Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 8
ОглавлениеWIENER SYMPTOME
Mai und Mais
Fast hätte ich geglaubt, es wäre ein fataler Druckfehler im himmlischen Verordnungsblatt. Als der Mai trotz Abschaffung der Sommerzeit noch über die Welt kam und das Maisbrot noch auf den Tisch, kostete ich noch einmal das erhabene Gefühl des Durchhaltens in vollen Zügen und würzenden Bissen, schwamm ich in goldgelben Reminiszenzen aus der Zeit, in der man Gold für Maisbrot gab, das schwer verdaulich war wie ein Kriegsbericht und zwerchfellblähend wie ein A-Befund …
Es kommt just zur rechten Zeit: Dieweil Paris Kriegsschlüsse diktiert, erinnert sich das Wiener Volksernährungsamt nicht mit Unrecht des Mai, der jahrelang »Offensive«, und des Maises, der »Volksnahrungsmittel« hieß, und unternimmt mit dem letzteren die erstere gegen die Wiener Bevölkerung. Keiner weiß, woher er kam, der Mais. Name und Art nur kennen wir zur Genüge. Stammt er etwa noch aus den Vorratskammern des ukrainischen Brotfriedens? Drischt man ihn aus den Ähren jener Felder, deren Ähren man zerstampft? Oder ist er eigens zurückbelassen aus jenen Jahren straffster Drosselungen als sinniges Maisgeschenk zum Zeichen des Friedensschlusses? Oder als Abschiedsgruß einer aus der Kommune scheidenden Partei? Etwa: im Weltkrieg habe ich dein, o Wiener, gedacht. Drum hab’ ich dir zum Frieden dies dargebracht?! …
Es ist jedenfalls ein kunstvoll dramatischer Aufbau in der Wiener Brotversorgung der letzten Wochen zu sehen. Nach dem Höhepunkt des Weißbrotes die Peripetie des Maisbrotes. Allen dramatischen Regeln zum Trotz unterbleibt hoffentlich die Katastrophe. Denn dieses goldgelbe Verhängnis ist an und für sich schon sinniger Abschluß einer gastrischen Tragödie, auf gefallenem Vorhang ein Fragezeichen, an Paris, ernste Mahnung an übermütig gewordene Zwölffingerdärme, Schlußakkord der 42-Zentimeter-Haubitzensymphonie, Punkt und Pause hinter der ganz ungenügend ausgefallenen Hausarbeit über die große Zeit … Alles in allem: ein Wiener Symptom …
Schokolade
Ich sah eine Rippe um zwei Kronen vierzig in der Auslage. Ein blondes Mäderl, barfuß, Hunger in den blauen Kinderaugen, stand davor. Im Anblick der schwarzbraun glänzenden Schokoladerippen wurde Fames vulgaris (gemeiner Hunger) zu beflügelter Sehnsucht, gierig-körperliches Verlangen zu beschwingtem Himmelanstreben, animalische Angelegenheit zur rein seelischen. So etwa sieht der Himmel dieses Kindes aus: braun und mit Schokolade tapeziert. Und diese kleine Rippe um 2 Kronen 40 ist die Schwelle, über die man ins Himmelreich tritt …
Schokolade! Sie trägt eine Zürcher Marke und ist sicher durch den Schleichhandel in die Anlage geschmuggelt worden. Ich aber vergebe und vergesse in diesem Augenblick allen Schleichhändlern der Welt ihr Preistreiben für bloßen Anblick. Dem Feinde neben mir ist die Rippe die Schwelle zum Himmelreich. Mir – Schwelle am Tor der Zukunft. Durch wie viele Länder mit Grenzen, Verzollungen, Repetitionen, Vidierungen, Visitationen mußte diese Rippe wandern, ehe sie ins Schaufenster des Zuckerbäckers Thomas Helferding gelangte! Und nun ist sie da: Aller Völkerfeindschaft, Seelenverhetzung zum Trotze, ein schwarzbraun glänzendes Zeichen ewiger Völkergemeinschaft!
Still standen wir da und schmeckten die Herrlichkeiten schlaraffenländischer Zukunft. Unsere Augen schimmerten in Liebe, Sehnsucht und Verehrung. Unser Blick ward Gebet.
Dann ging ich in den Laden und kaufte eine Rippe. Brach sie sorgfältig und gab dem barfüßigen Mädchen die Hälfte. Und aß die andere selbst. Und wetteiferte mit dem Kinde im Kindsein …
Josephus
Der Neue Tag, 18.5.1919