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Das merkwürdige Grab
ОглавлениеKömmels Verschwinden löste natürlich eine kriminalpolizeiliche Untersuchung aus. Da der Tatort auf einem deutschen Schiff lag, war die Bundespolizei zuständig. Polizeihauptkommissar Onno Nörenberg von der Küstenwache wurde mit der Aufklärung beauftragt. Es schien nur ein Routinefall zu sein. Alle Anzeichen deuteten auf einen Unglücksfall hin, bei dem Kömmel über Bord gefallen war. Bei der Befragung der Passagiere meldete sich die Seniorin Isolde von Flickenberg und erzählte, sie hätte jemanden im Wasser schwimmen gesehen. Sie klang etwas verwirrt, doch die angegebene Uhrzeit passte ziemlich genau mit dem ermittelten Zeitpunkt des Verschwindens überein. Der Verdacht, Kömmel sei über Bord gegangen, wurde damit bestätigt.
Bei der Sichtung von Kömmels Schreibtisch fand der Hauptkommissar jedoch ein Foto und eine Quittung über ein hölzernes Grabkreuz. Das wäre normalerweise nichts Besonderes gewesen, wenn Nörenberg sich nicht an den Namen auf dem Grabkreuz erinnert hätte: „Dora Heldenreich“. Diese Frau war vor einigen Jahren vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen und seitdem verschwunden. Wie kam jedoch eine Rechnung für ihr Grabkreuz in Kömmels Unterlagen?
Nörenberg ließ sich die Ermittlungsakte „Dora Heldenreich“ schicken. Der Fall war unaufgeklärt zu den Akten gelegt worden, da es sich aber um den Verdacht eines Verbrechens im Jahre 2000 handelte, war die Verjährungsfrist von 30 Jahren noch lange nicht abgelaufen. Bei Mord gab es ohnehin keine Verjährung.
Doch lag hier ein Mord oder ein anderes Kapitalverbrechen vor? Das konnte bisher nicht geklärt werden.
Onno beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Zunächst gab es nur die Quittung. Sie war im Jahre 2014 in der Schweizer Ortschaft Claro von einem Holzschnitzer ausgestellt worden. Das war gerade erst vor zwei Jahren. Auf der Rechnung stand Dora Heldenreichs Name und die Jahreszahl 1900. Diese Kombination ergab keinen Sinn, denn Doras Schwester Emma wurde 1900 geboren, Dora selbst aber erst 1914. Das Holzkreuz trug also den Namen von Dora mit dem Geburtsjahr von Emma. Was hatte das nur zu bedeuten? Vielleicht war das auch nur eine zufällige Namensgleichheit.
Der Polizeihauptkommissar holte sich die Genehmigung für eine Dienstreise in die Schweiz. Das musste er vor Ort klären.
Claro war ein kleiner Ort im Tessin mit etwa 2.500 Einwohnern und lag an der E35, knapp zehn Kilometer von Bellinzona entfernt. Der Ort war von der Stazione Bellinzona mit der Bahn gut zu erreichen. Am Bahnhof erwartete ihn schon ein Carabiniere, denn die Bremer Staatsanwaltschaft hatte offiziell um Amtshilfe und einen Dolmetscher gebeten. Der Brigadiere Roberto Rocco sprach leidlich deutsch, was wohl an den vielen deutschen Touristen lag, die in langen Kolonnen täglich über den St. Gotthard über die Alpen kamen, und er kannte alles und jeden in Claro. Das war durchaus von Vorteil. Er wusste sofort, von wem die mitgebrachte Rechnung stammte. Es war der Schreiner und Bildhauer Luigi Dolfo, der in Claro praktischerweise sowohl Särge als auch hölzerne Grabkreuze anfertigte.
Sie machten sich sofort auf den Weg. Dolfo war persönlich anwesend, und nach der üblichen wortgewaltigen Begrüßung, von der Nörenberg nur verstand, dass sich die beiden schon lange kannten, zeigte er schließlich die Rechnung, was Rocco mit einem erklärenden Wortschwall begleitete.
