de, gegen den Willen Rasputins das Verbrechen aufzuklären. Da half nur eins: Er musste ihn so schnell wie möglich loswerden. Das schien unproblematisch zu sein, wenn man das Alter des Arztes bedachte. Da konnte schon mal ein Unfall passieren. Doch Unfälle passieren nicht, sie werden verursacht. Das war dann der letzte Schritt.

Aber Rasputins Tod nutzte ihm nur, wenn er anschließend die Ge­schäftsführung behalten konnte.

Er bereitete ein Schreiben vor, in dem ihm Rasputin Generalvollmacht über alle Geschäfte der Stiftung erteilte, und besprach dieses mit ihm. Nachdem sich Rasputin einverstanden erklärt hatte, formulierte Köm­mel das Schreiben neu und Rasputin unterzeichnete es ohne weitere Sichtung. Er unterschrieb damit sowohl die Generalvollmacht als auch eine Verfügung, in der er Kömmel als seinen Nachfolger dem Vorstand vorschlug. Das war’s! Jetzt konnte Rasputin ausgeschaltet werden.

Sein Plan war recht einfach, aber wirkungsvoll.

Die beiden Büros lagen nebeneinander und waren nur über den Gang verbunden. Wollte einer den anderen aufsuchen, musste er den Gang benutzen.

Beide Kabinen hatten einen in die Bordwand eingelassenen kleinen Balkon – wie übrigens jede andere Kabine an Bord auch. Die Balkons waren nicht miteinander verbunden, damit kein Bewohner dem Nach­barn beim Sonnenbad zusehen konnte. Kömmel hatte aber bemerkt, dass sich ober- und unterhalb der Balkons lange durchgehende Stangen befanden, an denen sich Matrosen und Handwerker bei kleineren Au­ßenbordarbeiten festhalten konnten. Das hatte er schon einige Male be­obachtet. Dabei hängte sich der Matrose mit einem Spezialgeschirr in die obere Stange ein und stand auf der unteren. Genau das wollte Köm­mel tun, um sich unbemerkt von einem Balkon zum anderen zu hangeln. Er musste sich nur ein Sicherungsgeschirr besorgen.

Dann würde er über den Gang in das Büro Rasputins gehen, den alten Mann irgendwie über die Balkonreling stoßen, die Tür von innen ver­schließen und sich außen an der Bordwand entlang zu seiner eigenen Kabine hangeln.

Später würde er dann die verschlossene Tür „entdecken“ und einen Of­fizier benachrichtigen. Man würde das Verschwinden des Arztes fest­stellen und einen Unfall vermuten, denn Rasputin würde nie wieder auftauchen. Kaum vorstellbar, dass der Balkonsturz von irgendjeman­dem bemerkt werden würde.

Das Schiff war inzwischen auf dem Weg zu den Azoren. Bei der Durch­fahrt durch den Ärmelkanal und in der Biskaya hatten schon die ersten Herbststürme getobt. Das wäre nicht gut gewesen für Kömmels Vorha­ben. Jetzt, auf dem offenen Atlantik, wurde es ruhiger. Das Azorenhoch begünstigte die Überfahrt, was die Senioren an Bord durchaus genos­sen, konnten sie doch täglich noch einige Zeit auf ihren Balkons in der Sonne liegen. Allerdings nur auf der Backbordseite, die nachmittags nach Süden gerichtet war. Leider lagen die Kabinen von Kömmel und Rasputin auch auf dieser Seite. Die Gefahr, bei seinem Mordplan gese­hen zu werden, war also relativ hoch. Er musste deshalb eine Zeit ab­warten, wo sich möglichst wenige – am besten keiner – der anderen Bewohner auf den Balkons befanden. Das war entweder am Vormittag oder kurz nach Sonnenuntergang.

Kömmel wartete ab. Außerdem hatte er noch kein Sicherungsgeschirr, und das würde er unbedingt brauchen.

An einem Nachmittag spielte ihm wieder einmal der Zufall in die Hän­de. Der Steward informierte ihn, dass einige Malerarbeiten an der Bord­wand erledigt werden müssten, und fragte, ob es möglich wäre, dass sich der Maler von seinem Balkon aus abseilen dürfte. Einen anderen Bewohner hätte man nicht gefragt, da er aber sozusagen zum Personal gehörte …

Kömmel stimmte sofort zu. Was Besseres hätte ihm gar nicht passieren können.

