Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 10
ОглавлениеDIE MÜLLI!
Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus der Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich, wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stockerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den heiligen Eutern Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? Es war die Milch einer sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch …
Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken.
Trara!
Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer Ton von wunderbarer Melodie. Es klingt wie das Halali einer Jagd und das selige Trara eines Postillons. Es sind die Signale eines Autos; von dem ich vermute, daß es Eigentum einer fremden Militärmission ist. Ich sage seinem Besitzer somit öffentlich Dank. Das Signal ist hell und lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen. Komm mit, ruft es, sehen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton vernehme ich die hellen Stimmen einer europäischen Zukunft: Liebliche Maiennächte mit fliegenden Silberwölklein, Postillon, Abschied und Reise ins Märchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Pässe überflüssig werden, Visitationen und Requisitionen überflüssig werden, und ich fahre auf einer mondlichtüberfluteten breiten Straße durch die römische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede Einreisebewilligung selbst nach Hütteldorf-Hacking gelange …
Die Politik, die Mädel und der italienische Stern
Einmal, als die Zeit noch so groß war, daß selbst die kleinen Mädel sie begriffen, waren patriotische Kokarden, Matrosenschleifen mit Namen vaterländischer Fregatten und Abzeichen, die man an Kriegsblinden- und anderen Festtagen verkaufte, Schmuck und Zierrat jener Mizzis, Poldis, Fritzis und Franzis, deren Tagewerk mit Anbruch der Nacht begann und in der harmlosen Gesellschaft eines Leutnants in Erholungsurlaub vor sich ging. Heute, da eine neue Welt die alten Kokarden unmöglich macht, erweisen sich alle diese kleinen Mädel als große Staatsmänner, die die Abzeichen ihrer Zeit besser verstehen als unsere Diplomaten die Zeichen. Der fünfzackige italienische Stern in jenen Tagen, da die Italiener Katzelmacher hießen, armseliges Schmuckstück auf dem Rock italienischer Kriegsgefangener, schimmert heute an den Blusen aller Mizzis. Er ist ihr Leitstern geworden, der ihnen auf dem Weg in die Hinterstübchen italienischer Militärmissionen leuchtet, uns anderen mag er der Stern des Frieden sein, der am Himmel der – Geschlechterversöhnung glänzt. An allen Ecken und Enden der Kärntnerstraße und des Rings taucht er in den Abendstunden auf, und sein Schimmern bedeutet den italienischen Fremden: si parla italiano! Die Wiener Gemütlichkeit ist weit von den Mitteln entfernt, die im heiligen Lande Tirol Anwendung fanden. Der Wiener zitiert höchstens frei nach Schiller: An ihrer Brust sind ihres Schicksals Sterne.
Josephus
Der Neue Tag, 1.6.1919