Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 9
ОглавлениеKAFFEEHAUSFRÜHLING
Er offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben, die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß, im »Schwarzen« lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte. So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten« besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den Gästen gegenüber bedeuten noch einige Blumentöpfe und jene grünen Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Frühjahr nur die Kaffeesieder kamen. Und somit ist alles für die Sonne gerüstet, die leider »infolge Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten« von der Sternwarte nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognosen nicht recht aus den Wolken hervortraut …
Sieht man diese gottverlassenen Caféveranden an, so drängt sich einem fast unwillkürlich der Vergleich mit nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde, hält leider noch immer die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen. So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere »Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die Preiserhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des Wortes – an die Luft zu setzen …
Nachtleben
Nacht für Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht für Nacht sehe ich dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fährt der Leichenwagen vor, unerbittlich, nüchtern, geschäftsmäßig, um diejenigen zu versargen, die ehemals versorgt waren. Man weiß wirklich nicht, was vorteilhafter ist. Es könnte auch ein boshafter Druckfehler sein …
Ein paar Häuser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straßenbahnwagen, dessen rückwärtige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz trägt. Die Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glattgehobelten Holzkästen, die eine verschwommene Ähnlichkeit mit Holzsärgen haben, liegen die sezierten, geprüften, durchstudierten Leichname. Kasten um Kasten wird in den Straßenbahnwagen geschoben. Vollbeladen mit zu wissenschaftlichen Zwecken hinaufavancierten Leichen fährt die Straßenbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz schließlich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gäste sich in stummer Liebenswürdigkeit nicht auf die längst sezierten Hühneraugen treten …
Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Gräber geschaufelt? Geheimnisvoll vermummte Männer um ein flackerndes Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Straßenmitte, zwischen den Schienen der Straßenbahn, krempeln das ganze Pflaster auf. Schatzgräber etwa? Symbol wären sie dann, Repräsentanz des deutschösterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank am Herzen, nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn es Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen …
Es sind weder Toten- noch Schatzgräber, sondern Arbeiter aus der Reparaturwerkstätte der städtischen Elektrizitätszentrale, und ihr musterloses nächtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Straßenbahnverbindungen. Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern …
Auf dem Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. Täglich um die Stunde, zu der, den Lichtsparmaßnahmen zufolge, die Nacht unerbittlich eintreten muß, besetzt der Mann seinen Posten. Er ist eine Kombination von Salamutschl- und Würstelmann, eine Neubildung ungefähr, den geänderten Umständen angepaßt. Er verkauft Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft weist.
Denn so ist unser »Nachtleben«: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterndes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt …
Josephus
Der Neue Tag, 23.5.1919