Der Maler – in weißem Overall – erschien kurz darauf mit einem klei­nen Rollwagen, den er im Gang stehen ließ. Er entnahm diesem einen breiten Gurt, den er sofort umlegte. Daran war ein Stropp mit zwei Ka­rabinerhaken befestigt. Der obere passte genau um die Haltestange. Der Seemann hängte sich einen Eimer Farbe um die Schulter, betrat den Balkon und sicherte sich mit dem Stropp an der oberen Haltestange. So konnte er auch bei einem Fehltritt nicht abstürzen.

Während er sich langsam an der Bordwand zu der Schadenstelle vorar­beitete, bemerkte Kömmel in dem Rollwagen noch zwei weitere Siche­rungsgeschirre. Eines nahm er heraus und versteckte es in seinem Schrank.

Die Malerarbeit nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Kaum eine Viertel­stunde später kletterte der Mann auf den Balkon zurück, verstaute seine Gerätschaften wieder im Rollwagen und verschwand. Geschafft! Köm­mel hatte seine Sicherungsleine. Damit man sie aber nicht bei ihm ent­deckte, versteckte er sie, als Rasputin seine Kabine kurz verlassen hatte, in dessen Schrank unter dem Waschbecken in der Nasszelle. Nun war sie dort, wo er sie später brauchen konnte.

Schon einen Tag später ergab sich eine günstige Gelegenheit. Die Son­ne stand bereits recht tief, die Bewohner zogen sich in ihre Kabinen zu­rück und machten sich fertig für das Abendessen. Da rief Rasputin an und meinte, er benötige seine Hilfe. Kömmel sah seine Zeit für gekom­men. Für ihn war das Ganze nichts weiter als eine notwendige „Aktion“. Den Gedanken an skrupellosen Mord schob er weit von sich.

Er nahm seine Schreibmappe, schob die Generalvollmacht hinein und legte einige leere Blätter darauf. Dann eilte er nach nebenan zu Raspu­tin. Dieser saß an seinem Schreibtisch und hatte den Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt, als ob er schliefe. Das sah sehr unnatürlich aus, dachte Kömmel. Außerdem hatte er doch gerade noch angerufen. So schnell konnte er doch nicht eingeschlafen sein. Er räusperte sich, und als sich Rasputin nicht regte, sprach er ihn an: „Herr Dr. Rasputin“, sagte er, „kann ich Ihnen helfen?“

Der Arzt antwortete nicht. Kömmel versuchte, ihm in die Augen zu se­hen. Diese waren geschlossen. Er suchte den Puls an den Halsschlaga­dern und fühlte nichts. Der Doktor war tot – mausetot!

Einen Augenblick war Kömmel erschrocken. Das warf seine ganzen Mordpläne durcheinander. Dr. Rasputin war schon tot! Besser konnte es gar nicht laufen.

Jetzt hieß es aber, Ruhe bewahren. Nur nichts falsch machen! Der Zu­fall hatte ihm in die Hände gespielt, nun musste er seinen Plan ändern.

Zunächst ging er zur Tür und schloss diese von innen ab. Jetzt hatte er Ruhe zum Überlegen. Sollte er die Leiche trotzdem über Bord werfen? Das ergab jetzt keinen Sinn mehr. Am besten ließ er alles so, wie es war. Man würde den Mann finden und eine natürliche Todesursache feststel­len. Kein Verdacht würde auf ihn fallen. Warum auch? Er hatte den Al­ten ja nun wirklich nicht umgebracht. Aber die Nachfolge musste noch in die Wege geleitet werden. Kömmel zog die Vollmacht aus seiner Briefmappe und legte sie neben dem Toten auf die Schreibtischplatte.

Zur gleichen Zeit hatte sich auch Raupe auf den Weg zu Dr. Rasputin gemacht, um mit ihm einige Einzelheiten bezüglich des Tante-Emma-Ladens zu besprechen. Inzwischen hatte seine Frau den Laden über­nommen und nach ihrem Geschmack – unter Beachtung der Auflagen als Weltkulturerbe – eingerichtet. Er klopfte an Rasputins Tür, bekam aber keine Antwort. Die Tür war auch verschlossen, wie Raupe fest­stellte. Der Arzt schien also nicht anwesend zu sein. Schade! Dabei hat­te er sich doch extra angemeldet. Er klopfte noch einmal und rüttelte an der Türklinke, doch von innen kam keine Reaktion. Also würde er war­ten. Ach, fiel ihm ein, vielleicht konnte ihm ja der Geschäftsführer wei­terhelfen. Er klopfe an dessen Tür, bekam aber ebenfalls keine Antwort. Die Tür war jedoch nicht verschlossen, und Raupe steckte seinen Kopf hinein. „Hallo, Herr Kömmel, sind Sie da?“

Keine Antwort. Ein heftiger Windstoß fegte durch die Kabine. Das Fenster zum Balkon stand offen, und draußen entwickelte sich ein kräf­tiger Wind. Raupe fühlte sich als Schiffsingenieur durchaus auch für solche Kleinigkeiten zuständig, ging zum Fenster, schaute auf den Bal­kon hinaus und schloss die Tür. Dann verließ er die Kabine wieder und setzte sich im Gang auf einen der dort stehenden Stühle, um auf den Arzt zu warten.

