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DIE GALGENFRIST
ОглавлениеAls ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, pünktlich und höchst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war es – offen. Die für 9 Uhr angesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf meinen Tugendwächter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vortrefflichen Eindruck gemacht, daß er, der typische Repräsentant altösterreichisch-gemütlichen Konservatismus, der trotz Umwälzungen und Götterdämmerungen christlichsozial und konservativ gesinnt geblieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern auch ihr vorauszueilen. Unter der Devise: »Zeit ist Sperrsechserl« hatte er schon um ¼ 9 Uhr das Haustor geschlossen und und Parteien, die zwischen ¼ 9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr möglich war. Man war eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmeister bestätigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter vor, daß sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hatten und daß ich mich anstellen mußte, um schlafen gehen zu können. Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschlüssel zu bekommen. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, halten zu Gnaden, da wir schon einmal in einer freien Republik schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschlüssel zu meiner persönlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und Trinkgeld ausfolgen lassen zu wollen. – Aber der Herr Inspektor erschrak vor dem Worte: persönliche Freiheit und verweigerte mir den Schlüssel. Also gewöhnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr nach Hause zu kommen, um erst fünf Minuten nach neun nach Hause kommen zu können …
An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Unglück passiert sein. Oder die persönliche Freiheit war in der deutschösterreichischen Republik tatsächlich eingeführt worden. Oder der ganze Magistrat ist meschugge. Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder das Haus, in dem ich wohne, ist sozialisiert. Oder das Schloß ist kaputt und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, ich bitte sehr um Verzeihung, Sie dürften sich heute geirrt haben, da ist Ihr Sperrsechserl. »Na« – sagte der Gewaltige – »mir ham uns net geirrt. Wir sperren scho um zehne!«
Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?
Ich komme jedenfalls seit damals erst um – halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um – neun Uhr …
Josephus
Der Neue Tag, 15.6.1919