Dolfo nickte. Er konnte sich noch gut an den Auftrag erinnern, zumal es einige Probleme gab, dolmetschte Rocco. Er suchte in einem Karton voller Papiere – vermutlich seine Ablage – und fischte einen Auftrag mit einem angehängten Zettel heraus.
Nörenberg bedauerte, das Gespräch nicht selbst führen zu können, jedoch mit Hilfe des Brigadieres ergab sich folgender Ablauf.
Ein Mann, der seinen Namen nicht genannt hatte, war in Dolfos Werkstatt erschienen, um ein Holzkreuz in Auftrag zu geben, das an das Kloster Santa Maria Assunta geliefert werden sollte. Die Daten hatte er auf einen Zettel geschrieben, der jetzt dem Auftrag beilag. Wie Nörenberg sehen konnte, stand dort „Dora Heldenreich – 1900“. Die vorletzte Null war jedoch mehrmals überschrieben. Die Jahreszahl konnte sowohl eine 1900 als auch eine 1990 sein. Das war nicht mehr so genau zu erkennen. Der Schreiner erinnerte sich, dass ihm die weit zurückliegende Jahreszahl 1900, die ursprünglich auf dem Zettel stand, aufgefallen war. Er hatte nochmals nachgefragt, und der Mann hatte gesagt, es müsse 1990 heißen. Nachdem Dolfo die Zahl geändert hatte, lachte der Unbekannte aber und meinte, er soll ruhig 1900 schreiben. Das macht das Ganze noch rätselhafter. Was damit gemeint war, konnte sich Dolfo aber nicht erklären, zumal die Verständigung etwas schwierig war. Jedenfalls hatte er den Auftrag angenommen und der Mann bar bezahlt. Er bekam darüber eine quittierte Rechnung über die Anfertigung eines hölzernen Grabkreuzes mit der Aufschrift „Dora Heldenreich – 1900“.
Der unbekannte Mann musste Kömmel gewesen sein, überlegte Nörenberg. Was hatte es aber mit den Jahreszahlen auf sich?
Der Holzschnitzer erzählte, dass er sich nach dem Weggang des Mannes nicht mehr sicher war, welche Jahreszahl er eigentlich schreiben sollte. Da er weder Namen noch Anschrift des Mannes hatte, konnte er auch nicht mehr nachfragen. Also fuhr er zum Kloster hinauf, um sich dort zu erkundigen. Schwester Barbara wusste angeblich Bescheid.
Die Ordensschwester zeigte ihm ein Grab, das bisher immer als „Emmas Grab“ bezeichnet wurde. Vor Kurzem wäre aber ein Mann gekommen, der meinte, es wäre „Doras Grab“. Das hatte sie zwar nicht verstanden, jedoch nicht nachgefragt.
Für den Schreiner war es aber wichtig, die genaue Jahreszahl zu erfahren. Das Grab existiere seit 1990, erklärte Schwester Barbara. Also hatte er diese Jahreszahl, entgegen den Angaben auf der Rechnung in das Kreuz geschnitzt und es dann an das Kloster geliefert und dort aufgestellt. Für ihn war der Auftrag damit erledigt.
Für Nörenberg begann es aber erst. Die Sache wurde immer verworrener.
Er ließ sich von dem Brigadiere zum Kloster, das auf einem Felsplateau oberhalb der Stadt lag, hinauffahren und fragte nach Schwester Barbara, die ihnen bereitwillig das Grab an der Klostermauer zeigte. Sie bestätigte die Angaben des Schreiners. In dem Grab war im Jahre 1990 eine unbekannte weibliche Person, die im Wald gefunden worden war, beigesetzt worden. Nach den Angaben der inzwischen verstorbenen Schwester Adalgisa wurde es immer „Emmas Grab“ genannt, bis vor zwei Jahren ein Mann erschienen sei, der behauptete, es wäre das Grab von Dora Heldenreich. So stand es auch auf dem Grabkreuz: Dora Heldenreich – 1990.
Doch das warf wieder neue Fragen auf.
Dora Heldenreich lebte nachweislich bis zu ihrem Verschwinden 2000.
Emma Heldenreich lebte bis 2014 und wurde damit zur ältesten Frau Deutschlands.