Kömmel war zusammengezuckt, als es an die Kabinentür klopfte. Er verhielt sich abwartend, auch als jemand an der Türklinke rüttelte. Das gefiel ihm gar nicht. Was sollte man von ihm denken, wenn er sich mit dem toten Rasputin einschloss und auf Klopfen nicht reagierte? Das sah verdächtig aus. Jetzt konnte er noch nicht einmal so tun, als hätte er die Leiche gerade erst gefunden. Er durfte die Kabine auch nicht durch die Tür verlassen, weil er nicht wusste, ob jemand draußen wartete.

Was also tun?

Einen Augenblick dachte er daran, den Alten doch noch über die Reling zu wuchten und seinen ursprünglichen Plan auszuführen, doch dann entschied er sich dafür, einfach auf dem geplanten Weg zu flüchten.

Er ging ins Badezimmer, um die Sicherungsleine zu holen, doch diese war verschwunden. Er hatte nämlich beim Verstecken einen kleinen, aber entscheidenden Fehler begangen. Er hatte nicht kontrolliert, ob sich noch genügend Toilettenpapier auf der Rolle befand. Warum hätte er das auch kontrollieren sollen? In diesem Fall wäre es aber wichtig ge­wesen, denn in dem Schrank unter dem Waschbecken lagerten die Er­satzklopapierrollen.

Als die Putzkolonne am nächsten Morgen routinemäßig auch Rasputins Büro aufsuchte, stellte die Putzfrau fest, dass das Papier auf der Rolle fast aufgebraucht war, und wollte es auswechseln. Im Schrank entdeck­te sie das Sicherungsgeschirr und fragte Rasputin, ob er das noch benö­tigte. Dieser schüttelte nur den Kopf. Wer weiß, wer es dort vergessen hatte. Die Putzfrau gab den Stropp im Lager ab, wo man schnell heraus­fand, wo er fehlte. Keiner der Malerhandwerker die den Rollwagen in den letzten Tagen benutzt hatten, konnte sich erinnern, es bei dem Arzt vergessen zu haben. So blieb es ein ungeklärtes Geheimnis.

All das wusste Kömmel natürlich nicht, aber das Ergebnis war fatal. Der Sicherungsstropp war verschwunden.

Kömmel trat auf den Balkon und schaute sich die Haltestangen noch einmal an. Das müsste er auch ohne Sicherung schaffen. Vorsichtig kletterte er auf die Reling und von dort auf die untere Haltestange. Viel Platz hatte er nicht mit seinem Fuß. Nur nicht nach unten schauen. Er war fast zwölf Meter über dem Wasser. Mit ausgestrecktem Arm konnte er die obere Haltestange erreichen und sich daran festhalten. Langsam, Schritt für Schritt, bewegte er sich seitwärts, immer mit beiden Händen an der Haltestange. Es war gar nicht so schwierig.

Der Wind hatte zugenommen, und einige Böen drückten ihn immer wieder beiseite. Er schaute nach unten zu den Bugwellen, die sich keil­förmig von dem Schiff entfernten. Schließlich erreichte er seinen Bal­kon und wollte zu diesem hinunterklettern. Es stellte sich heraus, dass es leichter war, nach oben als nach unten zu klettern. Um die Balkonre­ling zu erfassen, musste er die obere Haltstange loslassen und nach un­ten umgreifen. In diesem Moment fegte ein weiterer Windstoß heran und erwischte ihn gerade, als er die obere Sicherung verlassen hatte. Für eine Sekunde stand er nur mit einem Fuß auf der Reling … in der nächs­ten begann er zu fliegen.

„Da schwimmt jemand!“, rief Isolde von Flickenberg erschrocken und zeigte mit ausgestrecktem Finger nach achtern in das strudelnde Heck­wasser des Seniorenkreuzfahrtschiffes „Welt & Mehr“. Doch resigniert nahm sie den Arm wieder herunter und sah sich um. Sie stand allein an der Reling. Auch wenn andere in der Nähe gewesen wären, hätte man sie kaum beachtet. Zu dünn und gebrechlich war ihr Stimmchen. Zu oft hatte sie Dinge gesehen, die nur in ihrer Einbildung existierten. Sie glaubte sich ja selbst nicht mehr!

Als Rasputin zu sich kam, war er zunächst völlig desorientiert. Er hob den Kopf und sah sich um. Ach ja, die Kabine! Jetzt setzte die Erinne­rung wieder ein. Er hatte gerade einen Herzanfall bekommen und Köm­mel angerufen, damit dieser ihm die Herztropfen aus dem Wandschrank geben konnte. Ein Steward wäre nicht schnell genug zur Stelle gewe­sen. Dann muss er wohl das Bewusstsein verloren haben. Aber warum war Kömmel nicht gekommen?

Rasputin stand auf und versuchte ein paar Schritte. Jetzt schien alles wieder in Ordnung zu sein. Er ging zur Tür und fand diese verschlossen. Von innen! Der Schlüssel steckte noch. Das erklärte natürlich, warum Kömmel nicht hereingekommen war, warf aber eine andere Frage auf. Warum war die Tür verschlossen? Er schloss sie niemals ab, wenn er sich in der Kabine befand. Sollte er so verwirrt gewesen sein?

Auf seinem Schreibtisch bemerkte er das Schreiben mit der Vollmacht. Wie kam die dort hin? Die bewahrte doch Kömmel bei sich auf. Die Vollmacht war ja auf ihn ausgestellt. Gedankenverloren nahm er sie in die Hand und las sie durch. Wollte Kömmel sie noch einmal mit ihm be­sprechen? Aber was er jetzt las, erstaunte ihn. Das war doch niemals so besprochen worden. Gewiss, seine Unterschrift stand darunter, doch eine solche Empfehlung hätte er nicht gegeben. Da wollte ihm jemand etwas unterschieben.

Jetzt bemerkte Rasputin auch die Schreibmappe, die auf einem Stuhl am Fenster lag. Sie war bis auf ein paar unbeschriebene Blätter leer. Köm­mel muss also doch hier gewesen sein.

Aber wie war dieser hereingekommen? Das blieb ein Rätsel.

Es klopfte an der Tür. Rasputin öffnete, und Raupe stand davor. „Ich habe im Gang gewartet und gehört, dass die Tür aufgeschlossen wird“, sagte er bescheiden.

Rasputin bat ihn herein. „Wie lange haben Sie denn vor meiner Tür ge­wartet?“, wollte er wissen.

Raupe schaute auf die Uhr und antwortete: „Ziemlich genau 26 Minu­ten. Wir waren um 16.00 Uhr verabredet, und jetzt ist es 16 Uhr 26.“

„Und Sie waren die ganze Zeit vor meiner Tür?“

„Ja, bis auf die Minute, in der ich bei Herrn Kömmel war.“

„Sie waren bei Herrn Kömmel?“, hakte Rasputin nach.

„Ich war zumindest in seiner Kabine, aber er war nicht da. Da habe ich noch das Fenster geschlossen und mich wieder in den Gang gesetzt.“ Ihm kam die ganze Fragerei etwas merkwürdig vor.

„Fenster geschlossen“, murmelte Rasputin vor sich hin und dachte an das Fenster der eigenen Kabine. Das war auch offen, obwohl er sicher war, es nicht geöffnet zu haben. Und auf dem Stuhl neben dem Fenster lag Kömmels Schreibmappe. Ihm kam ein ganz merkwürdiger Ver­dacht, doch den behielt er zunächst für sich.

„Was kann ich für Sie tun?“, kam er zurück zu Raupe. Das kleine Pro­blem war schnell besprochen und Raupe wollte sich verabschieden, als Rasputin ihn noch zurückhielt. „Lassen Sie bitte Herrn Kömmel ausru­fen, ich brauche ihn dringend in meinem Büro“, bat er.

„Mach ich, Doktor!“, nickte Raupe und begab sich zur Rezeption.

Hartmut Kömmel meldete sich nicht und wurde auch bei der eingeleite­ten Suchaktion nicht gefunden. Er tauchte nie wieder auf – und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Wortlos zerriss Dr. Rasputin das Schreiben mit seiner Unterschrift, das er niemals in dieser Form unterschrieben hätte.

Jetzt brauchte er einen neuen Geschäftsführer.

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