Ihre Schwester Berta Heldenreich lebte bis 2000. Die Todesumstände von Emma und Berta waren damals geklärt worden. Beide lagen auf den Friedhof von Dorpamarsch. Nur Doras Verschwinden gab noch Rätsel auf. Hier schien also ihr Grab zu sein. Doch dann konnte sie nicht schon 1990 beerdigt worden sein, denn sie verschwand erst 2000. Das wiederum war das Sterbejahr von Berta.
Der Brigadiere wusste schon lange nicht mehr, worum es ging. Er hatte die Übersicht verloren und beschränkte sich inzwischen nur noch auf das Dolmetschen. Doch Nörenberg bekam so langsam eine Ahnung – es war nicht viel mehr als ein Gefühl.
Dora verschwand im gleichen Jahr, in dem Berta starb. Aber wie kam sie in den Wald bei Claro?
Bei der italienischen Carabiniere-Station befand sich noch die Ermittlungsakte von 1990. Rocco übersetzte, dass von der Ordensschwester Adalgisa die Leiche einer unbekannten Frau im Wald zwischen Claro und dem Kloster aufgefunden worden war. Die Obduktion hatte eine natürliche Todesursache durch Herzversagen – vermutlich aufgrund des Alters – ergeben. Ein Fremdverschulden hatte man ausgeschlossen und die Leiche dem Kloster zur Beisetzung überlassen. Lediglich die Identität der Toten konnte nicht geklärt werden. Der Fall war hier abgeschlossen.
Nörenberg hätte den Fall für sich auch gerne abgeschlossen, doch der Todeszeitpunkt der Unbekannten stimmte nicht mit dem Verschwinden Doras überein. Wer lag also in dem Grab, und wo war Dora abgeblieben? Beides war noch immer offen.
Eine dritte Frage war ebenfalls noch ungeklärt. Warum hatte Kömmel dieses Grabkreuz anfertigen lassen? Und noch dazu mit dem Geburtsdatum von Emma, was dann allerdings geändert wurde.
Dreh- und Angelpunkt schien Kömmel zu sein, den man aber nicht mehr befragen konnte. Lebte dieser vielleicht auch noch? Er war ebenfalls verschwunden, galt aber nach den polizeilichen Ermittlungen als tot. Hatte sich Nörenberg da geirrt? Hatte Kömmel alle an der Nase herumgeführt, und wenn ja, welche Vorteile brachte ihm das?
Es wurde immer verworrener, doch hier in Claro ließ sich nicht mehr ermitteln. Der Hauptkommissar beschloss, in Deutschland weiterzumachen und ließ einen mehr als verwirrten Rocco Roberto zurück.
In Bremen begann er, sich mit dem Vorleben Kömmels zu befassen und ermittelte, dass dieser neben der Tätigkeit als Geschäftsführer der EHS auch Vizedirektor bei der Nordelbischen Lotteriegesellschaft gewesen war. Von dieser hatte Emma Heldenreich bis zu ihrem späten Tod eine monatliche Rente von rund 10.000 Euro bezogen. Da gab es möglicherweise einen Zusammenhang. Nörenberg beschaffte sich einen Durchsuchungsbefehl für die Geschäftsräume der Lotteriegesellschaft und beschlagnahmte diverse Unterlagen. Bei der Sichtung wurde die Betrugsabsicht gegenüber Emma Heldenreich offenkundig. Kömmel hatte 1990 versucht, Emma über den Tisch zu ziehen, was jedoch dank der Hilfe ihres Arztes Dr. Rasputin nicht gelungen war. Es gab genügend handschriftliche Aktenvermerke von Kömmel, die das bewiesen.
Nörenberg kam zu dem Schluss, dass Kömmel nun – nach Emma Heldenreichs Tod – eine neue Gemeinheit geplant hatte, wahrscheinlich, sich deren Nachlass anzueignen. Da er wahrscheinlich ums Leben gekommen war und die Betrugsabsichten von 1990 ohnehin verjährt waren, schloss er den Fall jetzt endgültig ab.
Damit war Emmas Nachlass unangreifbar, und das Testament konnte vollstreckt werden.